Giuseppe hatte mir noch in Hamburg zugeredet, auf das weitere Südprogramm mitten in der Sommerhitze zu verzichten. So unterblieb der Anschluss Bologna, Florenz, Rimini, Venedig, und niemand war traurig, na ja, ich ein bisschen, aber auch erleichtert. Florenz ist inzwischen nachgeholt, im Blog als ‚Frühling in Florenz‘ erlesbar, später im Jahr dann auch Bologna, Rimini, Venedig. Um aber auch im Vorjahr nicht die ganze Zeit in Meran zu versauern, versüßten wir uns den September mit einem Ausflug an den Lago Maggiore, wo wir meinen Freund Wend mit seiner Frau trafen. Vierzig Jahre war es her, dass ich dort mit Roland und Harald Urlaub gemacht hatte.
Stolz werde ich am Ende aller Reisen verkünden können: Ganz Italien habe ich wieder abgearbeitet, jede Station mindestens zum zweiten Mal, die meisten viel öfter. Fehlten bloß noch Mailand, Sardinien und Sizilien. Na klar, nach anfänglichem Zögern habe ich in meinem fanatischen Vervollständigungswahn inzwischen entschieden, auch dieses Reste-Essen im Mai und im Juni 2019 aufzutischen. Silke hat gebucht. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der hiermit abgeschlossene ‚Ost-Reise-Bericht‘ das schummerige Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, ist der italienische Nachtisch – Mailand, Sardinien, Sizilien – hoffentlich schon verarbeitet, veredelt und liegt servierbereit im Kühlschrank.
Foto: zefirchik06/Shutterstock
Zunächst aber werde ich dann wohl – gleich nach unserer Rückkehr aus der vertrauten Fremde – im heimischen Südtirol bilanzieren. Und? Wieder werde ich in guten Hotels übernachtet haben und in renommierten Lokalen gegessen. Verarmt bin ich dabei nicht. Bin ich bereichert?
Wenn ja – was habe ich dafür getan? Mit dem unsicheren Sinn und dem sicheren Unsinn des Lebens habe ich mich lachend und weinend befasst, seit mir Zweifel an der Lauterkeit des Katholizismus kamen, und sie wurden immer lauter. Zu denken hat mir nie gereicht. Immer wollte ich auch etwas erreichen. Ein Lied, ein Ziel.
1969, also vor fünfzig Jahren, klang das so:
‚LEBEN‘ aus ‚Auf Leben und Tod‘
1989, vor dreißig Jahren, klang es so:
‚GELEBT HABEN‘ aus ‚Auf Leben und Tod‘
Und 2009, vor zehn Jahren, klang es so:
‚TOTSEIN‘ aus ‚Auf Leben und Tod‘
Singen konnte ich ja nie, aber seit 2010 kann ich auch nicht mehr Klavier spielen. Also ist der Text hier meine – musiklose – letzte Aussage zu diesem ewigen Thema.
Als wir Anfang zwanzig waren, konnten wir in schlimmen Löchern übernachten, weil wir am nächsten Morgen sowieso wieder lospreschen würden: weiter erobern, weiter erleben, weiter erlernen – das Leben, die Menschen. Und jetzt? Leben lernen. Hört denn das nicht irgendwann mal auf? Hoffentlich bald. Hoffentlich nie. Es soll schwer bleiben. Das akzeptiere, das verlange ich. Allerdings soll nicht mehr der kurvenreiche, holprige Weg die Schwierigkeit ausmachen. Dem wäre ich nicht mehr gewachsen. Die Schwere der Gedanken reicht mir schon. Urteilen. Aufgrund welcher Erfahrungen und Erkenntnisse? Habe ich so viel gelernt, wie es meinem Verstand, meinem Talent, meinem Einsatz möglich war? Fehlt noch etwas? Hoffentlich. Es wäre doch traurig, schon alle Reserven ausgeschöpft zu haben. Etwas Benzin muss noch im Tank sein. Für die letzte Etappe. Oder umstellen auf Batterie, aber noch selber lenken. Leben lernen, solange es eben geht. Und dann … Als Mahnung für leichtsinnig Herauspostende heißt es: Das Netz vergisst nichts! Für mich wäre das kein Übel, sondern ein Versprechen. So bleibt etwas von mir. Später.
