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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.14 Kein Weg zum anderen Ufer

Silke und Rafał kamen zurück. Da saßen wir in Görlitz, ziemlich allein, am Ende der Welt, am Beginn der Reise. Keine Müßiggänger, aber Müßigsitzer. Für Rafał war es Beruf, für Silke und mich Lebensabend, na ja, später Nachmittag.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Da, wo wir jetzt unsere Blicke in die Runde schickten, hatte sich in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine Ansiedlung von Kaufleuten entwickelt. Zu dieser Zeit hatte die Gegend bereits Jungsteinzeit, Völkerwanderung und Konflikte zwischen Polen, Böhmen und dem Heiligen Römischen Reich hinter sich. Es ging auch bewegt weiter: Niederbrennen während der Hussitenkriege, 1491 ein Bierkrieg mit Zittau, 1636 von Böhmen an Sachsen, nach den Napoleonischen Kriegen von Sachsen an Preußen, was eben so passiert zwischendurch. Um uns nicht zu verzetteln, kommen wir gleich zur neueren Neuzeit: In der Reichspogromnacht 1938 hat die Görlitzer Feuerwehr die Synagoge geschützt und so erhalten. Am 7. Mai – dem letzten Kriegstag wurden alle sieben Neißebrücken von Wehrmachtstruppen gesprengt. Die Russen kamen trotzdem. Ende der 1980er-Jahre sollte die ganze verfallene Bausubstanz zugunsten leckerer Plattenbauten gesprengt werden. Zu Honeckers Ärger kam dann aber der Untergang der DDR dazwischen. Das hat dazu geführt, dass Görlitz sich jetzt über so viel restaurierte Bausubstanz freuen kann wie kaum eine andere deutsche Stadt. In diesen Kulissen lassen sich gut historische Filme aufnehmen. Deshalb soll der ‚Volksmund‘ die Stadt ‚Görliwood‘ nennen, behauptet der Reklamemund.

Foto oben: Privatarchiv H. R. | Foto unten: Torsten Becker/Fotolia

Wir bestellten uns über unseren Gastwirt eine Taxe, die uns sogar dort abholen durfte, wo sonst kein Auto hindarf, nur zu unserem Restaurant durfte sie uns nicht fahren. Mir hatte nämlich ein Lokal am anderen Neiße-Ufer sehr gut gefallen, so auf dem Bildschirm. Ein abendlicher Ausflug sollte es erlauben, schon mal etwas an Polen zu naschen, aber es musste beim nachmittäglichen Ausflug zu Fuß über die Brücke bleiben. Unser Taxifahrer durfte nicht ‚nach drüben‘. Er fand das ungerecht. Ich auch. Die polnischen Taxifahrer können Gäste nach Deutschland befördern, aber die deutschen Fahrer(-innen) dürfen ihre Gäste nicht ans andere Ufer bringen. Die Deutschen lassen sich aber auch alles gefallen. Soll das etwa die Wiedergutmachung sein für die Zerstörung Polens im Zweiten Weltkrieg? Als Sohn einer Polin und Arbeitgeber eines Polen bin ich nicht damit einverstanden, dass dieser Ausgleich an mir exekutiert wird.

Foto oben: pure-life-pictures/Fotolia | Foto unten: Ruslan/Fotolia

Mit dieser Schnurre bedrängte ich unseren Fahrer aber nicht, sondern hielt während der etwas ziellosen Fahrt Ausschau nach einem betretenswerten Lokal diesseits der Neiße. Eigentlich hatte mir das Restaurant in der ersten Seitenstraße hinter unserem Hotel am besten gefallen: Dahin fuhren wir zurück und ließen uns absetzen. „Nicht vorbestellt und so viele Menschen“, dachte ich. „Vielleicht gibt man uns noch die muffige Ecke zwischen Klo und Kleiderhaken.“ Aber nein! Wir wurden an den letzten freien Tisch direkt am offenen Fenster geführt. Es war ganz herrlich und überhaupt nicht vorhergeplant. Wenn man sich nicht naiv-blind darauf verlässt, dass es schon gut gehen wird, sondern in realistischer Einschätzung den unbeschrittenen Weg wählt, klappt es zur Belohnung eben doch mal.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Ich schaffte es, große Teile meines Tellers leerzuessen, ich schaffte es, den Fußweg zurück zum Hotel ohne hörbares Murren hinter mich zu bringen, und ich schaffte es einzuschlafen, bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, warum ich nicht einschlafe.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Vorher hatte ich mich noch auf meinem Laptop vergewissert, dass die Kontaktanzeige für Paulinenaue überall gilt. Mit Gewissheiten lebt es sich leichter, wenn auch etwas fad.

