Silke und Rafał kamen zurück.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Spät war es noch nicht. Ein Ausflug war noch möglich; auch lag Rafał daran, seine halb geliebte Heimat in ein besseres Licht zu rücken, zumal die Sonne bereit war, ihn dabei zu unterstützen. So fuhren wir nach Piotrków Trybunalski, wohin denn sonst? Die Deutschen nannten den Ort Petrikau, das fanden sie besser zu behalten und auszusprechen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Nachdem ab 1217 schon so einiges vorgefallen war, das polnische Historiker interessieren könnte, wurde 1578 der oberste Gerichtshof des Landes nach Piotrków verlegt, und seither heißt es zu Recht mit Nachnamen ‚Trybunalski‘. Ab 1793 war Petrikau Sitz der neu geschaffenen Kreisbehörden für Südpreußen. 1939 wurde das erste NS-Sammellager auf engstem Raum in der Altstadt errichtet.1

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Eine furchtbare ‚Bekanntmachung‘ lautete:

Die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde in Petrikau bringt zur Kenntnis, dass zufolge Verordnung des Herrn Generalgouverneurs vom 4. Januar 1940 Juden im Generalgouvernement (…) ZUR ANMELDUNG IHRES VERMÖGENS verpflichtet sind. Die ordnungsgemäß ausgefüllten Formulare sind bis zum 10. März 1940 abzugeben (…)2

Foto links und Mitte: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto rechts: Privatarchiv H. R.

Von diesem barschen Dokument wusste ich nichts, als wir in dem netten, kleinen Städtchen eintrafen. So saßen wir unbeschwert auf dem herausgeputzten Marktplatz; Silke und Rafał tranken Espresso, ich einen milden Wein, um meine Blase (und ein bisschen auch meine Seele) aufzumuntern. Dann fuhren wir zurück zu unserer Hotelvilla. Auf einer ruhigen Seitenstraße entdeckten wir ein Restaurant, das uns als Alternative zu unserer Beköstigung im halb verhängten Rot geeignet schien. Nachdem Silke sich für diesen Auftritt umgekleidet hatte, fuhr uns Rafał zurück zum ‚Exclusive‘. Bei dem Namen kann man schon einiges erwarten, wenn auch keine Gäste. Trotzdem hatten wir natürlich vorbestellt. Anders geht es einfach nicht, auch wenn man sich immer ein wenig bescheuert vorkommt, ganz allein zu sein und dabei auf reservierten Plätzen zu sitzen. Wir wurden gut verpflegt und konnten Radomsko in besserer Erinnerung behalten, als das nach dem gestrigen Mittagessen der Fall gewesen wäre. – Nun habe ich, entgegen meiner Ankündigung, doch chronologisch geschrieben. Dann wird es wohl auch so bleiben.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Der Freitag war endlich wieder ein Reisetag. Bei unseren ausgedehnten Trips quer durch Europa sagten mein Busenfreund Harald und ich immer stereotyp: „Zurück auf die Landstraße, wo wir hingehören!“ Den Ausdruck ‚Road Movie‘ kannten wir noch nicht, aber wir versuchten, ihm zu entsprechen. Dagegen war unser Streckenabschnitt ab Radomsko höchstens ein Ausflug.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

An unserem nächsten Etappenziel trafen wir am späten Vormittag ein. Wie man den Namen der drittgrößten Stadt Polens – nach Warschau und Krakau – ausspricht, nämlich: ‚wut͡ɕ‘, das war eine der wenigen Informationen, die mir meine Mutter mitgab aus ihrem früheren Leben, als sie noch ‚Irena‘ gewesen war. Aus heutiger Sicht wäre ich gern zweisprachig aufgewachsen. Aber sie wollte nur alles hinter sich lassen. Deshalb brachte sie mir nur zwei Sätze bei: ‚W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie‘. Das ist das Pendant zu unseren Zeisigen, die zwischen zwei Zweigen zwitschern. Im polnischen Zungenbrecher geht es um eine Hummel, die im Schilf brummt. Und dann noch das Kinderlied ‚krakowianka jedna miala chlopca z drewna‘ – mehr nicht. Die Sprache meiner Mutter wurde nie meine Muttersprache. Dafür war mein Deutsch immer akzentfrei, so wie Irena es als Zweitsprache in Danzig gelernt hatte, bevor sie zur Irene wurde.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Irene schilderte mir Łódź als trostlose Stadt. Sie war dort nur einmal gewesen und erinnerte sich mit Grausen an ihre Fahrt mit der Straßenbahn: Die Gleise verliefen oberhalb des Gettos. Sie konnte die Menschen unten sehen und sie ahnte, wenn sie enttarnt würde, dann wäre sie sofort dort unten.

