Schon im Hamburger Winter hatte sich herausgestellt, dass es das Hotel ‚Grotta Palazzese‛ nicht mehr gab. Silke, rührig wie immer, hatte einen Ersatz-Vorschlag, der mir gefiel, und so befanden wir uns also am Donnerstagmorgen gegen halb zehn erst auf dem Weg zu und dann auf der Suche nach dem Hotel ‚Borgobianco‛. Die Navifrau war total überfordert. Als wir das Zentrum von Polignano das dritte Mal ansteuerten, hatten wir ihre Hilflosigkeit satt und fragten an einer Tankstelle. Die Straße, die nicht auffindbar gewesen war, gehörte seit Neustem zu einem anderen Ort als bisher; ich begriff es nicht so ganz, aber nach einer solchen Bootsnacht ist man ja auch eher ruhebedürftig als abenteuerlustig. Immerhin, mein Argwohn war unbegründet: Wir fanden die Ampel, an der wir links abbiegen sollten und über etwas, das mit dem Wort ‚Weg‘ sehr schmeichelhaft beschrieben ist, die Auffahrt zu unserem Hotel. Das allerdings war die Anreise wert.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Mehrere weiße Gebäude, so dass ich ‚Maurisch!‘ dachte, und da auch mehr an Scheiche und Emire als an Bettelvolk. Wir wurden formvollendet begrüßt und darüber informiert, dass wir unsere Räume noch lange nicht würden beziehen dürfen. Die fluchtähnliche Zimmerlosigkeit war uns ja vom Vortag in Dubrovnik her geläufig, aber hier hatte ich diese Misslichkeit ins Programm einbeziehen können. Wenn ich von Amerika nach Europa, aber nicht nach Hause flog, buchte ich das Hotel immer schon für den Vortag. So konnte ich mich um sieben Uhr morgens, frisch eingetroffen, ins jungfräuliche Bett legen und bis gegen Mittag das nachholen, was mir über dem Atlantik an Nachtschlaf entgangen war. Dermaßen geschult war ich gewitzt genug gewesen, um auch hier geeignete Maßnahmen zu ergreifen, in diesem Fall, um schon von Hamburg aus Alberobello als Tagesausflug einzuplanen. Das bedeutete: Unsere Koffer gerieten in die Abstellkammer und wir wieder auf die Landstraße.
Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Marcok di it.wiki/Wikimedia Commons, Trulli Alberobello11 apr06, CC BY-SA 3.0
Alberobello ist berühmt für seine Trulli. Mit Harald hatte ich sie mir bereits 1974 angeguckt und fand, dass ich sie 42 Jahre später auch meinen Reisebegleitern zeigen sollte. Bei mir heißt ‚Zeigen‘ heutzutage, dass ich sage: „Geht mal!“, und selber sitzen bleibe. Alberobello gehört zwar zum UNESCO-Weltkulturerbe, hat aber, bemäkelt Wikipedia, ‚durch den Touristenansturm viel von seinem ursprünglichen Reiz verloren‘. Also, der Sturm hielt sich in Grenzen. Wir fanden sogar einen Parkplatz, von dem aus ich eine ganze Trulli-Straße und in der entgegengesetzten Richtung den Ku’damm von Alberobello beschreiten konnte. Er ist vier Meter breit, war für Autos gesperrt und verfügt über so viele Buden, dass sie den gesamten ‚Touristenansturm‘ problemlos mit Kopf- und Brustbedeckungen versorgen konnten. Gleich am Anfang dieser Meile gab es eine Terrassenbar mit schattigen Plätzen. Am letzten freien Tisch konnten Silke und Rafał mich ablegen und den weiteren Verlauf der Gasse unbeschwert erforschen.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
In Deutschland kennen Hausfrauen ‚Trulli im Beutel‘ als eine Frischei-Nudelsorte der Firma Birkel; eine meiner Kolleginnen bei der ‚Deutschen Grammophon‘ nannte auch die Frau unseres Chefs so, und Pali, der häufiger dort eingeladen war als ich, fand die Bezeichnung absolut zutreffend. Ich filmte die Direktorengattin 1983 bei 30° im Schatten, im Nerzcape, im Anmarsch auf das Salzburger Große Festspielhaus und verfüge somit über ein Dokument, das belegt: Sie war Trulli im Beutel. Damit hat allerdings das Weltkulturerbe wenig zu tun. Trulli in Apulien sind zwar genauso rund wie sie, aber viel weißer gestrichen.
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Giangirolamo II. wollte im 17. Jahrhundert nicht gern die Steuern zahlen, die es im Königreich Neapel kostete, eine neue Ortschaft zu gründen. Deshalb wurden alle Neusiedler von ihm dazu angehalten, die Bauweise der Trulli zu beherzigen. Wenn sich eine Kontrollkommission ankündigte, dann wurden die Dächer auseinandergenommen, so dass man doch die ‚armselige Ansammlung von Wänden‘ nicht als Siedlung bezeichnen konnte, argumentierte der Conte. Mörtel durfte laut Absprache nicht verwendet werden: Die Trulli sind nur aus Steinen zusammengefügt und anschließend gekalkt. Ein frühes Steuer-Sparmodell, das jetzt für Einnahmen sorgt.
