Am Sonntagvormittag gingen wir erst in die Kirche, dann fuhren wir weiter. Breslauer Dom und Landstraße. Das Ewige und das Treibende. Wer wie ich in allem ein Prinzip sucht, der findet es auch.
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Die Fahrt führte durch meine Vergangenheit. Nicht die erlebte, aber die erzählte. Mein Großvater, der Vater meines Vaters, kam aus Tarnowitz. Weil man ja bei Autoreisen alles, was am Wegesrand liegt, mitnehmen kann, lag es nahe, über Tarnowitz zu fahren. Mein Urgroßvater war dort ‚Geheimer Medizinalrat‘ gewesen. Dieser Ausdruck hatte mich schon immer beschäftigt. Erst dachte ich, er wäre nach außen hin vielleicht Spion oder sonst etwas Unverfängliches gewesen, um sein verbotenes Arztsein nicht preiszugeben, dann, als ich gebildeter war, fragte ich – aber nur mich –, ob er womöglich heimlich die unerwünschten Kinder der schlesischen Dienstmädchen abtreiben musste, weil die störrischen Dinger nicht ins Wasser gehen wollten und dem Sohn des Hauses die Mesalliance nicht zuzumuten war. Bis zum Anfang des neuen Jahrtausends blieb man ja so dumm, wie der Brockhaus es erlaubte. Eben erst habe ich mir die Wikipedia-Enttäuschung gestattet, dass mein Urgroßvater ganz schlicht Beamter war. Bloß der Titel ‚Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat‘ hätte ihn als Spitzenbeamten im ‚Preußischen Ministerium der Medizinalangelegenheiten‘ ausgewiesen. Hat mein Vater mir nie gesagt, vielleicht auch nicht gewusst. Sein nächstälterer Bruder, der weniger erreicht hat als sein Bruder Guntram, hat sich logischerweise mehr für Ahnenforschung interessiert. Wenn man selbst nichts zustande bringt, verlässt man sich, wenn man stolz sein möchte, gern mal auf die Vorfahren, ich säße ja ohne mein Erbe auch im Altersheim. Mein Onkel behauptete, wir seien alter Adel: Rinke von Ranitsch. Aber weil unsere Uraltvorderen immer noch als Raubritter unterwegs gewesen seien, als das bereits verboten war, hat der Kaiser (oder wer sonst?) ihren Adelstitel kassiert. Schon seit Barbarossa durften Fehden nur von Montag bis Mittwoch ausgetragen werden (klingt nach Amtssprechstunde), aber ab dem Landfrieden von 1495 waren Überfälle überhaupt nicht mehr erlaubt. Weil die uneinsichtigen Rinke-Ritter trotzdem weiterplünderten, sind sie zur Strafe des noblen ‚von Ranitsch’s verlustig gegangen, angeblich.
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Mein Großvater war das älteste von sieben Kindern. So viele hat heute nur noch Ursula von der Leyen. Damals war das üblich. Seine jüngeren Geschwister hießen Heribert, Eberhard, Viktor, Hildegard, Alice und Felizitas. Geht doch alles. Auch er war eigentlich mit Alexander Seren nicht schlecht bedient. Dazwischen hieß er aber noch mit zweitem Namen ‚Reinhold‘, und genau so wurde er genannt. Während meiner Kindheit gab es eine Comic-Figur von Loriot, ‚Reinhold das Nashorn‘, und zu Weihnachten bekam ich das Bildermärchen des Struwwelpeter-Autors Heinrich Hoffmann: ‚König Nussknacker und der arme Reinhold‘. Wenn meine Großmutter „Reinhold!!“ sagte, dann kam immer eine Zurechtweisung. All das trug nicht dazu bei, dass ich meinen Großvater verehrte. Von meinem eigenen Verhalten leite ich die feste Überzeugung ab, dass Kinder nicht lieb und unschuldig sind, sondern Biester, die gezähmt werden müssen. Bei Herbert Grönemeyers Titel ‚Kinder an die Macht‘ kriege ich sofort einen Wutanfall. Aber – es wurde mir beigebracht, mich zu beherrschen. Meine Großmutter hatte sehr viel mehr Grund, ihren Mann zurechtzuweisen, als ich Anlass hatte, den Opa zu missachten. Aber Kinder spüren die Hackordnung sehr genau. Ich habe ja gar keine Kinder, rede also nur über mich.