Mein Vater hatte häufiger in Łódź zu tun. Weil sein Betrieb wegen der Kohleversorgung als kriegswichtig galt, musste er nicht Soldat werden, jedenfalls erst im Herbst 1944 als „letzte Goebbelsspende“, wie er sich nannte. Vorher musste er sich um die Kohleversorgung des Reichs kümmern und dafür auch reisen. Zu dieser Zeit hieß Łódź Litzmannstadt. Guntram erwähnte den Namen manchmal, verbesserte sich aber sofort selber. Karl Litzmann war ein preußischer Offizier gewesen, der während des Ersten Weltkrieges die Russen bei Łódź zurückgedrängt hatte und später begeisterter Gefolgsmann Hitlers wurde. Die Stadt Łódź wurde ihren Schandnamen als Erste wieder los. Chemnitz und St. Petersburg, die nach ehrenwerteren Persönlichkeiten umbenannt worden waren, mussten noch warten: fast fünfzig Jahre.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

An dieser Stelle schiebe ich ein paar Zahlen ein, die man behalten oder vergessen kann, ganz wie man will. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort 1332. 1793 wurde die Stadt im Zuge der Zweiten Polnischen Teilung preußisch. Um 1800 lebten in Łódź – oder damals Lodsch – rund 200 Menschen, mehr nicht. Nachdem Napoleon die Preußen zurechtgestutzt hatte, wurde Łódź Teil des Herzogtums Warschau und unterstand somit dem Zaren. 1892 legten Gläubige in Łódź den derzeit größten jüdischen Friedhof von ganz Europa an. 1897 lebten 314 000 Menschen in Łódź, 40 Prozent davon waren Deutsche. 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde die Zweite Polnische Republik gegründet, Łódź mittendrin. Am 9. September 1939 marschierte die Wehrmacht kampflos ein.3 Meine Mutter erzählte, dass die polnische Propaganda verkündet hatte: „Die Deutschen tun so groß, dabei haben sie bloß Panzer aus Pappe. Die sollen ruhig kommen, dann schlagen wir sie.“ Die Panzer kamen wirklich und sie waren sehr, sehr echt. Irena war um eine Erfahrung reicher und glaubte von da an nichts mehr, was Politiker sagten. Am 19. Januar 1945 kamen sowjetische Truppen, 1990 gingen sie wieder. Jetzt findet die polnische Loveparade, die Parada Wolności, jedes Jahr auf der Ulica Piotrkowska statt, dem längsten Boulevard ganz Europas.

Fotos oben (3): gemeinfrei/Wikimedia Commons | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Gearstd, Valery Sidelnykov, Oleksiy Mark, Kozlik

26 Kommentare zu “#2.25 Panzer aus Pappe

  1. Eine polnische Loveparade passt irgendwie so gar nicht zu dem Land, dass gerade dazu ermutigt LGBT-freie Zonen auszuschildern.

    1. Davon habe ich auch gehört. Sehr unheimlich wie sehr sich unsere hart erkämpften Werte und Rechte langsam aber sicher wieder umkehren.

      1. Klingt ein bisschen nach „judenfrei“ im Nazi-Reich. Ob Ursula von der Leyen den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki gestern darauf hingewiesen hat? Eher nicht.

  2. Ich arbeite mich auch noch zum Road Movie Leben hin. Irgendwann wenn ich ein bischen mehr Zeit habe muss eine lange Abenteuer-Autoreise sein.