Als Silke und Rafał zurückkamen, hatten sie, wie eigentlich immer, interessante Kleidungsstücke aufgetrieben, aber auch das Lokal, das ich für unser Mittagessen ausersehen hatte. Ich hatte in derselben Zeit zwanzig Seiten ‚Spiegel‘ geschafft und darüber gelesen, wie Erdoğan nach dem Putsch auf- und abgeräumt hat.
Foto: Privatarchiv H. R.
Das Lokal hieß ganz schlicht ‚La Cantina‘; draußen konnte man nicht sitzen, aber das hatte ich ja eben schon getan – im Gegenteil, wir mussten ein paar Stufen runtersteigen: ‚Souterrain‘ nennt man einen Keller wohl, wenn man höflich ist. Wir bekamen unseren Tisch, das Lokal war winzig und schön unambitioniert. Endlich wieder mal eine gut lesbare Speisekarte, weder in Kroatisch noch in Menu-Englisch, sondern in waschechtem Italienisch. Einige Begriffe blieben rätselhaft; das waren wohl apulische Spezialitäten. Ich war begeistert, auch von den niedlichen Portionen, andere nicht so. Eine Gruppe erwischte den Tisch vor uns, nachdem die Voresser gegangen waren. Der Familienvater bestellte Wasser und studierte die Karte. Fisch gab es nicht, warum auch, tief im Inland? Daraufhin bezahlte der Tonangeber das Wasser, griff sich die Flasche und marschierte mit seinem Anhang hinaus. Hartmut hätte noch die Grissini eingesteckt. Den Kommentar einer weiteren unzufriedenen Fleisch-Abstinenzlerin übersetzt ‚TripAdvisor‘ so: ‚Ich bestellte mir was ich schon dachte, dass würde eine tolle Vegetarier Gericht kommen, aber das, was ich bekam, war eine Pfütze von versalzenes Spinat, Ei und Mozerella mash. Es war ekelhaft. Wie kann ein Koch kann, der sich zu einem Tisch senden ist erstaunlich!‘
Wir hingegen waren froh, sogar darüber, dass wir nicht draußen saßen; denn wie von ungefähr tobte ein Gewitter los. Der ‚Wikipedia-Ansturm‘? Der Ku’damm hatte aufgehört, Markt zu sein, und Rafał konnte mich und die frisurbedingt wasserscheue Silke sogar mit dem Auto abholen. Durch Sturzbäche wanden wir uns über die Hügel zurück zum ‚Borgobianco‘ – dort war der Himmel strahlend blau, das Land knochentrocken und das Zimmer für jeden von uns bereit zum Empfang.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Zu unseren Räumen in den kubusförmigen Gebäuden der Anlage führten Außentreppen, deren Mauerwerk rechts und links das Geländer ersetzten: für Beinkrüppel eine Mutprobe. Früher ging ich Treppen hoch. Pali verbot mir das. „Treppen geht man rauf“, belehrte er mich. Ich sah es ein: ‚hoch‘ ist schon oben. Man geht ja Treppen auch nicht ‚tief‘, sondern (her)runter. Solche Ablenkungen erleichtern das Überwinden von Stufen. Denn wenn man zu viel darüber nachdenkt, wie man das Fortschreiten anstellen soll, dann bekommt man wie der von einem ulksüchtigen Gott mit Intelligenz gestrafte Tausendfüßler keinen richtigen Schritt mehr vor den anderen. Den rechten Fuß, den linken Fuß. Ich habe mich nicht in der Gewalt, nicht mehr. Vielleicht war das schon immer so, aber ich musste es mir früher nicht anmerken lassen. Ach, Gewalt liegt mir ohnehin nicht besonders. Gewaltenteilung ist das, was ich an der Demokratie am meisten schätze, viel mehr als das Wahlrecht für Idioten. Wir sind oben, Rafał musste mich nicht mal auffangen.
Die Zimmer waren groß und weiß, die Bäder auch. Vom Balkon aus sah ich über die helle Poolanlage und viel ockerfarbene Erde mit einzelnen Olivenbäumen: weit, so weit – bis auf das Meer am Horizont. Schön und beruhigend.
