Zabrze/Hindenburg und Gliwice/Gleiwitz gehen ineinander über. Auschwitz liegt etwas abseits der Strecke auf dem Weg nach Krakau. Gleiwitz und Auschwitz sind zwei Namen, die fatal mit der deutschen Geschichte verbunden sind, und Silke und Rafał waren sich so einig wie selten: Dahin wollten sie auf keinen Fall.

Mit Gleiwitz begann der Zweite Weltkrieg, Auschwitz steht für systematische Menschenvernichtung bis zum Kriegsende. Guntram erzählte, dass es schon den ganzen Sommer über den Spruch gegeben hatte: „Jetzt kommt bald die ‚schwangere Frau an der Grenze‘, die von den bösen Polen ermordet wird.“ Vielen Deutschen war offenbar klar, dass nur nach einem fadenscheinigen Anlass gesucht wurde, um loszuschlagen. Aber die ‚schwangere Frau‘ blieb in der Schublade, SS-Männer in Zivil ‚überfielen‘ der deutschen Sender Gleiwitz, sendeten eine Botschaft in Deutsch und in Polnisch, ließen einen polenfreundlichen Deutschen ermordet zurück und verschwanden wieder. Am Morgen des 1. September 1939 trat Hitler ans Mikrofon und verkündete: „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen“.1 Der Kriegsgrund brauchte nicht glaubhaft zu sein, denn ‚der Sieger schreibt die Geschichte!‘ Das tat er dann auch ab 1945. Da hatte der ‚größte Feldherr aller Zeiten‘ sich lieber die Kugel gegeben, statt sich zu verantworten. Sicher fragten sich in meiner Generation viele, wie sie gehandelt hätten, wenn sie nicht durch ‚die Gnade der späten Geburt‘ verschont worden wären. In meiner Fantasie hätte ich gesagt: „Ich schieße doch nicht auf Polen und Franzosen, die gefallen mir viel besser als die doofen Deutschen mit ihrem Rassenwahn.“ Das Unbefriedigende an dieser Wahrheit ist, dass ich den Satz nur sehr kurz überlebt hätte. Deshalb gehe ich weiter zurück und denke, dass ich Deutschland schon 1933 verlassen hätte. Meine Eltern sagten übereinstimmend, dass schon wenige Monate nach der ‚Machtübernahme‘ alles so gleichgeschaltet und von Nazis besetzt gewesen sei, dass der Einzelne nichts dagegen habe ausrichten können. Nur: Wohin hätte ich von wessen Geld gehen sollen? Hätte mir das Deutschtümelnde womöglich gefallen? Nein, als schwulem Schöngeist mit jüdischen Vorfahren hätte mir das nicht passieren können.

1 Quelle: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberfall_auf_Polen

Bilder (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Wenn ich in meinen Überlegungen an diesem Punkt angelangt bin, male ich mir die Situation nicht länger aus, sondern freue mich darüber, dass ich erst nach dem Krieg in bald schon geordnete Verhältnisse hineingeboren wurde.

