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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.12 Herz in Schwefelsäure

Nicht nur, dass man alles, was direkt am Wegesrand liegt, mitnehmen muss, ein bisschen Umweg ist auch gerechtfertigt. Der schnellste Weg von A nach B ist etwas für Vielflieger, ich bin auto.

Foto links: hkmedia/Fotolia | Foto rechts: Fotoschlick/Fotolia

So lag es nahe, bei Pücklers in Muskau einen Zwischenstopp einzulegen. Fürst Pückler war mir früh vertraut, denn Annemarie Kruse liebte Fürst-Pückler-Eis. Ich nicht. Eis mochte ich noch nie. Zu kalt am Gaumen. Obwohl: Im Kino habe ich in den Fünfzigerjahren manchmal dieses trikolore Eis gegessen, weil das damals so dazugehörte wie heute Popcorn. Ab den Siebzigerjahren nahm ich vor der Darbietung lieber ein Glas Wein an der Lichtspiel-Bar. Früh schon war ich der Gewissheit oder dem Irrtum verfallen, dass mit Alkohol alles Erleben intensiver wird und weniger furchterregend. Angst ebbt den Menschen ab. Mut flutet ihn auf. An jedem Wochenende gingen wir ins Kino: Harald und ich, später Harald, Silke, Esther (Silkes Schwester) und ich. Wir waren jung, wir waren kritisch, wir waren begeisterungsfähig. Während der Vorstellung zu essen oder zu trinken hätten wir schlimmer gefunden als während der Papstaudienz zu pupsen.

Jetzt gehe ich nicht mehr in Kinos, aber ich bitte Amazon um alle wichtigen Filme. Während ich sie von meiner Leinwand her auf mich einwirken lasse, trinke ich (im Allgemeinen Wein) und esse ich (im Allgemeinen alles: Nüsse, Schokolade, Marzipan, Kekse – alles, was keine Mahlzeit ist, aber natürlich nie Eis).

Fürst Hermann von Pückler-Muskau hat es zweifellos verdient, dass man etwas mehr von ihm erfährt, als ein Vanille-Erdbeer-Schokoladen-Eis zwischen zwei Waffeln hergibt. ‚Der tolle Pückler‘ wurde er genannt, und das bedeutete damals eher ‚verrückt‘ als ‚großartig‘, ein ‚Luftikus‘. Gelebt hat er von 1785 bis 1871. 86 Jahre alt wurde damals kaum jemand, und so, wie er gelebt hat, lebte erst recht niemand.

Seine Mutter war 15, als er ihrem Unterleib entschlüpfte. Sie behandelte ihn wie ein Spielzeug ,ohne selbst zu wissen, warum sie mich bald schlug, bald liebkoste‘1, schrieb er seinem Vater, als er sechzehn war. Und er fährt fort: ‚In den frühen Jahren meiner Kindheit finde ich mich in den Händen theils dummer, theils roher Bedienten, die mich ziemlich nach Gefallen behandelten.‘1 Aber der Vater war ‚tatenarm und mürrisch‘2, also faul und unausstehlich. Seine Mutter war damals gerade aus ihrer unerträglichen Ehe ausgebrochen, und sein Vater hat ihn immer von sich ferngehalten. Erzogen wurde der junge Pückler im Philanthropinum in Dessau und streng pietistisch in Uhyst. ‚Heuchelanstalt‘2 nannte er die Einrichtung. Alles Protestantische fand er seither furchtbar. Er lebte eine Art Pantheismus, aber – wie’s im Alter so geht – zum Schluss wurde er noch katholisch.

1 ‚Semilassos vorletzter Weltgang. Gesammelte Reisebilder des Fürsten Hermann Pückler-Muskau‘ | 2 aus Wikipedia

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Ab 1800 studierte er erst Jura, schlug dann lieber die Offizierslaufbahn ein und unternahm noch lieber Reisen: nach Italien, nach Frankreich und dann nach England. Er sah die englischen Parks und wusste: „Das ist meine Welt.“

