Wir fuhren so lange weiter, bis es wirklich nicht weiter ging. Die Straße endete in einem Parkplatz. Dahinter begann ein Gehweg, für mich ein Fahrweg. Rafał schob. Die Bodenbeschaffenheit war nicht sehr dammfreundlich. Meine Blase merkte das noch eher als mein Sitzfleisch. Ich wand mich aus dem Rollstuhl und versuchte, den Augenblick abzupassen, in dem weder von rechts noch von links Beobachter hinter der Biegung auftauchten, bevor ich mich hinter die Büsche schlich. Das Notwendige und das Mögliche sind nicht immer deckungsgleich, das wird besonders deutlich an meinem Pissverhalten.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zweimal fuhr ein Bus an uns vorbei, ziemlich neidisch sah ich ihm hinterher. An seiner Endstation ließen wir meinen Untersatz stehen. Rollstühle klaut man genauso wenig wie Weitsichtbrillen, hofften wir, weil man seine eigenen Maße für einmalig hält. Mit Rafałs Unterstützung schaffte ich es bis zum Leuchtturm: Kap Arkona, mit jährlich 800 000 Besuchern, jetzt war ich einer davon. Wenn ich bisher den Namen gehört hatte, dachte ich, das müsse irgendwo zwischen Südamerika und Südafrika liegen. Stattdessen war es nicht mal der nördlichste Punkt Rügens, der heißt Gellort, einen Kilometer weiter nordwestlich. 1977 war ich mit Roland und Harald in Portugal am westlichsten Punkt Europas gewesen: Cabo da Roca. Am Tag darauf hatten wir in Spanien gleich schon den südlichsten Punkt am Wickel. Solche Eindrücke finden sowieso nur im Kopf statt, der Natur bedeuten sie nichts.

Für den Rückweg zum Parkplatz fand ich die Kap-Arkona-Bahn (so heißt der Bus) attraktiver als Rafałs Geschiebe. Ich wusste nur nicht wie. Da ist Rafał unbefangener. Er hievte erst mich und dann den Rollstuhl nach drinnen und brauchte als Rollstuhl-Begleiter weder für sich noch für mich zu bezahlen. Da würden wir uns doch gleich ein etwas teureres Mittagessen leisten können.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Vorbei an Prora, das, finde ich, ein bisschen lateinisch klingt, jedenfalls nicht NS-germanisch, fuhren wir zurück nach Binz. Die Nazis hatten den Namen aber auch gar nicht erfunden. Prora lag, schon bevor es Prora gab, an einer weitläufigen Meeresbucht, der Prorer Wiek.

Es geschieht selten oder nie, dass Rafał auf einer Reise sagt: „Hier war ich noch nie.“ Dafür sagt er sehr oft: „Hier war ich mit Carsten.“ Ich kann es kaum glauben, aber er beweist mir durch Ortskenntnisse, dass es stimmt. So kamen wir tatsächlich, wie vorausgesagt, an ein einladendes weißes Haus am Meer, in dem Rafał mit Carsten vor etlichen Jahren gegessen hatte, und das taten wir jetzt auch. Ich trank zwei Schnäpse, Rafał als Fahrer nur einen.

Fotos (7): Privatarchiv H. R.

Silke hatte es sich inzwischen nicht bloß gemütlich gemacht. Sie war die ‚nach historischem Vorbild gebaute‘ Seebrücke entlanggegangen und mutig-übermütig in die Tauchgondel gestiegen. Über diese Attraktion informiert die Homepage des Ostseebades Sellin: ‚Die Fische, die uns sonst nur auf den Speisekarten der Rügener Fischgaststätten begegnen, wie Flunder und Aal sind hier als lebendige Wesen zu beobachten.‘1 Ich mag sie tot, glaube ich, lieber. Aber es stimmt schon: Im Sozialismus und im Nationalsozialismus mussten die Untertanen das fressen, was ihnen vorgesetzt wurde. Im Kapitalismus ist der Kunde König, und wer seine Bedürfnisse nicht weckt, der hat verloren. Wenn der König allerdings nicht zahlen kann, hat er selber verloren: sein Volk, sein Spiel, sein Glück. Gier ist unmoralisch, Gier zu erzeugen auch. Nur dass Genügsamkeit für jeden, der sie noch nicht erreicht hat, so schrecklich langweilig ist.

