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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.11 Flüchtlinge unwillkommen!

Am 18. Mai, einem Donnerstag, verabschiedeten wir uns von der Empfangsdame des ‚Dude‘, um 10 Uhr wie vorgesehen, und zwanzig Minuten später verabschiedeten wir uns auch von Berlin, bereit zu Neuem. Schon in Cottbus verließen wir die Autobahn, zwecks Besichtigung. Was am Wegesrand liegt, muss man mitnehmen, damit man CO2-bewusst weder geflogen ist noch in der Bahn überwiegend auf Gleise geguckt hat. Alle zusätzlichen Zwischenziele rechtfertigen die – neuerdings hinterfragte – Fahrt im eigenen Auto. Für meine Begleiter und mich gilt ja sowieso die Schwerbeschädigtenausnahme, finde ich, meine ich, sage ich.

Foto: H. R./Privatarchiv

Illusionen darüber, wie Cottbus aussieht, machte ich mir nicht: 1986 hatte ich mit Roland und seiner Mutter die Perle der Lausitz bereits besucht. Immerhin konnte ich davon ausgehen, dass es weniger runtergekommen sein würde als zu DDR-Zeiten. Damals hatten wir noch Einreisevisa beantragen müssen und es wäre mir nicht im Traum eingefallen, um Einlass ins sozialistische Paradies zu betteln, wenn nicht Roland und seine Mutter Margot in einem Dorf bei Cottbus geboren worden wären und die alte Heimat mit deren Bewohnern noch einmal auf sich hätten wirken lassen wollen.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Margot hatte eine jüngere Halbschwester, aus der zweiten Ehe ihres Vaters. Wir trafen in Cottbus gerade vor der schäbigen Bude einer beneidenswerterweise kürzlich verstorbenen Tante ein, als die nichts ahnende Stiefschwester just dabei war, die Wohnung der Verschiedenen leerzuräumen. Gegen Republikflucht mittels Tod ist auch die Stasi machtlos. Aber Margot war sicher, die überstürzten Aufräumarbeiten, dienten dem einzigen Zweck, Margot verborgene Schätze vorzuenthalten, die sie allerdings ohnehin nicht hätte ausführen dürfen. Die Schwestern kicherten misstrauisch umeinander her, und Roland und ich machten uns Gedanken darüber, was so Aufregendes in der zugemüllten Wohnung wohl verborgen gewesen sein mochte: ein van Gogh, ein Silberkännchen, ein Hitlerbild?

Fotos oben (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: gemeinfrei

Das ‚Hotel Lausitz‘ war ein schlimmer Kasten, der innen hielt, was er von außen versprach. Seit Bernstein vor zwei Jahren das Konzert in Ostberlin gegeben hatte, waren mir Lutz und Frank treu geblieben. In Budapest hatte ich sie im vergangenen Sommer getroffen und dann wieder mit Roland bei ihnen zu Hause in ‚Mitte‘. Sie schickten Roland und mir Postkarten aus dem ‚befreundeten Ausland‘ und unterschrieben mit ‚die lieben Berliner‘, damit die Absender der Post in den schlimmen Westen von wackeren Aufpassern nicht zurückverfolgt werden konnte. Frank, der Draufgängerische, kam nach Cottbus, um ein bisschen am Westen und an mir zu naschen. Er bekam den Platz neben mir im ‚Hotel Lausitz‘, denn wo sonst hätte er übernachten sollen? Roland musste also aus reiner Völkerfreundschaft das Bett im Nachbarzimmer mit seiner Mutter teilen. Ich war solche Familiennähe ja weltweit gewohnt, Roland war das eher neu.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Am übernächsten Tag, auf dem Rückweg, wurden wir unterwegs mehrfach von wachsamen DDR-Polizisten angehalten, bevor wir Margot in Berlin-Mitte zeigen konnten, was Krieg und Sozialismus von der deutschen Hauptstadt übrig gelassen hatten.