Aber zu Hause war auch einiges los: Nach dem Wiener Kongress fiel Pücklers Landsitz in der Lausitz von Sachsen an Preußen. Pückler heiratete ebenfalls preußisch: Lucie von Hardenberg, geschiedene von Pappenheim, Tochter des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg. Sie war neun Jahre älter als er. 1826 ließ er sich von ihr scheiden. Damals war er schon hoch verschuldet, weil er für seine Parkanlage riesige Mengen Mutterboden aus weit entfernten Gegenden heranschaffen ließ, auf Ochsenkarren. Pückler fuhr wieder nach England, um dort eine reiche Erbin zu heiraten. Er fand zwar keine, dafür wurden seine Reiseberichte ein literarischer und finanzieller Erfolg, erst in Deutschland und dann auch in England und in den USA. Pückler wollte deshalb nach Amerika reisen, aber er verpasste sein Schiff, wegen eines Duells. Also überlegte er es sich anders und fuhr nach Ägypten. Da bekam er vom Pascha einen Palast mit Personal, reiste aber weiter in den Sudan, wo ihn seine Kräfte schließlich verließen. Zurück in Ägypten kaufte er sich auf dem Kairoer Sklavenmarkt die schöne Machbuba. Alt war sie noch nicht. Die Quellen schwanken zwischen zehn und dreizehn Jahren. Der Unterschied kommt einem auf Anhieb größer vor als der zwischen 90 und 93. Aber Schluss mit den Spitzfindigkeiten! Er nahm sie mit nach Europa. Sie soll auf Muskau seine Geliebte gewesen sein, starb dort aber nur drei Jahre später. Daraufhin zog es ihn nach Konstantinopel und dann nach Griechenland. Im biedermeierlichen Preußen kamen seine Ablehnung des Christentums und sein extravaganter Lebensstil nicht gut an. Trotzdem gehörte er 1866 zum Hauptquartier des preußischen Königs im Deutsch-Österreichischen Krieg. Am Deutsch-Französischen Krieg 1870 durfte er aber nicht mehr teilnehmen, leider. Da war er allerdings auch schon 85. Ein Jahr später starb er. Aus gekränkter Eitelkeit?

Bis zum Schluss schrieb er und er war dabei der erste deutsche Schriftsteller, der Kohlepapier für Durchschläge benutzte. Seine Schriften sollten ihn offenbar überdauern und das taten sie auch. Einäscherung war damals verboten, deshalb war er mit seiner Leiche beizeiten genauso planvoll vorgegangen wie Herr von Ribbeck mit seiner Birne im Grab. Er bestimmte, dass sein Herz in Schwefelsäure aufgelöst werden sollte und der Körper in Ätznatron, Ätzkali und Ätzkalk gelegt wurde. Kinder hatte er keine in die Welt gesetzt; Schloss und Park erbte ein Neffe, das Vermögen eine Nichte. Ist das eine Biografie? Reicht für zwei Romane und mindestens einen Film, beides noch nicht verwirklicht. Er hat es zweifellos gelernt zu leben. Aber ist er deshalb ein Vorbild?

Pückler wurde als gartengestalterisches ‚Genie‘ bezeichnet. Sein Konzept der ‚Blickachsen‘ wurde weltberühmt. Für seine Landschaftsgärten hatte er den freien Zugang verfügt. Jeder konnte kommen. Ganz fortschrittlich, liberal. Das alles finde ich viel eindrucksvoller als das nach ihm benannte Industrie-Eis mit Kunstaroma. Aber: Wofür man berühmt wird, das kann man sich nicht immer aussuchen. Hitler wäre auch lieber gleich für seine Landschaftsbilder bekannt geworden als erst später für seine Vernichtungspolitik.

Wir fuhren wie üblich über gesperrte Wege bis zum Anschlag, aber selbst von dort aus mussten wir noch ein tüchtiges Stück laufen, um unsere gebuchte Kutsche zu erreichen. Wir saßen, die Pferde zogen. Es war warm, es war grün, es war Mai. Der Park sah sehr gepflegt aus, seine Besucher eher nicht. Vermutlich wussten sie nicht viel vom Fürsten Pückler, und zu DDR-Zeiten wäre ihm das alles sowieso weggenommen worden. Stattdessen wurde es 1945 dem Grafen von Arnim erst weggenommen und dann umfunktioniert. Fürst Pückler-Muskau galt als ‚Junker‘ und ‚Kosmopolit‘. Beides Gründe, sein Erbe zu missachten. Nachdem Sowjetsoldaten schon im Mai das Neue Schloss abgefackelt hatten, bauten die Deutschen dort Gemüse und Kartoffeln an, was den Hunger zweifellos besser stillt, als es schöne Bäume tun. 19 Hektar des Parks wurden zur Siedlungsfläche gemacht. Das war in dem kaum bewohnten Gebiet schon weniger dringlich. Die von den Alliierten 1945 beschlossene Oder-Neiße-Grenze hatte den Park damals in einen polnischen Teil im Osten und einen deutschen Teil im Westen gespalten. Der Westteil lag lange Zeit in der DDR, jetzt liegt er in der Bundesrepublik, was, wie zu erwarten war, seinem Aussehen und dem seiner Gebäude architektonisch und farblich außerordentlich gut bekommen ist. Es bleibt halt dabei: Sozialismus ist gut und hässlich, Kapitalismus ist schlecht und hübsch. Das liegt daran, dass es der Sozialismus nirgendwo auf der Welt bis hin zum Kommunismus geschafft hat, in dem dann die Häuser bunt, die Speisen essbar und die Leute alle gleich gewesen wären.