Ausruhen bis zum Abend. Von was eigentlich? In meiner Minibar steht noch ein Fläschchen Wodka. Ich will so gerne nichts wollen. Aber dann will ich doch wieder alles. Mein Gemüt radebrecht sich durch alle ihm halb bekannten Emotionssprachen, und dann muss ich mit dem Kauderwelsch leben, das dabei herauskommt. Meine Welt besteht nur noch in der Nichtverwirklichung meiner Träume. Da, wo ich es doch versuchte, sie umzusetzen, gelingt das bloß da, wo ich mir etwas vormache, also mich betrinke. Ich hasse unalkoholische Flüssigkeiten, aber ich trinke sie trotzdem manchmal, weil sie als gesund gelten.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Foto Lok: gemeinfrei/pixabay

Die meisten Schriftsteller waren Säufer. Schade, keine gute Ausrede, denn nur die wenigsten Säufer waren gute Schriftsteller. Als Teilaspekt von Dorothy Parkers Aussage ist das gleichwohl erwähnenswert. Geist und Körper – ich bin nicht sicher, ob sie sich leiden können. Bei mir eher nicht. Manchmal spielt mein Körper mir Streiche, meistens spielt er verrückt und immer die erste Geige. Mein Verstand klirrt nur noch selten als Triangel dazwischen. Seine Glanzlichter wollen trotzdem immer noch Akzente setzen und mir einreden, dass Lehren umzusetzen bis ganz zum Schluss möglich sei. Leben lernen. Ich habe gelernt, nicht immer gleich etwas lernen zu wollen. Ich habe mir den Ehrgeiz abgewöhnt, streberhaft und vorlaut immer das zu tun, was nicht geht und Tätigkeiten zu vermeiden, mit denen ich nicht angeben kann. Silke, Rafał und ich – wir sind so verschieden voneinander. Dass wir alle drei keinen Stockfisch mögen, ist fast schon unser größter gemeinsamer Nenner.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Genug! Es wird Zeit, in die Wirklichkeit oder in das, was von ihr übrig ist, zurückzukehren. Zum unvermeidlichen Nachtmahl zieht es uns wieder ins ‚Gran Café Italia‘, jedenfalls zieht es uns nicht heftiger an irgendeinen anderen Ort. Jaja, wer zweimal bei derselben isst …

Foto: Christin Klose/Shutterstock

Am nächsten Morgen war ich so wackelig auf den Beinen, ich sah mir beim Schwanken und Zittern zu und dachte: „Gleich fällt er.“ Trotzdem klappte der Bezahlvorgang so ordentlich, dass es fast aussah, als hätte ich alles unter Kontrolle. Silke war nicht recht anzumerken, ob sie besorgt oder empört war, und Rafał fuhr das Auto vor den Eingang.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wir verließen die Insel, und es freute mich, dass ich weder Reue noch Abschiedsschmerz empfand. Nicht beteiligt zu sein macht vieles leichter, aber auch unerheblicher. Rafał hatte Stralsund ja schon gesehen, vom Motorrad aus, aber Silke und ich sollten auch in diesen Genuss kommen. Das war nicht so einfach, weil, von wo auch immer man sich dem Zentrum näherte – überall begann die Fußgängerzone. Richtig so. Krüppel sollen zu Hause bleiben oder Rollstuhl fahren. Wer Rafał kennt, weiß: Irgendwann klappte es doch, irgendwas zwischen halb legal und halb elf. So konnten wir als erste Gäste des bestplatzierten Cafés auf der Straße sitzen und auf den Markt und auf hansestädtische Bauwerke gucken. Bedient wurden wir von einem netten Italiener, der gestern Abend eigentlich besser gepasst hätte. Ich weiß immer nicht: Soll ich mich fürs Kosmopolitische entscheiden oder fürs Originalgetreue? Stil lernen. Aber dann wurde es auch Zeit weiterzufahren.

Foto oben: ArTo/Fotolia | Foto unten links: pure-life-pictures/Fotolia | Foto unten rechts: R. S./Privatarchiv H. R.

So gelassen wie möglich erinnerte ich Rafał daran, dass ich nicht mit Kanister zur nächsten Tankstelle laufen könnte. Und Silkes Reisekostüm war das auch nicht zuzumuten. Rafał reagierte noch einen Tick gelassener. Und doch: Das Tanken wurde immer dringlicher, so dringlich, dass Rafał die Autobahn langentschlossen verließ, um den nächsten Ort anzusteuern. Der war wunderschön. Wie aus dem Magazin ‚Landlust‘, Sonderausgabe ‚Mecklenburg‘. Wie er hieß, weiß ich nicht mehr, und das erspart dem Flecken den Ansturm all meiner Leser aller Geschlechter.