Bilder (2): gemeinfrei/Wikimedia Commons
Bild: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Mein Großvater war – laut meiner Großmutter – der schönste Leutnant von Berlin, aber der Tonfall, in dem meine Mutter das zitierte, machte deutlich, dass sie es für Quatsch hielt. Meine Großmutter wollte so rasch wie möglich heiraten, um von ihrer lieblosen Mutter wegzukommen; die hatte auf Verlangen ihrer Eltern einen anderen heiraten müssen als sie wollte, nämlich den reichen Bierbrauer Elshorst, und ihre Wut darüber ließ sie an ihren eigenen Kindern aus, fand ihre Tochter, meine Großmutter Maria. Ihre Eroberung Reinhold fand an dem alten Elshorst nichts auszusetzen, denn mehr als Geld wollte er sowieso nicht von ihm. So kam es flink zur Hochzeit: in Essen, dem Wohnsitz der Elshorsts. Damals war es für Bürgerliche eine Ehre, wenn ein Offizier in die Familie einheiratete. Marias Mutter war gezwungen worden, den Falschen zu ehelichen, Maria selbst tat das freiwillig. Ein Bankier hatte bereits um sie geworben, aber Leutnant war schicker, damals. Reinhold kaufte sich gleich nach der Hochzeit ein neues Pferd, die Rechnung ließ er an Vater Elshorst schicken, zusätzlich noch einige Schuldscheine. In der Familienchronik ist es in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass er vor der Trauung sein ‚Ehrenwort als Offizier‘ gegeben hatte, er sei schuldenfrei. Vater Elshorst war zornig, Tochter Maria reicher – um eine Erfahrung.
Foto: Privatarchiv H. R.
Im oberschlesischen Preußen hatte Reinhold keine Anstellung bekommen, darum wich er aus nach Sachsen. Dort, in Wurzen, brachte Maria vier Söhne zur Welt: Achim, Arwed, Hasso, Guntram. Sie hatte zwei Dienstmädchen und zwei Burschen zur Verfügung, die die Arbeit machten. Als Oberschlesier war Reinhold katholisch, seine Gattin, die sich als Rheinländerin bezeichnete, war es auch. Die Rinke-Saga lautet so: In Sachsen war zwar das Königshaus katholisch (war nötig gewesen, um sich Polen einzuverleiben), aber die Bevölkerung war evangelisch. ‚Deshalb hatte das Offizierskorps einen Hass auf Reinhold, der sonntags immer so prononciert in die katholische Kirche ging.‘ Ich fragte mich immer, wie man wohl unprononciert die Kirche betritt – auf allen Vieren? Jedenfalls wurde er 1914 ausgemustert, ‚im Charakter eines Oberstleutnants‘, das heißt: Beförderung als Rausschmiss. Reinhold und Maria reisten an die Adria, ins österreichische Abbazia, (heute kroatisch: Opatija), dann ließen sich der deutsche und der österreichische Kaiser den Ersten Weltkrieg einfallen, der Österreich auf die Gegend zwischen Wien und Bregenz zusammenschmelzen ließ, nachdem mein Großvater erst reaktiviert und dann endgültig in Rente geschickt worden war. Zunächst aber verschwand Reinhold ins Feld, die Familie mal hierhin, mal dorthin, die beiden Älteren wohl überwiegend in die Kadettenanstalt, Hasso mit Reinholds Schwester Felizitas nach Südtirol, Guntram mit seiner Mutter nach Hahnenklee im Harz, wo sich die feine Frau Oberstleutnant als Empfangsdame eines Hotels den Unterhalt zu verdienen hatte. Erst Anfang der Zwanzigerjahre traf die Familie in Berlin wieder zusammen und musste von der Pension meines Großvaters – also viel auf Pump – leben.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Reinhold war von der Situation völlig überfordert und stammelte entgeistert: „Also, dass ich noch mal meine Familie würde ernähren müssen, das hätte ich nie gedacht.“ Sein Schwiegervater hatte nämlich die Brauerei verkauft und den Gewinn in Wertpapieren angelegt. Während der Inflationszeit konnte er dabei zugucken, wie sein Vermögen wegschmolz. Er war ein gebrochener Mann. Kurz vor seinem Tod traf Maria in Essen ein, und als er gestorben war, fragte Guntram seinen Vater, ob er nicht zur Beerdigung fahren wolle. Reinhold fragte zurück: „Nein, wozu? Ja, wenn da der reiche Mann gestorben wäre! Aber so …“ – „Das war typisch für meinen Vater“, beendete Guntram solche Erzählungen. Jetzt würde ich gern mehr über all das wissen, aber als mein Großvater starb, war ich 10. Da hat man anderes im Kopf. So weiß ich nur, dass mein Großvater ein bornierter Offizier war; sein Bruder Eberhard wahrscheinlich auch, aber er war wohl außerdem auch unternehmungslustiger: Er liebte die Bühne und inszenierte in seiner Freizeit eigene Werke.
