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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.3 Kein Reisebus mit hundert Rentnern

Zunächst aber wollten wir das Prunkstück des Ortes betrachten: Schloss Ribbeck. Bis zur Wende war der Bau systemkonform verkommen und verfallen (für die geschätzten Kosten des Außenanstrichs bekam man 1988 schon eine ganze Hochhauswand in Platte), seit 2009 neu eröffnet in aristokratischem Glanz. Das Restaurant in der Beletage bietet als Aperitif Prosecco mit Birnenpüree, als Hauptspeise Kotelett vom Gülper Schwein an Birnen-Speck-Risotto oder Havelländer Bratwurst mit Birnensauerkraut und als Nachtisch Ribbecker Birneneisbecher. ‚Zum Abschluss‘ schlägt die Karte ‚Schloss Ribbeck Birnenlikör‘ vor. All diese Köstlichkeiten gibt es von Dienstag bis Sonntag. Am Montag hat das Personal Ruhetag und kann nicht mal zum Friseur gehen. Die Frage, warum auch Friseure montags blaumachen, beantwortet bei ‚gutefrage‘ Jitta mit: „wenn die sonntags saufen waren haben sie montags keine ruhige hand“, was einleuchtet.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv H. R.

Ich überlegte, etwas zu spät, ob Montag vielleicht als Abreisetag von Zuhause ungünstig gewählt war, aber da der Sonntag in drei Wochen von mir als Rückkehrtag ausersehen war, führte an Montag für den Aufbruch kein Weg vorbei. Man muss planen, um sich von seiner Planung abhängig zu machen. Unabhängigkeit führt in seiner Grenzenlosigkeit ins Unglück. Das bedenken die Bankräuber in Filmen nie, wenn sie von einem Leben in der Karibik schwärmen.

Foto: R. S./Privatarchiv H. R.

Natürlich plane ich auch Perioden der Planlosigkeit immer fest ein. Wer abends loszieht und sich vornimmt: „Heute Nacht vergesse ich mich!“, der kann froh sein, wenn später die Erinnerungen nur im Hirn stattfinden und nicht als Seuche im Blut. Aber diese Zeiten sind vorbei – für mich. Meine Planlosigkeiten beschränken sich inzwischen auf Blicke oder geschlossene Augen.

Foto: R. S./Privatarchiv H. R.

Das Schloss sah von außen hübsch gestrichen aus. Wie es von innen aussah, erfuhren wir nicht. Zwei junge Frauen traten vor die Tür, um wegzugehen. „Bis Mittag war niemand gekommen, da haben wir geschlossen“, erklärten sie uns unverfroren gleichgültig. Ja, ich hätte den Bürgermeister anrufen können, um sie zu verpetzen, aber die Idee, nicht all diese Räume abklappern zu müssen, gefiel mir einfach zu gut.

Fotos (4): R. S./Privatarchiv H. R.

Ich tat leicht enttäuscht, bevor wir in Richtung einiger Häuser abbogen. Das schmuckste Gebäude war die ‚Alte Schule‘. Dort beginnen die Ausflüge, die Folgendes zu bieten haben:

‚Die Teilnehmer der Führung wandern mit dem alten Fontane und den anderen Marionetten, die den historischen Personen bis aufs Haar gleichen und ca. 80 cm groß sind, zu herausragenden Stationen wie dem Pfarrhaus, der Brennerei und der Kirche mit dem Birnbaum.‘

Rafał besuchte auch wirklich die Kirche in Form einer Stippvisite.

Fotos (3): R. S./Privatarchiv H. R.

Mir reichte ein Blick in die historische (?) Dorfschulklasse, dann setzten wir uns in den Garten, Rafał aß Kuchen, und Silke war verdrossen, weil ich mir Birnenschnaps bestellte. Dass mir Kaffee fünfzig Jahre lang nicht bekommen ist, finde ich immer noch eine gute Ausrede, um keinen zu bestellen, und Tee ist sowieso langweilig. Ein (Internet-)Besucher merkt an. „Ach ja, die Speisekarten sind stilecht wie alte Schulhefte gestaltet mit angesetztem Rotstift, niedlich.“ Ein anderer warnt: „Die Sitzplätze sind begrenzt, besonders, wenn wieder ein Reisebus 100 Rentner in Ribbeck abgekippt hat, wird es schwierig mit Platz, Kaffee und Kuchen.“ Wir hatten Glück: keine Führung, keine Busse. Die einzigen Rentner waren Silke und ich.