Das Wort ‚Auschwitz‘ hat einen noch viel schlimmeren Klang. Ich glaube, ich wäre gleich gegen den Elektrozaun gelaufen, wenn ich nicht schon im Güterwagen gestorben wäre. Wenn Silke und Rafał sich den Schauplatz des Entsetzens hätten antun wollen, wäre ich mitgegangen, aber so war es mir lieber. Durch ein Museum des Grauens zu laufen wie durch ein Weltkulturerbe, das wäre mir nicht geschichtsbewusst, sondern sensationslüstern vorgekommen.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Silke und Rafał hatten ihren Espresso ausgetrunken und liefen zum nahen Hauptmarkt. Ich blieb vor meinem Gin Tonic sitzen, pinkelte erleichtert, also ungeniert, in meine Windelhose, und dabei versuchte ich wie üblich, meine Unfähigkeit, so zu laufen wie früher, durch meine Fähigkeit neu zu denken auszugleichen. Frommer Wunsch.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ja, meine Nase läuft geschmeidiger als meine Beine. Aber selbst bei flotterem Schritt: Mit siebzig funktioniert Glücklichsein anders als mit zwanzig. Das zu wissen ist leicht. Es anzuerkennen kostet Zeit. Und Mühe. Leben lernen. Die Aussicht ist das Wichtigste, der Glaube an eine großartige Zukunft macht stark, aber die Erfüllung muss anschließend natürlich auch stattfinden: müde sein und ein Bett haben, durstig sein und Wasser auf dem Tisch, Hunger haben und einen vollen Kühlschrank, meinetwegen lüstern sein und das Bordell um die Ecke. Vorfreude mit anschließender Enttäuschung ist deprimierend, aber immer noch besser als ein Leben ohne Erwartungen. Am besten ist ein Glaube an Gott und das Leben nach dem Tod. Wenn das Heil ins Jenseits verlagert ist, merkt man den Betrug nicht, wenn es so weit ist, weil man bei Aufdeckung des Betrugs nicht mehr existiert. Da kann man sich vorher genüsslich ausmalen, dass man anschließend an das irdische Dasein mit seiner Oma, mit seiner Nichte, mit seiner Lieblingsdogge wiedervereint sein wird. Füchse, die in aller Unschuld Gänse holen, kommen bestimmt eher in den Himmel als Menschen, die Gänse mästen, stopfen, essen und verdauen, obwohl sie den Rotkohl auch ohne Gans runterschlucken könnten. „Die herrschende Moral ist die Moral der Herrschenden.“2 Da hat Marx zwar recht, aber wer herrscht zurzeit wo? Im wahren Leben, im erlogenen Leben, im Parlament, im Internet? – Sehr unübersichtlich.

2 Quelle: Karl Marx

Foto: Privatarchiv H. R.

Silke und Rafał kamen zurück, wie es sich gehört: beeindruckt. Bis 1596 war Krakau Hauptstadt des Königreichs Polen. Da war aber schon allerhand passiert. König Bolesław II. der Kühne erschlug den Erzbischof Stanislaus in der Michaeliskirche. Das war 1079 und nutzte nichts: Bolesław musste aus Polen fliehen und wurde später in Ungarn vergiftet. Bolesław der Schüchterne war trotz seines Beinamens Manns genug, Krakau im Jahr 1257 neu zu gründen: nach Magdeburger Stadtrecht. Seine Frau war übrigens die Heilige Kinga.3 Das alles weiß heute niemand mehr, der nicht gebildeter Pole ist.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Sopotnicki/Shutterstock

Eher wissen aufmerksame Europäer aus öder Schulstunde oder entfachter Neugier, dass Krakau bei der dritten polnischen Teilung 1795 der Habsburger Monarchie zugeschlagen wurde: dem Kronland Galizien. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es, nach 144 Jahren, wieder einen polnischen Staat mit Krakau als wirtschaftlichem und kulturellem Zentrum.4

Foto oben links: S-Studio/Shutterstock | Fotos oben rechts: Privatarchiv H. R. | Foto unten: S-F/Shutterstock | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Ensuper, nikiteev_konstantin, railway fx, Jeremy Ryan Wolting

1939 war schon wieder Schluss damit. Bereits am 6. September marschierten deutsche Soldaten in Krakau ein. ,Die Besatzer vernichteten einen großen Teil der Kunstschätze des Wawels‘,5 lese ich. Gingen die hochzivilisierten Deutschen am Ende – oder gar schon am Anfang – nicht respektvoller mit ‚Kultur‘ um als die angeblich barbarischen Russen? Die hatten dann ab 19. Januar 1945 das Sagen vor Ort. 1978 wurde der Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyła, zum Papst gewählt. Das hat der Widerstandsbewegung Solidarność viel Auftrieb gegeben. Seit den Neunzigerjahren ist alles wieder schön hergerichtet und die österreichische Geschichte wird nicht mehr verschwiegen. Wer sucht, der findet hier Romanisches, Gotisches, Renaissance, Barock, Jugendstil und Plattenbau und alles dazwischen. Wir spielten ‚Leutegucken‘ und ‚Unterwegssein‘, dann gingen wir zurück ins Hotel, und da aßen wir auch. Früher fand ich es immer unsportlich, sich auf das Hotel-Restaurant zu verlassen. Inzwischen bin ich zu träge, um den Weg in ein schlechtes Lokal anzutreten, wenn es im Hotel ein gutes gibt, das den Gast informiert:

Im Copernicus Restaurant können Gäste unter aus der Renaissance stammenden Deckenbalken die nach alten polnischen Rezepten zubereiteten und von Küchenchef Marcin Filipkiewicz neu interpretierten Gerichte genießen.

Wer will das nicht?

3, 4, 5 Quelle: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Krakau

29 Kommentare zu “#2.22 Schlimme Orte

  1. Ich verstehe die Sorge um Sensationslust in Auschwitz. Allerdings habe ich bei meinem Besuch vor vielen Jahren die Erfahrung gemacht, dass jegliches Gefühl dieser Art sehr schnell vergeht. Dafür ist der Ort einfach zu schrecklich.

    1. Ich war als Schüler in Theresienstadt und muss sagen, dass ich sehr froh um diese Erfahrung bin. Dieser Krieg war so riesig, die Nazis so unwirklich schrecklich, dass man die Dimensionen erst so richtig begreifen kann, wenn man selbst einmal an diesen Schauplätzen war.

      1. Gut, dass der Besuch weiterhin für viele Schulklassen auf dem Programm steht. Im besten Fall sind die neuen Generationen schlauer, ansonsten werden sie zumindest abgeschreckt ähnliches zu wiederholen.

  2. Für schlechte Lokale ist mir meine Zeit auch zu Schade. Und da hilft keine noch so nette Gesellschaft. Dann lieber einfach ein Drink irgendwo und gar kein Essen.

    1. Erstmal muss man an ein Leben nach dem Tod glauben. Da klingen aber sowohl Himmel als auch Hölle eher nach langweiligen Optionen.

  3. Der Kriegsgrund ist selten sehr glaubhaft, nicht? Aber Hauptsache man hat eine Entschuldigung um seine Interessen durchzuboxen.

      1. Mal schauen wie lange es die USA noch aushalten keinen Krieg mit Iran anzuzetteln.

      1. Vieles kann man nicht mehr mitmachen, einiges muss man zum Glück nicht mehr mitmachen.

  4. Gerhard Bronner hat mal was Schlaues gesagt: „Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi.“ Wie weit die Nazi ihren Wahn getrieben haben ist auch heute noch unvorstellbar.

    1. Ich bin trotzdem immer wieder überrascht, dass es ähnliche Arten von Rassismus eigentlich in allen Ecken der Welt gibt. Dass es nicht mehr grausame Auswüchse wie den der Nazis gegeben hat ist da fast verwunderlich.

  5. Die Faschisten hatten die abscheulichste Ideologie. Obwohl: Adel und „Abweichler“ hatten es im Kommunismus nicht viel besser, auch wenn die Organisation des Tötens im Osten nicht ganz so deutsch war. Der Wille war da. Nun balgen sich Hitler, Stalin, Mao (großer Sprung / Kulturrevolution) und Pol Pot und den ersten Platz im Mordsport. Dass Globalisierung und Internet ausreichen, solche angebeteten Figuren in Zukunft zu verhindern, ist wünschenswert, aber nicht sicher.

    1. Die Wahl von mehr und mehr nationalistischen Vertretern in Regierungen, Parlamente, Präsidentenämter und die wachsende Zahl der Europakritiker machen jedenfalls momentan nicht hoffnungsvoller.

  6. Danke, Lieber Hanno für die Reiseinfo.
    Nun werde ich vorgeplante Polenreise nicht weiter verfolgen, oder grad jetzt erst recht ?!

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

1 × 1 =