– ENDE –
Fotos: Alle nicht anders gekennzeichneten Fotos aus Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Pressmaster, SCOTTCHAN, Natykach Nataliia
Oha! Es geht tatsächlich mit Bildern statt mit Worten weiter. Überraschend aber immerhin konsequent.
Viele Bilder, ein wenig Text, und dazu Musik … ist doch für jeden etwas dabei 😉
…oder wie es der – damals noch ungefickte – Goethe zu Anfang seines „Faust“ listig-komisch formuliert:
Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!
Solch ein Ragout, es muß Euch glücken.
Ganz Italien abgearbeitet ist eine imposante Leistung. Mir fehlen noch so einige Ecken des Landes. Ich hoffe ich habe bald wieder mehr Zeit zu reisen und zu entdecken.
Die Hotels und Restaurants sind in meinem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit weniger renommiert, aber Italien gehört trotzdem zu den Ländern, die ich am meisten bereist habe. Immer spannend warum man sich an bestimmten Orten besonders zuhause fühlt.
Es muss an der Übereinstimmung von eigenem Bewusstsein und Atmosphäre des Ortes liegen. Dessen kann man sich ja dann später Zuhause – auf dem Sofa auf dem Display – vergewissern. Aber Vorsicht: empfundene Stimmungen reisen genauso schlecht wie lokale Wein.
Und manchmal kommt man so einen Ort zurück und wundert sich, wie anders er sich (oder man selbst) unter anderen Umständen anfühlt.
Leben lernen hört nie auf. Mit Glück versteht man ein paar Sachen mit der Zeit besser und kommt leichter durchs Leben. Und irgendwann kommt der Moment wo man das Loslassen lernen muss. Einfach ist das alles nicht.
Fluch und Segen des Bewusstseins. Wer das nicht für Zufall halten kann oder will, nennt es: Gott.
Die einen haben eine schöne Stimme, die anderen etwas zu sagen. Beides hat seinen Wert würde ich sagen.
Herrlich, wenn beides zusammenkommt. Ist aber selten.
Sehr!
Auf Sizilien freue ich mich. Also auf den literarischen italienischen Nachtisch. Ich war vor 5-6 Jahren dort und wahnsinnig beeindruckt.
Ich freue mich über Ihre Freude. Sie wird allerdings noch eine ganze Weile Vorfreude bleiben.
Hahaha, ok ok, gut zu wissen.
Das Netz vergisst nichts! Sehr richtig. Ich habe mich schon so oft gefragt, ob dieses Detail der Allgemeinheit wirklich bewusst ist.
Mir ist das alles immer recht egal. Man kann sich ja nicht um alles sorgen. Auf der anderen Seite liest man ab und an Artikel über die Überwachungsmethoden in China oder schaut Black Mirror auf Netflix und kommt doch kurz ins Grübeln.
Leichtfertigkeit wird in der Regel ausgenutzt. Gelegenheit macht eben Diebe.
… Gott sei Dank aber auch Liebe.
hahaha, zunge raus auf’m foto geht immer 😉 sie liegen voll im selfie-trend!
Funktioniert allerdings nur mit Ironie. Die fehlt den meisten Influencern leider.
War Einstein ironisch oder bloß genervt?
Wenn man es nur wüsste. Werden nicht eh die meisten Situationen von aussen missinterpretiert?
Und überinterpretiert 😉
Das Totsein ist die Regel, das Leben die Ausnahme. Was für eine Einsicht.
Wer es bis zu dieser harten aber wahren Einsicht schafft ist immerhin schon sehr weit gekommen.