Fotos (4): R. S./Privatarchiv H. R.

Die nächste Station unserer Reise spielt in meiner Biografie eine mindestens so herausragende Rolle wie Ribbeck; denn dabei ging es um die prägende Macht des Wortes, also um Annemarie Kruse. Unkundige, die dieses hochinteressante Thema vertiefen wollen, finden unter ‚Europa im Kopf, #1.8: Altklug, heimtückisch, aufgewühlt‘ weiterführende Auskünfte. Hier nur so viel:
‚Das Wort‘ hatte für mich von Anfang an starkes Gewicht, schon zu einer Zeit, als ich die Wörter noch nicht zu so logischen Ketten vernetzen konnte, wie ich das heute kann. Mit einzelnen Begriffen ganze Sätze zu bilden – das muss man ja erst lernen, und da habe ich den Verdacht, dass viele User diese Fähigkeit mithilfe von WhatsApp und Twitter wieder gründlich abschütteln. Wichtig im Zusammenhang mit meinem eigenen Lernprozess ist neben ersten Begriffen wie „Mami“ und „Papi“ eben Annemarie Kruse. Sie kam aus Paulinenaue, war zwar erst achtzehn, aber trotzdem diejenige, die bei uns im Grunewald bohnerte, schälte und abwusch, nachdem sich die versierte, hochanständige Maria Bartsch wegen der damit verbundenen finanziellen Verbesserung zu anderen Herrschaften verändert hatte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Von und an Annemarie lernte ich sehr, sehr viel und ganz anderes als von meinen Eltern. Im Krankenhaus, das damals in unserer Nachbarvilla untergebracht war, ließ sich Annemarie den Blinddarm herausnehmen. Sehr praktisch: Für meinen ersten Krankenbesuch brauchte ich bloß nach nebenan zu gehen. Die Operationsnarbe zeigte mir Annemarie später gern, oft und auch ungefragt. So viel über Anatomie habe ich dann erst wieder im Gymnasium gelernt.

Foto links: Cara-Foto/Adobe Stock | Foto rechts: contrastwerkstatt/Adobe Stock

Von ihren freien Abenden, donnerstags, brachte Annemarie immer sehr interessante Geschichten mit. Es ging dabei im Allgemeinen um Männer, die sie über das Tischtelefon im ‚Resi‘ kennengelernt hatte. Diese Männer waren entweder gute Tänzer oder sie rochen aus dem Mund oder sie wollten ein beziehungsweise kein Wiedersehen. Sicher war ich für die Schilderung solcher Dramen ein sehr viel aufmerksamerer Zuhörer, als es Irene oder gar Guntram gewesen wären, und so war es eine richtige Entscheidung von Annemarie, mich zu ihrer Klagemauer zu machen.

Foto: contrastwerkstatt/Adobe Stock

In Annemaries Beisein bekam ich auch am eigenen Leibe mit, dass mit dem Körper nicht zu spaßen ist: Als ich eines Tages von der Gartenbank gefallen war und jammerte, sperrte Annemarie mich im Kinderzimmer ein. Meine Eltern waren wie so oft verreist. Glücklicherweise schaute am Abend die erfahrene und deshalb misstrauische Maria Bartsch vorbei, sah mich an und erkannte, dass ich mir den Arm gebrochen hatte. Annemarie bekam einen Rüffel und ich meine erste Äthernarkose, sehr interessant, außerdem einen Gipsverband. Juckte bald schrecklich.