Am Übergang Heinrich-Heine-Straße musste Roland, der am Steuer saß, Slalom fahren, hindurch durch unübersichtliche Sperren. „Wie soll man denn hier wegkommen?“, fragte er den Uniformierten, der uns zur Not ausreisen lassen wollte, unwillig durch das Seitenfenster. „Gibt es bei Ihnen in der Be-Er-De keine Grenzkontrollen?“, fragte der Sozifuzzi bissig zurück. Roland war nie besonders vorsichtig. „Bei uns müssen wir die Grenze jedenfalls nicht verbarrikadieren, weil uns sonst die eigenen Leute weglaufen“, sagte er. Dementsprechend gründlich war die Untersuchung. Immerhin nicht Stasiknast – das hatte ich ja gleich wieder befürchtet. Nachdem genügend gut ausgebildete Schäferhunde und schlecht gekleidete Grenzsoldaten Guntrams alten Mercedes von innen und von unten beschnüffelt hatten, durften wir motorisiert durch die Mauer schleichen, in den moralisch verkommenen Teil der Stadt. Gleich fühlten wir uns wieder zu Hause.

Silke, Rafał und ich fuhren, leicht neugierig, von der einen Seite in Cottbus ein, stiegen am Jugendstiltheater aus – für zwei Smartphonefotos – und fuhren am anderen Ende wieder heraus. Wie zu erwarten war die Stadt nicht mehr grau, sondern bunt. Der Kapitalismus braucht hübsche Fassaden, damit die Touris Geld ausgeben, dem Kommunismus reichen glückliche Menschen.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Rolands Mutter war in Laubsdorf, ganz in der Nähe von Cottbus geboren worden. Ihre Verwandtschaft lag dort entweder begraben oder lebte dort wie eh und je, und ich war nicht ganz sicher, ob denen, die ich sah, schon mal jemand erzählt hat, dass der letzte Kaiser abgetreten ist. Kuno Steinberg aus Westpreußen war Gutsverwalter, und weil im Herbst 1941 die Deutschen so schön siegten oder weil die Ernte endlich in der Scheune war, gab es ein Dorffest. Wie es bei derartigen Veranstaltungen so Brauch war, steckte der fesche Verwalter einer Siebzehnjährigen seine Rübe in den Unterleib. Das dumme Ding wurde davon doch glatt schwanger, und auf Geheiß der strengen Baronin musste der von sich recht eingenommene Kuno Steinberg die unbedarfte Margot Piater heiraten, kurz bevor ‚Karin‘chen geboren wurde. Um sein Unglück zu verdoppeln, schwängerte Kuno die einfältige Margot während eines Fronturlaubs erneut, so dass es auch Roland nicht erspart blieb, 1944 auf die Welt zu kommen. Kuno war offenbar lange genug wieder in Laubsdorf, um polnische Kriegsgefangene auf dem Gutshof so schlecht zu behandeln, dass er schleunigst nach Westen musste, als die Russen und Polen bedenklich näher rückten. Wie er es schaffte, vor wem wohin auszurücken, war unklar, jedenfalls war er weg, und es spricht zweifellos nicht für Margots politische Bildung, dass sie, wie sie später zugab, bis zu dem Augenblick an den Endsieg geglaubt hatte, als die Frauen aus dem Nachbardorf angelaufen kamen und erzählten, dass die Russen Uhren weggrabschten, neben das Klo kackten und sich die Frauen so nahmen, wie Margot das von Kuno her kannte.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Mit den zwei kleinen Kindern gefiel es Margot nicht besonders gut in der sowjetisch besetzten Zone, und so wurde sie eifrig. Sie suchte nach Kuno und trieb ihn in Stuttgart auf. So stand es jedenfalls in dem Formular, das sie vom Roten Kreuz erhielt. An der schlecht gesicherten Grenze nahm das Wachpersonal die drei Flüchtigen zwar über Nacht fest, ließ sie aber tags darauf freudig laufen. Sollte sich doch der Westen um Margot, Karin und Roland kümmern! Auf nach Stuttgart! Das hat Kuno, der es sich im Schwäbischen – wenn nicht allein, dann doch in anderer Besetzung – gemütlich machen wollte, seiner Frau mit den zwei Gören, dem Roten Kreuz und den Russen nie verziehen, aber nur seine Familie konnte er das auch spüren lassen. Sie wurde nun seine polnische Zwangsarbeiterschaft.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Für uns ging es über Landstraßen weiter, immer weiter weg von einer Stadt wie Cottbus, ‚die sich als modernes Zentrum der Lausitz versteht, wo der Strukturwandel speziell der Energiebranche erforscht, gestaltet und gelebt wird‘, behauptet sie, die Stadt bzw. deren Werbeagentur.

