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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.30 Die ‚Bristols‘

Silke und Rafał mussten auf die Straße laufen, um ihrer Pflicht nachzukommen, die Stadt zu erobern. Ich durfte mich auf mein Zimmer zurückziehen und rückwärts denken: Mein Vater war 1944 geschäftlich in Warschau gewesen. Dahin war die Mutter meiner Mutter von Danzig aus geflohen, als die Deutschen in Polen einfielen. Guntram nahm sich die Zeit, sie in ihrer Wohnung zu treffen. Sie hieß wie seine eigene Mutter ‚Maria‘. Später sagte er manchmal, als so schlimm wie Irena sie darstellte, habe er sie gar nicht empfunden. Dass er damals während des Warschauer Aufstands zu ihr hinging, fand ich schon beachtlich. Als Guntram seiner Schwiegermutter in spe gegenüber erwähnte, dass er von Irenas jüdischer Herkunft wusste, sagte sie entsetzt: „Mein Gott, das hat das Kind Ihnen erzählt?!“. Am Ende des Besuchs begleitete sie ihn durch das Treppenhaus nach unten. Die ganze Zeit über redete sie in Polnisch auf ihn ein, damit die bewaffneten Männer im Flur nicht merkten, dass er Deutscher war.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als wir alle drei wieder beisammen waren, setzten wir uns noch einmal vor die Tür, und als wir genug gesessen hatten, machten wir uns auf den Weg zum Restaurant. Völlig ausgebucht, auch im Innenhof! Gibt’s sowas? Samstagabend gähnend leer, Sonntagabend proppevoll. Ein merkwürdiges Volk, diese Polen. Also, richtig böse war ich nicht. Gestern Abend hatte ich die Atmosphäre ziemlich steril gefunden, aber dieser Eindruck entsteht im leeren Saal ja leicht, wenn drei Kellner nichts anderes zu tun haben als uns – und nur uns – die Teller hinzustellen und wegzutragen: zurück zur Halle und nach vorn.

Auf der rechten Seite des Ganges öffneten wir die Tür zum Bistro, und da wurden wir nicht nur willkommen geheißen, sondern auch beköstigt. Kleine Speisekarten nehmen mir gleich große Teile meiner Scheu, den Rest erledigt der Fernet Branca.

Bevor ich mich schlafen lege, werde ich einen kurzen ‚Bristol‘-Abriss geben, aber nicht mit der Abrissbirne, sondern behutsam. Auf der Welt gibt es mehr als 200 Hotels, die ‚Bristol‘ heißen, ganz gediegene und ganz schäbige sind darunter. Das erste ‚Bristol‘ eröffnete 1816 an der Place Vendôme in Paris. Um anzugeben muss ich erwähnen, dass ich in Paris auch an der Place Vendôme abstieg, im ‚Interconti‘, Luxus pur. Da kostet das billigste Zimmer jetzt 330 Euro. Wer zahlt das?

Es heißt, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Die Mittelschicht schrumpft. Was man sich an Schönem leisten kann oder was einem geboten wird, das soll man genießen, in der Gegenwart und in der Erinnerung. So kann man sich ein Polster zulegen für Zeiten, in denen man auf harter Pritsche liegen wird – aus Einsicht, aus Not oder aus Demut.

Foto oben: marchello74/Shutterstock | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.

Das ‚Bristol‘ in Warschau wurde am 19. November 1901 eröffnet. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren fanden hier Feste statt, die rauschten oder bei Exzessen auch mal ‚dröhnten‘ wie Arthur Rubinstein erwähnte (den habe ich im ‚Warschau des Westens‘, also in Paris 1976 kennengelernt). Gleich zu Anfang des Zweiten Weltkrieges wurde das ‚Bristol‘ eingedeutscht und zum ‚Beamtenheim‘. Klingt das nicht genauso schlimm wie ‚Müllabfuhr‘? Nach dem Krieg wurde das ‚Bristol‘ natürlich verstaatlicht, nach unten qualifiziert und 1981 geschlossen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde es sofort renoviert und am 17. April 1993 feierlich wiedereröffnet. Margaret Thatcher war auch dabei.

Zum Abschluss noch ein bisschen Namedropping. Schon vor Silke, Rafał und mir haben hier die Nacht zugebracht:

Woody Allen, José Carreras, Enrico Caruso, Edvard Grieg, John F. Kennedy, Thomas Mann, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Yehudi Menuhin, Richard Nixon, Pablo Picasso, Richard Strauss und Tina Turner – in alphabethischer Reihenfolge. Und mit uns, wie erwähnt, David Garrett.

Foto oben links: alipko/Fotolia | Foto oben rechts: Dmitry Tsvetkov/Fotolia | Foto unten links: ASjack/Fotolia | Foto unten rechts: Privatarchiv H. R.

Ergriffen ließ ich mich aufs Laken fallen. Nun war die Hälfte der Reise vorbei. Am Sonntag in zwei Wochen würde ich zum ersten Mal wieder im eigenen Bett schlafen.