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Foto: vladorlov/Fotolia

‚Romantischer als in diesem historischen Hallenhaus kann man in Görlitz nicht wohnen. Das inhabergeführte Hotel garantiert seit über 500 Jahren exklusives Logieren in einem der ältesten Hallenhäuser der Stadt‘, verspricht dagegen die Homepage und schlägt vor: ‚Besuchen Sie exklusiv unsere einmalige Hauskapelle und Schatzkammer.‘ Das taten wir dann auch, bevor ich zahlte, Rafał das Gepäck verstaute und Silke abwartete.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Bevor wir außerdem nach Polen abtauchten, musste mir Görlitz gezeigt werden. Zu diesem Zweck wurde eine Neuerrungenschaft eingeweiht; allerdings keine, die dem Aufbruch diente, sondern – ganz im Gegenteil – dem Abbruch: Es war das Eingeständnis meines Unvermögens. „Ich kann die Strecken, die ich zurücklegen möchte, zu Fuß nicht mehr bewältigen“, hatte ich mir gedacht. Das hielt ich lieber für Faulheit als für Einsicht, musste aber in beiden Fällen Maßnahmen ergreifen. Die bestanden darin, mir übers Internet einen Rollstuhl zu bestellen und, weil der sich dem Kofferraum nicht anpassen wollte, mit Rafał eine Autodachbox zu kaufen, als Transportmittel für mein Transportmittel. Bei morgendlicher Wärme wuchtete Rafał das Gestell vom Dach und fügte die Teile geschickt zusammen. Dann nahm ich Platz und ließ mich schieben. Ein eigenartiges Gefühl: zu sitzen und zu fahren. Nicht Fahrrad, nicht S-Bahn – Rollstuhl. Man kann sich nicht einfach umdrehen, um hinten etwas zu sehen, man muss sich umdrehen lassen. Kopfsteinpflaster und Bordsteine werden plötzlich zu Problemen. Aber: Ich sah von oben den Abhang hinunter auf die Stadt und ich sah von unten an den Fassaden der Kirchtürme herauf. Im Sitzen. So ist das jetzt. Mir kam – wie ja fast immer – einer meiner Briefe an Pali in den Sinn. Die entsprechenden Teile löse ich möglichst unauffällig aus ihrem Zusammenhang heraus und füge sie hier hintereinander gestapelt ein.

Foto oben: kama71/Fotolia | Foto unten: pure-life-pictures/Fotolia

18. März 2000
Bei uns gab es, seit ich denken kann, am Samstagabend immer durch den Wolf gedrehtes rohes Rind: Als ich noch bei meinen Eltern lebte und später auch. Das wurde genauso wenig infrage gestellt wie Adenauers Anspruch auf die Kanzlerschaft. Seit Sommer 1999 wohnten meine Eltern in der ausgebauten Etage unter mir. Guntram konnte wegen seiner fortgeschrittenen Polyneuropathie das sonnabendliche Tatar nicht mehr selber holen, und ich hatte mir – am Freitagabend kurz vor dem Schlafengehen – in den Kopf gesetzt, ihn am nächsten Morgen in seinem neuen Rollstuhl an die Stätte seiner ehemaligen Einkäufe zu fahren. Irene, die den Teich und den Tatbestand und inzwischen auch das Tatar nicht mochte, würde uns aus Pflichtgefühl und aus Solidarität begleiten, und wenn wir zu ihr sagen würden: „Bleib doch zu Hause“, dann würde sie sagen: „Nein, nein, ich komm schon mit“, und in ihren Worten würde genauso viel Entschlossenheit liegen, als ob sie sagte: „Ich freue mich auf den Spaziergang. Also versucht nicht, ihn mir auszureden!“

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: gualtiero boffi, Artemii Sanin, KDdesignphoto, MOTHTSU, SQS, ElenaShow, Rawpixel.com, Oxygen64, pockygallery

27 Kommentare zu “#2.14 Kein Weg zum anderen Ufer

    1. Aber was hat es denn eigentlich mit diesen Seitensprüngen auf sich? Ist das nochmal ein besonderer Reiz?

      1. Alles was verboten ist hat nunmal seinen Reiz. Damit wird da anscheinend gespielt. Dass das Quatsch ist, ist eine andere Sache.

      2. Essen und Beischlaf sind die beiden großen Begierden des Mannes. Das war schon bei Konfuzius so und wird auch immer so sein.

  1. Die Tatsache, dass man Görlitz ernsthaft als „Görliwood“ bezeichnen soll, zeigt wohl wie weit am anderen Ende der Welt die Stadt liegt.

    1. „Vor der Oberbürgermeisterwahl in Görlitz positionieren sich Filmstars und -produzenten in einem Brief gegen den Bewerber der AfD. Da dessen Chancen, ins Amt gewählt zu werden, groß sind, fürchten Sie um den guten Ruf ihres Görliwood. Görlitz ist immer wieder Kulisse für Szenen großer Filmproduktionen, etwa von Inglorious Basterds, Der Vorleser oder The Grand Budapest Hotel.“

  2. Alt werden möchte ich eigentlich nicht, aber wenn es mir einigermaßen gut geht, würde ich zumindest genießen mich von einem jungen Helfer durch die Stadt schieben zu lassen.

      1. ‚Hoffen‘ ist herrlich, allerdings liegt es nahe beim ‚Befürchten‘. Illusionslos ist nur das Wissen.
        Damit es im Rollstuhl Spaß macht, muss der Helfer leider auch zugewandt, möglichst sogar hübsch sein. Aber: wer weiß? Ist er dann ja vielleicht.

      1. Keine Erwartungen zu haben ist allerdings ziemlich schwer. Gelingt mir jedenfalls selten.

      2. Erwartungen werden in der Regel enttäuscht. Wer deswegen nur pessimistisch durch’s Leben läuft wird auch nicht zufriedener sein.

  3. Jede Woche Tartar würde ich glaube ich nicht lange durchhalten. Aber solche Regeln funktionieren bei mir grundsätzlich eher schlecht. Meine letzte selbstauferlegte Diät hat eineinhalb Wochen gehalten.

  4. Dass die Taxis nicht über die Grenze fahren dürfen, wusste ich gar nicht. Absurde Regelung. Google sagt, es hängt am polnischen Umsatzsteuergesetz. Konnte allerdings nicht herausfinden, ob das auch heute noch so gilt.

  5. Um das sanfte Einschlafen beneide ich Sie. Schlaflosigkeit ist so etwas schlimmes und leider auch so etwas regelmäßiges in meinem Leben.

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