30 Kommentare zu “#2.12 Herz in Schwefelsäure

  1. Eine Cousine ersten Grades schrieb mir (gekürzt, nicht korrigiert):
    „Hättest Du unsere Verabredung der ‚Kontrolle‘ über Dein Mitteilungsbedürfnis in Deinem Blog eingehalten, so wäre uns und der Öffentlichkeit die Schilderung Deiner morgentlichen Versorgung durch Rafa erspart geblieben! Es ist bedauerlich, daß Du kein Schamgefühl hast und das Netz mit Deinen Ergüssen aus frühester Jugend in Bild und Ton überziehst – wenn Du glaubst, auf diese Weise würde etwas von Dir erhalten bleiben – wen sollte das später noch interessieren?“
    Soll ich meinen Blog schließen?

    1. Oh, höre ich da ein bischen Neid heraus?! Das tolle an Online-Blogs bzw. allen veröffentlichten Texten ist doch, dass man sie nur lesen muss wenn es einen interessiert. Ich freue mich jedenfalls immer über einen neuen Rinke.

      1. So Familienstreitigkeiten kenne ich von zuhause auch. Nein nein, bitte schreiben Sie weiter!

    2. Na wenn Ihre Verwandten davon ausgehen, dass den Blog niemand liest, dann sollte es doch eh keinen Grund zur Beschwerde geben 😉

    3. Nun ja, wenn sich jeder hinter seinem Schamgefühl verstecken würde, wäre es auch langweilig. Nicht jeder muss sein Innenleben nach außen wenden. Aber gut, dass es manche tun.

  2. Sein eigenes „Kino“ im Haus zu haben ist natürlich eh viel besser. Da spart man sich die störenden Unterhaltungen der Sitznachbarn oder das Schnarchen beim Arthouse-Film in den hinteren Reihen.

    1. Und trotzdem bringt das kollektive Schauen im Kino nochmal ein zusätzliches Erlebnis. Finde ich zumindest.

  3. Die Idee, dass alle Menschen gleich sind, erscheint mir immer so absurd, dass ich nicht weiss was ich darauf sagen soll. Gleich vor dem Gesetz, klar. Gleich vor Gott, von mir aus. Aber gleich in ihrem Wesen, ihren Bedürfnissen, ihrem Denken? Das vergisst der Kommunismus.

    1. Das wollte ich auch gerade schreiben. Gerade die persönlichen Erlebnisse und Geschichten machen den Blog ja interessant. Sonst könnte man auch zum Wikipedia-Artikel über Pückler oder das Berliner Umland wechseln.

  4. Der schnellste Weg ist für Vielflieger, aber Vielflieger reisen ja auch nicht. Zum Reisen gehört nämlich Zeit und Aufmerksamkeit. Das passt nicht in den Kalender eines erfolgreichen Geschäftsmenschen.

    1. Leider ist da etwas wahres dran. Ich war tatsächlich schon in Städten, von denen ich außer meines Hotelzimmers und des Meeting-Raumes nichts gesehen habe.

  5. Auf keinen Fall sollen Sie den Blog schließen. Jedenfalls nicht aufgrund irgendeiner belanglosen kritischen Rückmeldung.

    1. Oha. Laut Google war es ihm „ein Gräuel, einst den Würmern anheimzufallen und befürchten zu müssen, daß seine Gebeine zerstreut und verworfen werden könnten“.

  6. Fürst-Pückler-Eis kenne ich aus meiner Kindheit noch vom wöchentlichen Bofrost-Lieferanten. Nicht unbedingt mein Fall. Die Pückler- bzw. Rinke-Stories schon eher. Gerne weiter 😉

  7. Nichts gegen ein geschichtsträchtiges Bildungserlebnis! Fürst-Pückler-Eis also! Wer erinnert sich noch? Wir kennen Mövenpick, nicht nur das beste, sondern auch das teuerste Eis. Das reicht.

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