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Nach einer Generalprobe drückte der Hauptmann Eberhard Rinke in einer Aufwallung von Überschwang seiner Hauptdarstellerin in der Kulisse einen überwältigenden Kuss auf. Überglücklich lief sie zu ihrem Vater: „Papa, er wird mich heiraten!“ Ihr Vater war schicksalsträchtigerweise der Regimentskommandeur und sorgte dafür, dass seine Tochter recht behalten sollte: Er habe seine Tochter kompromittiert, eröffnete der Kommandeur seinem Hauptmann. Entweder er würde sie heiraten oder er habe seinen Abschied zu nehmen. Eberhard entschied sich fürs Vaterland, also für die Ehe, und berührte die Regimentstochter nie wieder; so blieb Kindersegen aus, das war seine Rache. Ihre ging noch etwas weiter, wenn die Geschichte so stimmt, wie sie bei uns erzählt wurde, und nur so kann ich sie wiedergeben: Eberhard heiratete und „rührte seine Frau wie wieder an“, hieß es, andere Damen schon. Er schrieb nämlich „kleine Operetten“. Meine väterliche Familie war sich sicher, dass dieses Erbe direkt zu meinem Wunsch geführt hatte, Komposition zu studieren. Allerdings waren meine Vorbilder nicht Lehar und Kollo, sondern eher Beethoven und Brahms. Eberhard verfolgte auch andere Ziele als ich. Ich wollte gleich die ganze Welt begeistern, ihm reichten schon entzückende kleine Soubretten, die ihm auf und hinter der Bühne viel Freude machten – seiner Frau nicht so.
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Eines Tages wurde Eberhard krank. Ihm war nicht geheuer und er schickte (heimlich?) nach seinem Bruder Heribert um Hilfe. Als der eintraf, war es schon zu spät: Die nie mehr berührte, dafür aber eifrig betrogene Gattin hatte sich in einem Befreiungsakt ungerührt zur Witwe gemacht, indem sie erst alle Fenster geöffnet und dann – doppelt hält besser – Eberhard das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte. „Hat ihm ein schnelles Ende bereitet“, nannte Guntram den Vorgang. Woran Heribert das gleich so deutlich gemerkt hat, dass er es fortan mit keinen Widerspruch duldender Sicherheit behaupten konnte, weiß ich nicht. Es mag kühl im Zimmer gewesen sein, aber das Kissen lag doch bestimmt wieder unter dem Kopf seines verblichenen Bruders.
Heribert selbst kam in seiner Ehe besser davon. Er hatte die Tochter des Drahtseilfabrikanten Deichsel (genannt ‚das tückische Drahtseil‘) geheiratet und auch einschlägige Erfahrungen, was – wie man damals sagte – das Wittern von ‚Nebenluft‘ anging. Seine Poussage mit dem Plettmädchen, der er an die Wäsche ging, ließ sich ja noch ausbügeln, aber als die Fabrikantentochter eines Abends im Konzertsaal saß, hörte sie, noch bevor der Dirigent das Programm zu bestimmen begann, zwei Damen in der Reihe hinter ihrer tuscheln: „So eine schöne Frau! Und der Mann betrügt sie nach Strich und Faden.“ Vom zusätzlichen Bügeleisen wussten die beiden Konzertbesucherinnen offenbar nichts, trotzdem – die Affären ihres Ungetreuen waren also Stadtgespräch! Männer waren damals ja immer gleich gehörnt, Frauen bloß gedemütigt, aber nicht mal das musste die reiche und schöne Erna hinnehmen. Die Konsequenzen, die sie zog, blieben allerdings weniger drastisch als die ihrer Schwägerin: Sie trennte sich von Heribert. Erst in den Sechzigerjahren starb sie bei einem Autounfall, den ihre Tochter Ingrid verschuldet hatte. Ihr Sohn Heribert junior setzte die Reihe der guten Partien fort und nahm sich die Tochter des Außenministers von Ribbentrop, was nach dessen Hinrichtung infolge der Nürnberger Prozesse natürlich einen gewissen Prestigeverlust dargestellt hätte, wenn der Gehenkte nicht seinerseits mit der ‚Henkell‘-Sekt-Erbin verheiratet gewesen wäre. So konnte der junge Heribert bis zu seinem Tod in hohem Alter weiterhin die Korken knallen lassen.