Foto: gemeinfrei/pixabay

Mittags waren wir in Wismar, und da ist der ‚Alte Schwede‘ kein Geheimtipp, sondern das imposanteste Gebäude, 1380 erbaut, das gängigste Lokal rundum. Da saß ich schon oft drinnen und noch lieber draußen mit Blick auf alles, was wieder herausgeputzt war, und mit allen, die ich überreden konnte, mich zu begleiten. Dieses Mal wieder draußen, sogar unseren gut bepackten, gut geparkten Wagen im Blick, dahinter die ‚Wasserkunst‘ und die anderen Bürgerhäuser, seitwärts Sankt Nikolai. ‚Weltkulturerbe‘ alles zusammen. Der Himmel tiefblau, die Bratkartoffeln laut Speisekarte ‚deftig‘, die Stimmung entspannt. Abschied vom Osten. Immer noch denke ich in diesen Kategorien, die mehr als mein halbes Leben die Gegenwart bestimmten. Immer noch genieße ich den Triumph über ein Gesellschaftsmodell, zu dessen Untergang ich nicht beigetragen habe. Was lange Zeit unerreichbar war, ist jetzt nur eine Dreiviertelstunde weit entfernt. Mein Weltbild hat gesiegt, damals. Auch wenn es inzwischen bröckelt. Nichts hält ewig, nicht die Liebe, nicht der Hass, der Glaube nicht und auch nicht das All. Und ehe ich noch anfange, über Anfang und Ende im Allgemeinen zu schwadronieren, sind wir auch schon in Lübeck. Dabei ist dem Himmel das schöne Ostzonenwetter vergangen. Holstein empfängt uns trübe.

Foto: Privatarchiv H. R.

Fotos (7): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von: Nikiti/Shutterstock, gresei/Shutterstock

21 Kommentare zu “#2.47 Lebendige Wesen

  1. Also wer wirklich auf die Idee käme einen Rollstuhl zu stehlen … so viel Karma kann man in seinem Leben nie wieder gut machen.

      1. Nun ja, wenn man das Fahrzeug an der Bushaltestelle abstellt … Passieren kann grundsätzlich so ziemlich alles.

  2. Kosmopolitisch funktioniert irgendwie immer nur einseitig. Also wer mir meine Schweinehaxe in München serviert ist mir wurscht. Wird ein italienisches Restaurant in Frankreich aber von Vietnamesen betrieben fühlt man sich in der Regel um das Original betrogen. Oder ist das schon rassistisch gedacht?

  3. Nichts wollen, einfach sein … das klingt ziemlich buddhistisch 😉 Vielleicht muss nochmal ein Religionswechsel her.

    1. Hmmm, entweder erreicht man sein persönliches Nirvana oder man ist irgendwann tot. Weitere Möglichkeiten zum Nichtswollen fallen mir gerade nicht ein.

  4. Die Tauchgondel klingt abenteuerlich. Und sieht auch ein wenig so aus. Aber gleichzeitig natürlich eine nette Attraktion für den Ort.

  5. Ich lese zwar immer über ‚Nichts verwirklichen – nicht mehr teilhaben – nichts wollen‘ aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass Sie weitaus mehr erleben als der große Teil meiner Bekannten. Und ich folge dem Erlebten gerne.

    1. Es geht doch generell nichts über das Reisen. Ich hoffe sehr, dass ich das annähernd so lange schaffe wie Sie, Herr Rinke.

    1. Das tolle am Reisen ist ja auch, dass das Zurückkommen immer (fast) genauso viel Freude macht. Jedenfalls mir.

      1. Urggh, nein Zurückkommen gefällt mir ehrlich gesagt nicht besonders gut. Da ist der Alltag ja auf einmal wieder da.

      2. Zurück zu kommen von 30° in 13°, Fernsehen, Internet, Telefon und Licht funktionieren nicht – das braucht sehr viel Heimalliebe für die Freude. Immerhin: schon heute Abend, einen Tag später, ist alles geregelt.

      3. Probleme gibt’s natürlich immer. Ob bei der Ankunft im Hotel sowie beim Öffnen der eigenen Wohnungstür. Meine vier Wände, meine Stadt, meine Freunde geben mir trotzdem immer genügend Freude 🙂

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