25 Kommentare zu “#2.11 Flüchtlinge unwillkommen!

  1. Es gibt sicherlich bessere Momente als 1944 (oder generell während einer Kriegszeit) zur Welt zu kommen. Als jemand, der glücklicherweise selbst keinen Krieg miterleben musste, vergisst man das manchmal.

    1. Solange Trump Präsident und Befehslhaber der größten Militärmacht ist, muss man eh Angst haben, dass noch ein großer Krieg auf uns alle zu kommt. Die Dünnhäutigkeit und Reizbarkeit macht mich jedenfalls zunehmend nervös.

  2. Die Fahrt im eigenen Auto zu hinterfragen ist ja schon ein erster Schritt. Nicht jeder muss deswegen jede Strecke zu Fuss oder mit der Bahn zurücklegen. Es geht ja vor allem erst einmal darum ein Bewusstsein zu schaffen.

    1. Für wen die „Schwerbeschädigtenausnahme“ gilt, der muss sicherlich nicht mit dem Fahrrad von A nach B fahren. Es gibt noch genügend andere Kandidaten, die mal über ihre Gemütlichkeit nachdenken könnten.

  3. Was in zugemüllten Wohnungen zu finden ist, ist doch immer wieder faszinierend. Da fällt mir gleich der Film „Im Keller“ von Seidl ein. Unglaublich.

  4. Das Bett mit meiner Mutter zu teilen kann ich mir so gar nicht vorstellen. Soviel Nähe ist dann doch irgendwie komisch.

    1. Wobei Nähe zur Mutter ja eigentlich natürlich gegeben sein sollte. Aber ich verstehe trotzdem sehr gut was Sie meinen.

      1. Bei uns kommt das ja auch nur in Ausnahme-Situationen vor. Aber es gibt Lager, da hat eine Mutter mit Kindern nur einen einzigen Raum. Ob man sich daran gewöhnen kann? Als unbeteiligter Europäer offenbar sehr gut.

      2. Es gibt auch Lage, da werden 15.000 statt 4.000 Menschen verwahrt. Und 8-jährige „Mütter“ müssen sich um fremde Babys kümmern. Welcome to the new world.

  5. Flüchtlinge unwillkommen. Genauso reißerisch wie wahr. Auch wenn man es nicht so richtig wahrhaben will.

    1. Vielerorts stimmt das leider. Die Leute kommen schon mit ihren eigenen Problemen nicht klar und haben Angst vor neuen.

      1. Die meisten Sorgen treffen ja gar nicht erst ein. Man scheint das entweder gekonnt zu ignorieren oder bemerkt es nicht mal mehr.

      2. Sorglosigkeit zu lernen ist wohl besonders schwer oder sogar unmöglich. Sich ständig grundlos zu sorgen – ist das schlimmer als völlig unvorbereitet von einem Unheil überrollt zu werden?

      3. Man kann wohl an beidem kaputt gehen. Der eine sorgt sich so lange, bis er Magengeschwüre oder eine Herzerkrankung bekommt, der andere läuft sorglos in sein Unglück.

      1. Langeweile ist Mangel an Phantasie. Alles kann komisch oder traurig sein. Man kann es mitfühlend, wütend, zynisch oder sonstwie betrachten. Allerdings ist Phantasie ein Talent, das nicht jeder hat, und wer es hat, muss es schulen.

  6. Zwang(sarbeiterschaft) in der Familie ist wohl gar nicht so selten. Jedenfalls frage ich mich manchmal wieviele Ehepaare/Familien es gibt, die so wirklich zusammen sein wollen.

    1. Meine Güte, zwischen unglücklichen Ehepaaren und Zwangsarbeit gibt’s hoffentlich noch einen deutlichen Unterschied.

    2. Heute ist es moralisch und finanziell einfacher als früher, einen schlimm gewordenen Partner zu verlassen . Nachteil: zu schnell wegwerfen, was noch zu kitten wäre.

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