Foto: ArTo/Adobe Stock

Ich war zwar ein sehr ängstliches Kind, fürchtete mich aber bloß vor Gespenstern und anderen nonrealen Phänomenen. Annemarie lehrte mich den Grusel vor real existierenden Gewittern. Wenn es von Ferne donnerte, ließ Annemarie alle Rollläden herunter, setzte sich mit mir an den Esszimmertisch und wartete darauf, dass der Blitz einschlug. Ich wartete mit. Ob es auch Gewitter gab, wenn meine Eltern nicht verreist waren, weiß ich nicht, es ist aber eher unwahrscheinlich.

Foto: stnazkul/Adobe Stock

Als Annemarie uns später verließ, um Kinderkrankenschwester zu werden, legte ich diese Gewitterangst wieder ab. Irene bewunderte Annemarie damals dafür, dass sie etwas aus ihrem Leben machen wolle. Ich war bloß traurig. Heute denke ich daran, was die kranken Kinder wohl alles über Tischtelefon-Bekanntschaften erfahren haben.

Foto: rico287/Adobe Stock | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Oliver Hoffmann, Francois Poirier, Everett Collection, Christine Bird, Dja65, Lutsina Tatiana

25 Kommentare zu “#2.3 Kein Reisebus mit hundert Rentnern

  1. Krankenschwestern, Arztpraxen, Krankenhäuser – seit meiner Kindheit verbinde ich damit nur Panik und Angst. Ich sollte mal meine Mutter befragen woher das genau kommt.

      1. Ganz genau. Man muss ja zum Glück nicht an allem teilhaben. Es gibt für jede Vorliebe genügend Liebhaber.

  2. Durch Whatsapp verlernt man wahrscheinlich gar nicht so viel. Dafür müsste man ja erstmal eine Gabe fürs Schreiben haben. Man drückt seinem Kind einfach mit 4 das erste Handy in die Hand und schon ist dafür gesorgt, dass sich so etwas gar nicht erst entwickelt.

    1. Die Gabe fürs Schreiben mag ja sogar da sein, aber alles, was nicht gefordert und gefördert wird, erlischt. Vielleicht sitzt eine Magt mit einer Callas-Stimme irgendwo in einem turkmenischen Stall. Wir werden es nie erfahren.

  3. Grenzenlosigkeit ist immer gefährlich. Die besten Improvisateure haben einen sorgfältig geplanten Arbeitsrahmen. Im Leben läufts nicht anders.

    1. Die Vollendung der Planung ist es, wenn man sie nicht bemerkt. Alles, was hart erarbeitet aussieht, hat sein Ziel verfehlt. Es sei denn, es war die Ziel, sein Ergebnis hart erarbeitet aussehen zu lassen.

      1. Ach Herrje, die ganze Diskussion um diese Eurovision-Performance ist doch quatsch. Als ob es bei Madonna jemals ums Töne treffen gegangen wäre. Sie steht doch für etwas ganz anderes.

      2. Es geht um die Show, um das Gesamtpaket. Singen konnte sie noch nie besonders gut. Auch mit dreißig nicht. Außerdem ist sie wieder und wieder politisch. Natürlich ist auch das ein Teil der Show, aber es verschafft den Themen trotzdem Aufmerksamkeit.

      3. Die aufgeklebten Flaggen sind allerdings auch kein großartiges politisches Statement. Die Million Gage schon eher.

      1. Wenn Mühe auch immer gleich Talent wäre. Da hat wohl jemand zu viele Lego-Filme geschaut. Schade, dass immer nur kopiert und so selten was eigenes gemacht wird.

      2. Man nennt das neudeutsch glaube ich UPCYCLING. Damit kann man sehr gut verstecken, dass man nicht allzu viel kreatives Potential hat. Beim Lego-Video hat es ja auch für 25.000 clicks gereicht.

  4. Gibt es eigentlich noch Lokale mit Tischtelefon? So wie zumindest damals das Café Keese in Berlin? Gar nicht sicher, ob das noch aufhat.

    1. Ach Herrje, und es ist nicht mal eine Berliner Pflanze, sondern lediglich ein Ableger aus Hamburg. Danke für die Aufklärung! Was man so alles nicht weiss…

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