    1. Nur, dass solch eine Reise im Alter nicht mehr das sein kann, was sie in der Jugend gewesen wäre. Vielleicht ist sie später sogar gehaltvoller. Aber – alles was man aufschiebt ist nicht wichtig genug: in der Politik, in der Karriere, im Sex.

      1. Da sagen Sie was. Ich rede mir ein, dass der Zeitpunkt unwichtig ist. Aber die Kombination aus Abenteuer und Jugend lässt sich natürlich nicht mehr reproduzieren.

  3. Exclusive ist in der Tat ein ziemlich vielversprechender Name für ein Hotel. Oder eben nicht. Wahrscheinlich sollte man sofort stutzig werden, wenn es nötig scheint die eigene Großartigkeit im Namen zu manifestieren.

      1. … na, die war aber nicht von Pappe. Welche fürcherlichten Kräfte da entfacht wurden, ist heute unvorstellbar. Gäbe es noch ein zweites derartig fanatisiertes Volk, das solchen Wahnsinn bis zum Ende durchhält? Die Japaner? Eine Atombombe auf Dresden oder Berlin scheint nicht ausgeschlossen, und Hitler hätte sie ohne Zögern über Paris oder London abwerfen lassen.

      2. Die beiden liegen in der Tat nah beieinander. Wahllos oder planlos war die Zerstörungswut der Nazis jedenfalls nicht.

  4. Ich mag Menschen, die sich für den jeweiligen Anlass umkleiden. Gerne auch mehrmals am Tag. Silke scheint da ebenfalls eine große Wichtigkeit zu sehen.

    1. Leben braucht unbedingt Damaturgie. Kleidung ist dabei äußerst hilfreich. Mit Jeans zur Opernpremiere zu erscheinen ist nicht leger, sondern eine Aussage. Im Maßanzug zum Obtoberfest zu gehen auch. Arroganz, Missachtung, Gleichgültigkeit, Eigenliebe – alles möglich. Eine Gesellschaft, die das duldet, ist wohl liberal. Eine Gesellschaft in der es Käufer für extra kaputt gemachte Klamotten gibt:
      Amiri
      Distressed Shotgun Jeans
      1.010 €
      hat wohl Probleme mit der Vermögensverteilung.

      1. Selbst gegen zerrissene Jeans habe ich ja nichts. Aber wer dafür freiwillig 1000€ ausgibt, hat wohl schon eher einen Knall als Stil.

      2. Alltagskleidung für tausend Euro ist meiner Meinung nach ohnehin übertrieben. Es gibt ja auch noch ein Mittelding zwischen Primark und Luxus.

      3. Man muss keine 1.000 Euro für Kleidung ausgeben. Herr Rinke hat ja schon Lessing zitiert. Man kann es aber tun, wenn man das Geld hat und Freude an schönen Sachen hat. Ob es die mit der Schrotflint gequälte Jeans sein muss ist natürlich eine andere Frage.

    1. Du lieber Gott, da fragt man sich tatsächlich wer sich diese Programme ausdenkt! Und wer überhaupt Zielgruppe sein soll. Fünfjährige mit Acid-Suchtproblemen?

      1. Na man denkt bei der Eröffnungssequenz halt eher an eine Folge Black Mirror als an eine reale Kindersendung. Aus welchem Beweggrund lässt man Kinder in einer animierten Computerwelt aufwachsen? Kommt das nicht eh früh genug?

      2. Wenn ich mich richtig erinnere, sagt der Text, dass eine Krakauerin einen Jungen aus Holz hatte. Rafal erzählt mir gerade, dass in der ersten Strophe der Junge in den Krieg ziehen muss und in zwei zweiten Strophe hat die Frau deshalb einen Jungen aus Holz. Jede Strophe endet mit dem Ruf, den ich auch schon von meiner Mutter kannte: ojdana ojdana ojczyzna moja kochana !
        etwa: Hoch, hoch, mein geliebtes Vaterland.
        Also doch nicht ganz so harmlos, wie ich dachte.

    2. na man muss aber auch mal die kirche im dorf lassen. es ist doch nur eine harmlose kinderserie. jedenfalls habe ich nichts anstössiges daran sehen können. die zeiten von tom & jerry sind nun einmal vorbei.

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