Das Faustische habe ich immer in mir zu entdecken versucht und dachte meist: Armer Mephisto, an mir hättest du dir die Zähne ausgebissen. In Wahrheit hätte Mephisto seinen Spaß an mir gehabt: Wie oft habe ich für einen durchgeknallten Augenblick alles riskiert! Aber bis auf den heftigen Schlaganfall ist mir nie etwas Schlimmes passiert, immer nur den anderen. Gerechterweise habe ich unter den Verlusten geliebter Menschen so gelitten, dass mein ewiges Ziel einer Unbeschwertheit selbst im Paradies nicht mehr denkbar ist. Und hier, vorher? Diese ständige Angst vorm Orgasmus, also vor der Lustlosigkeit, die anschließend kommt. Also doch wieder Faust: ‚So tauml ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht ich nach Begierde‘. Treffender als Goethe, den ich als aufbrausender Revolutionär so ums Jahr 1800 in seinem Spießer-Weimar gern schamlos und ungerecht provoziert hätte, kann keiner es ausdrücken.
Na ja, Zeit für einen Snack. Wo der Appetit fehlt, beginnt die Pflichterfüllung. Für den Abend habe ich eine ‚Bistecca alla fiorentina‘ bestellt. In der Toskana muss das einmal sein, gehört einfach dazu wie Krabbenbrötchen bei ‚Gosch‘ auf Sylt oder Kamelaugen beim Scheich im Wüstenzelt.
Am Nachmittag traute ich mich ins warme Wasser. Unter Rafałs Anleitung machte ich ein paar unbeholfene Schwimmbewegungen und tastete mich ängstlich durch den Sud. Ich lehnte mich am anderen Ende des Geländes gegen den Fels und ließ die Sturzbäche aus der Brause über meinen schwankenden Körper prasseln. Wenn ich noch gläubig wäre, dächte ich: Mein ganzer Jammer ist mir geschenkt, um mich demütig zu machen. Ja, mein Hochmut war immer grenzenlos. Meine körperliche und geistige Beweglichkeit führte dazu, dass ich die an Leib und Seele Lahmen missachtete.
Als ich mich auch nach Jahren nicht mit Rolands Tod abfinden mochte, sagte Irene: „Dir fehlt Gottvertrauen.“ Und Pali sagte: „Dir fehlt Demut.“ Seither habe ich angefangen, meine Trauer Trotz zu nennen, beibehalten habe ich sie trotzdem. Nie werde ich meinen Katholizismus ganz abstreifen. Was mir Schlimmes passiert, kann ich nie aufhören, als Strafe zu empfinden. Auf diese Weise merke ich, wie wichtig ich Gott bin; gleichzeitig wehrt sich mein Verstand dagegen, das Leben als pädagogische Veranstaltung zu betrachten. Alles, was ich erlebt, erreicht, erfahren habe, wird mit mir sterben. Jetzt dient es mir dazu, die Welt um mich und mich in ihr aufmerksam zu beobachten. Das muss reichen als Lohn. Egal, was kommt, mein jetziges Bewusstsein werde ich hinter mir lassen, und so kann es mir egal sein, ob ich dereinst an einem Herzeleid eingehen oder in den Weltgeist eingehen oder doch nur den Boden düngen werde.
Nach dem Aperitif im Ambiente, das den Preisen angemessen war, drohte das tote Tier. Es ist außen kross und innen blutig, schmeckt fabelhaft und hätte von mir aus auf der Weide stehen bleiben können. Nach vier herrlich salzigen Bissen ist nun mal Schluss bei mir. Dass ich nie Durst habe, wird allenfalls offenbar, wenn Silke mich ermahnt, dem Wein, der durch meine Kehle fließt, von Zeit zu Zeit ein Glas Wasser hinzuzugesellen. Dass ich nie Hunger habe, merkt jeder, der das Abräumen meines prallen Tellers eine Woche lang verfolgt, was außer meinen Begleitern Gott sei Dank niemand tut.
Silke zog sich zurück, an den Boutiquen vorbei in ihr Privatim. Rafal durchstreifte die Gegend, die außer Nachtigallen und Fröschen nichts zu bieten hatte. Aber: Rind mit Rosmarin für den Mund, Vollmond mit Sternenhimmel für die Augen, Vögel und Lurche für die Ohren, Schwefel für die Nase, Frieden fürs Gemüt – reicht doch!
Morgens fehlt mir die Zuversicht, abends bin ich aufgekratzt, weil ich mir dann nichts mehr abverlangen muss, und ich fühle mich derart mutig, dass ich denke, ich könnte sogar dem Tod ins Auge blicken. Aber er hat ja keins. Er ist blind.
Das ist tatsächlich das, was ich an der Jugend am meisten vermisse: die Leichtigkeit. Nicht die glattere Haut, nicht die Energie zwei Nächte durchzutanzen oder dreimal hintereinander zu ficken…sondern unbeschwert durch’s Leben zu gehen. Einmal verloren, nie wieder zurückzugewinnen.
Alter bringt natürlich auch Reife und eine Unmenge an unersetzlichen Erfahrungen, aber die verlorene Jugend kann das niemals nicht aufwiegen. Völlig wahr. Aber was soll man dem hinterher weinen. Es nützt ja doch nix. Das Leben geht weiter und weiter, ob man will oder nicht.
Man muss immer auf irgendwas Lust haben. Auf Essen, auf Trinken, auf Sex, auf Ausgehen… wenn nach vier herrlichen Bissen der Appetit getilgt ist, ist das doch wunderbar so. Ob deswegen ein totes Tier auf den Teller muss…darüber kann man sich natürlich ausgiebig streiten.
Es stimmt: bei den schlimmen Wahrnehmungen kommt gleich nach Angst, Schmerz und Jucken die Lustlosigkeit. Lust auf einen lebendigen Menschen oder ein totes Tier zu haben, ist ein aufbauendes Gefühl, das mir zeigt: ich will etwas! Befriedigen muss man die Lust ja nicht. Dass sie da ist, reicht.(Theoretisch …)
Lust ist etwas tolles. Und Lustlosigkeit auf derselben Stufe wie Gleichgültigkeit. Was ich sagen wollte ist allerdings, dass einem ständig eingeredet wird auf was man alles Lust haben MUSS. Von der Werbeindustrie, von Freunden, von der Familie, von (eh schon neidischen) Arbeitskollegen… Ich hab‘ allein schon genügend Lust. Danke.