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Mir fällt auf wie wenig ich eigentlich über meinen eigenen Großvater weiss. Ich habe ihn weder kennengelernt noch je Geschichten von meinen Eltern gehört.
Diese Gespräche habe ich mit meiner Oma auch irgendwie verpasst. Ich weiss zwar viel über sie selbst, aber nur wenig über meinen Großvater, der bereits vor meiner Geburt verstorben war.
Von seinen Vorfahren Einiges zu wissen, hilft bei der Einordung: Erklärung für eigene Eigenschaften oder bewusste Abkehr von den Ahnen. Wie immer kommt es auch beim Weitergeben von Überlieferung auf Talent an. Ein guter Erzähler macht aus einer Nichtigkeit eine spannende halbe Stunde; ein Pointen-Muffel schafft es, dass man sich noch bei der Geschichte seines ausgestandenen Überlebenskampfes langweilt.
Schlimm wenn eine intime (oder auch nicht mehr ganz intime) Beziehung auf einmal so öffentlich wird. Ich wüsste nicht wie man auf so etwas reagieren könnte.
Ich weiß nicht genau, worauf Sie anspielen. Generell gilt: Wahrheit hilft. Erwischt zu werden schafft viel größere Probleme. Und das ist gut so.
Wahrscheinlich geht es um das Getuschel im Konzertsaal?!
Na wenn es tatsächlich darum geht – man muss halt mit den Konsequenzen seiner Triebe umgehen. Und auch das Tuscheln aushalten. Menschen sind neugierig. Das bleibt nicht aus.
Männer waren gleich gehörnt, Frauen bloß gedemütigt. Da zeigte sich dann auch gleich die entsprechende Stellung der beiden Geschlechter. Hat sich daran eigentlich was geändert?
Ich glaube: ja. Meine Mutter berichtete mir, als ich erwachsen war, von vielen Zusammenkünften: Da wurde im Gespräch behauptet, normale Frauen wollten niemanden als ihren Gatten. Der Mann aber sei von Natur aus weniger treu angelegt. Die anwesenden Frauen stimmten sogar zu. Meine Mutter fand das ärgerlich oder lächerlich. Unternommen hatte sie damals nichts. Andere schon. Heute wird – im Westen – die weibliche Sexualität genauso ernst genommen wie die männliche.
Der Weg dahin ist noch nicht ganz getan. Aber wie gut so etwas mit Selbstverständnis zu lesen. Danke.
Reisen durch die eigene Vergangenheit, also im wörtlichen und praktischen Sinn, sind doch was tolles. Habe auch einige schöne Erfahrungen gemacht.
Fehden ausschließlich von Montag bis Mittwoch klingt gut. Alles ernsthafte sollte eh auf drei Tage beschränkt werden.
Was war denn überhaupt nochmal mit der 4-Tage-Woche? War da nicht mal was im Gespräch?
In Neuseeland klappt so etwas anscheinend ganz gut: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2018-10/vier-tage-woche-unternehmen-perpetual-neuseeland-pilotprojekt
Toll! Und wie wird die gewonnene Zeit genutzt?
Der Witz ist doch, dass die Produktivität in den besagten Testphasen konstant blieb bzw. sich sogar steigerte. Da ist es ja fast egal, wie die frei gewordene Zeit genutzt wird.
Rinke von Ranitsch klingt ziemlich gut. Man sollte eh wieder mehr Adelstitel führen. Wo das Klima und der Umgangston doch sonst schon so rau ist…
Helga von Sinnen und Rosa von Praunheim haben den Adel wieder hoffähig gemacht.
Hahaha, da wäre aber auch langsam schon wieder eine Auffrischung an der Zeit.
Was ist denn eigentlich aus Helga geworden? Ewig nichts gehört oder gesehen…
Großfamilien mit sieben Kindern kenne ich auch von meinen Großeltern. Heute scheint das arg aus der zeit gefallen. Oder zumindest unrealistisch, wenn beide Partner eine Karriere haben.
Das muss man sich auch finanziell erstmal leisten können. Gerade wo Kinder in der Regel studieren wollen und nicht mit 14 schon selbst Geld ins Haus bringen.
Bei den Klimaausichten fragt man sich eh wie lange man noch Kinder in die Welt setzen will.