Foto: Svet_Feo/Shutterstock

Am Montag ging es – also fuhren wir – weiter, ziemlich senkrecht nach Norden, am ausgeschlafenen Vormittag. Ein letzter Blick zurück:

Fotos (12): Privatarchiv H. R.

Der Raps blühte, die Sonne schien, die Straße freute sich, von uns befahren zu werden, hoffte ich jedenfalls. Noch mehr konnte sich ein kleines Gasthaus am Wegesrand freuen: In das kehrten wir ein. Es ist nie vorauszusagen, ob Rafał am Mittag Esslust haben wird oder nicht. Da ich selbst nicht für den Magen essen gehe, sondern für die Augen, liegt mir daran, es vor allem visuell nett zu haben. Manchmal treibe ich meine Bedürfnislosigkeit so weit, dass sogar Silke etwas verschämt gesteht, Hunger zu empfinden. Das gefällt mir dann immer besonders; denn dann wirkt mein Einlenken noch gnädiger. Ich hatte immer schon das unbändige Bedürfnis, bedürfnislos zu sein, und jetzt, da ich diesen Zustand teilweise erreicht habe, finde ich es schade. Alles Erziehung. Meine Mutter äußerte höchstens mal ungläubig: „Ich glaube fast, ich bekomme etwas so Ordinäres wie Appetit.“ Das prägt natürlich. Obwohl das nur ihre Ausdrucksweise war, im wahren Leben konnte sie auch schon mal kräftig zulangen. In meinem Elternhaus wurde immer ‚gewählt‘ gesprochen, und so war bald auch mir der Schnabel gewachsen. Mit meinen Freunden war es ähnlich, aber oft so verklausuliert, dass wir einander manchmal fragen mussten: „Meinst du das jetzt einfach oder doppelt ironisch?“ Den pamphletig-pampigen Aufbruch unserer studentischen Altersgenossen begleiteten wir dünkelhaft mit abfälligen Bemerkungen. Im Audimax saß Harald eines Morgens hinter einer ungewaschenen, fetthaarigen Kommilitonin, die wie die Mehrzahl der Studenten den Professor niederzubrüllen versuchte. Sie drehte sich um und schrie Harald an: „Nun engagier dich doch auch mal!“ Harald blieb sitzen und entgegnete hoheitsvoll: „Ich engagiere mich nur mit ästhetischen Frauen.“ Daraufhin scheuerte sie ihm eine.

Das erzählte Harald mit Stolz. Wer zuschlägt, beweist, dass er ein Problem mit Worten nicht zu lösen vermag. Schwäche. Also hatten wir recht, nicht sie. Und während sie in der Mensa Dreck fraß, bestellten wir im ‚Blockhouse‘ ‚Mister Rumpsteak medium rare.‘ Und zum Bier gehörte – mindestens – ein Wodka: möglichst nicht deutscher Puschkin, sondern sowjetischer Stolichnaya. Verwöhnt waren wir nicht, elitär schon.

Foto oben links: pixabay/gemeinfrei | Foto oben rechts: Privatarchiv H. R.

Fotos oben (2): Privatarchiv H. R./aus Film ‚Doppelleben‘ | Foto unten: Privatarchiv H. R.

Seit wir an Nidzica vorbeigefahren waren, befanden wir uns im ehemaligen Ostpreußen. Als es dieses Ostpreußen noch gegeben hatte, hieß der Ort Neidenburg. Etwas später erreichten wir einen kleinen Ort, in dessen Biegung ein Lokal lag und, wichtiger noch: Davor gab es freie Parkplätze. So betraten wir die Schänke.

Solch eine Unterbrechung muss nicht immer sein, aber wenn Rafał keinen Wert auf ein Mittagessen legt, will er meistens zumindest einen Espresso trinken. Ich unterstütze das, besonders, wenn ich sehe, dass ihm die Augen zufallen und er gleichzeitig aufhört zu reden. Was ich schlecht leiden kann, ist, wenn er sich nach dem Tanken Schokoriegel kauft, die linke Hand am Lenkrad hat und sich mit der rechten mehrere Riegel hintereinander in den Mund (hier ist der Ausdruck ‚inna Fresse‘ angebracht) reinstopft. Der Riegel besteht aus ‚Candycreme‘ mit einer darüberliegenden Schicht Karamell, umgeben von Milchschokolade und schmeckt je nachdem, ob er von ‚Mars‘ oder einem lokalen Produzenten hergestellt ist, unterschiedlich gemein. Ich behaupte ja immer, dass ich Rafał nicht um sein Sexualleben beneide, aber so sorglos Süßware genießen zu können und trotzdem noch am selben Tag ohne Widerwillen in die abendliche Speisekarte zu gucken – das hätt’ ich auch gern mal.

An einem Morgen war Rafał an meine Schlafstätte getreten und hatte gesagt: „Zucker ist ganz schädlich, Zucker ist schlimmer als Rauchen, Drogen, Alkohol. Gestern habe ich einen Bericht darüber gesehen. Schrecklich!“

Foto: baibaz/Shutterstock

Da er ja weiß, dass ich auf ein Marmeladenbrötchen zum Frühstück verzichte, und sogar Rührei mit Bohnen stehen lasse, kann er sich denken, dass ich von seinem Apell nicht besonders beeindruckt bin. Wenn er dann aber im Laufe desselben Tages diese Riegel einpfeift, dann muss ich mich doch ein wenig bremsen, um ihn nicht schulmeisterlich an seinen morgendlichen Vortrag zu erinnern.

Foto: Abramova Elena/Shutterstock

Ist es aber auf längerer Autobahnstrecke mit Espresso oder Riegel nicht getan, dann werde ich aktiv. Ich will vermeiden, in einen x-beliebigen Rasthof zu gehen und versuche die Unterbrechung so lange herauszuzögern, bis wir an ein Lokal kommen, das ich entweder schon kenne oder das mir auf der Karte oder auf dem Display vielversprechend erscheint. Meist geht das gut, manchmal fällt das Essen aus und Rafał wird maulig. Auf polnischen Landstraßen kann ich mich sowieso nur vom äußeren Eindruck leiten lassen, und der war in diesem Fall erträglich.

Foto: Privatarchiv H. R.

24 Kommentare zu “#2.30 Die ‚Bristols‘

  1. Was man sich an Schönem leisten kann, soll man genießen. Eine der wichtigsten Lektionen beim „Leben lernen“.

      1. Auch wenn wir alle eine Spur bewusster leben sollten, die Rettung der Menschheit ist nur etwas für ganz fortgeschrittene Exemplare unserer Gattung Mensch. Die meisten erstarren schon vor dem Gedanken an diese Aufgabe.

      2. Soll ich lieber Quinoa aus Bolivien importieren oder eine Kuh aus Brandenburg schlachten? Die meisten scheitern schon an dieser Fragestellung…

  2. Wer zuschlägt zeigt Schwäche. Die Ohrfeige würde ich von dieser Regel aber fast ausnehmen. Manchmal scheint sie der beste Kommentar zu sein.

    1. Das fand meine Mutter beim Blick in die Schränke meines Kinderzimmer auch. Vielleicht hat sie mich dadurch vor völliger Verwahllosung bewahrt. Gutes Zureden brachte jedenfalls nie viel bei mir.

    2. Wobei man vielleicht nochmal unterscheiden muss wer hier wen schlägt. Kinder schlagen, ohrfeigen, klapsen geht gar nicht.

  3. Einfach oder doppelt ironisch? Hahaha, so fortgeschritten war mein Freundeskreis nie. Spannendes Konzept jedenfalls 😉

    1. Ein zucker- und salzlosig Leben ist gesund. Es gibt Menschen, die verschmähen das süße Leben und das Salz in der Suppe. Ob das ausreicht, um das gute Gewissen zum sanften Ruhekissen umzufunktionieren, hängt davon ab, wie groß vorher die Versuchung war. Einen Eunuchen muss man nicht dafür bewundern, dass er auf Geschlechtsverkehr verzichtet.

      1. Vielleicht kann man die Bewunderung einfach ganz weglassen. Oft habe ich eh das Gefühl, dass nur auf Zucker verzichtet wird um Bewunderung zu ernten. Nicht weil die Gesundheit so wichtig ist. Genau wie der verschmähte Plastikstrohhalm, der als Symbol für die Rettung unseres Planeten (und unseres Egos) herhalten muss.

  4. Hungrig auf das richtige Restaurant zu warten ist fast noch schlimmer als schlechtes Essen. Da kann ich Rafal dann doch verstehen.

    1. Man sagt immer, wer hungrig ist, isst alles. Nach langem Warten auf’s Essen etwas Ungenießbares zu bekommen ist aber auch wieder mehr als frustrierend.

    2. Lieber gleich etwas Schlechtes oder später etwas Gutes? Wer beim so verschärften Marshmallow-Test den „delay of gratification“ nicht hinbekommt, hat noch viel im Leben zu lernen, um emotional und sozial erfolgreich zu werden.

      1. Beide Varianten haben ihre Zeit. Später etwas Schlechtes ist die einzige Option, die es grundsätzlich zu vermeiden gilt.

      1. Zählt dann das In-den-Himmel-kommen nicht schon wieder als Bedürfnis?

      2. Ja, gewiss. Aber wenn’s das einzige ist, ist das doch schlimm/gut genug. Kaum eine Religion, die ihre Art, Bedürfnisse zu unterbinden, nicht als Lebensziel sieht. Manche finden sogar: Wer dieses hehre Ziel nicht teilt, darf ruhig ausgerottet werden.

  5. Bei mancher Reise denkt man ‚Was für ein merkwürdiges Volk‘ und irgendwann dämmert es, dass wir einfach eine merkwürdige Spezies sind…

  6. 330 Euro für ein Hotelzimmer, meine Herren! Da kriegt man hoffentlich eine ordentliche Ladung Prestige für sein Geld.

    1. Das Geld gebe ich lieber für ein gutes Essen aus. Man bekommt auch für die Hälfte des Preises Hotels mit hervorragendem Service. Die überteuerte Rate dient wohl nur dem eigenen Ego, als Zeichen, dass man sich etwas besonderes leisten kann.

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