Siesta. Ich hatte erfahren, dass es die ‚Grotta Palazzese‘ sehr wohl noch gibt, aber nicht mehr als Hotel, sondern nur noch als Restaurant. An der Rezeption hatte ich darum bitten wollen, einen Tisch für ‚heute Abend‘ zu bestellen, wurde aber darauf aufmerksam gemacht, dass gerade donnerstags das große Essen mit folkloristischen Darbietungen stattfindet, und das wollte ich meinen Mitreisenden doch unbedingt gönnen – so richtig apulisch! –, obwohl ich selbst derartigen Abend-Auflockerungen eher skeptisch gegenüberstehe; denn so sehr ich eine gewisse Art von banger Vorfreude zu schätzen weiß, weil sie das Ereignis selbst meist in den Schatten stellt, so sehr verabscheue ich – von mir hier zurecht befürchtete – Überraschungen, besonders, wenn sie nicht vom Wetter, sondern von Freunden ausgeheckt wurden. Dann ist man gezwungen, unbedingt Freude zu zeigen, egal, ob echt oder geheuchelt. Das ist wie beim ersten Anblick eines Kleides, wenn die Freundin erwartungsfroh sagt: „Hab’ ich neu …“ Noch schlimmer: Sie sagt gar nichts und wartet kokett ab. Da ist es dann ja auch eher stimmungstötend als wegweisend, Ehrlichkeit tugendhaft zu finden und wohlmeinend darauf hinzuweisen: „Also, das steht dir ja nun so gar nicht!“ Solch eine Aussage ist jenseits der Ladenkasse oder bei Onlineware jenseits von Umtauschmöglichkeit, geschweige denn -wille, wenig beziehungsfördernd. Auch dass viel zu viel Senf in den Klopsen war, äußere ich gegenüber der Bratsperson in meiner Küche nicht am Tisch, sondern frühestens, wenn der letzte Gast in der Taxe sitzt.
Foto: Petar Milošević, TAXI, CC BY-SA 4.0/Wikimedia Commons
Meine (subjektive) Wahrheit in solchen Fällen gegebenenfalls zu unterdrücken, darin bin ich ziemlich geschult, also grundkonservativ. Auch wenn jemand anfängt, einen Witz zu erzählen, besinne ich mich bereits bei seinem ersten Satz auf mein antrainiertes Lachen, um rechtzeitig bei der Pointe loszuprusten, selbst wenn diese Pointe doof ist oder ich sie kenne. Genau wie bei den meisten Krimis ahne ich, welterfahren wie ich bin, sowieso bald, worauf die Sache hinauslaufen wird: Das macht das Alter so überschaubar. Na ja. Hätte ich mit zehn schon gewusst, wie löchrig der Katholizismus ist, wäre mir einiges erspart geblieben. Hätte ich mit zwanzig schon gewusst, was aus der Sowjetunion wird, wäre ich noch rechthaberischer geworden als ohnehin. Leider kenne ich immer noch Menschen, die dem Nonnenwitz-Erzähler ins Wort fallen und kennerisch sagen: „Das war ja gar nicht der Missionar, das war der Affe!“, aber natürlich bin ich nicht mehr befreundet mit ihnen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Nach solch reiflichen Überlegungen wurde es Zeit, den Speiseraum aufzusuchen. Silke wartete schon. Der Lärm war beträchtlich. Als wir aus dem Fahrstuhl traten, war er überwältigend. Eine aufgetakelte, abgetakelte Spanierin (?) brüllte wie am Spieß Andalusischer: Stampfen, Kastagnetten, Gitarren, Tamburine – das volle Programm, über Lautsprecher wie ein Sandsturm durchs Buffet geblasen. Buffet! Das finde ich ja schon schlimm, wenn es mucksmäuschenstill ist. Ich will am Tisch sitzen und etwas gebracht bekommen. Hier allerdings nicht. Nach drei Minuten stand ich trommelfellgeschädigt auf und wunderte mich sehr darüber, dass die tauben Nüsse an den anderen Tischen sich darüber wunderten. Der Affe, das war der Affe! Silke und Rafał wunderten sich natürlich nicht. Ihnen war es schon verdächtig vorgekommen, dass ich mich angesichts der kalten Platten-Gelege und der heißen Carmen-Ruine überhaupt an einen Platz hatte bringen lassen und zogen, erschrocken über meine scheinbare Willfährigkeit, Zerfallserscheinungen in Betracht. Konzilianz? Demenz? Nein, noch nicht! Ich sah mir, durchaus eingenommen von mir, dabei zu, wie ich aufstand – den Stock mit dem Silberknauf fest im Griff – und wie ich dann an der Spitze meines Zweimann-Gefolges mit festem Schritt zurückkehre zum Fahrstuhl, irgendwie majestätisch.
Aufsehen erregte es schon. Der Oberkellner kam angestürzt, ich äußerte etwas, das mehr erklärend als beleidigend klingen sollte, und er schlug – erregt, aber nicht außer sich – vor, wir sollten uns von der Karte aussuchen, was wir wollten, er würde es uns nach unten bringen in die Bar. Und das tat er auch. Wir saßen in ziemlicher Ruhe: Alles war so weiß, das Essen war so gut – alles hatte Klasse. Vielleicht war es ja doch der Missionar und nicht der Affe …
Ihre Abscheu gegenüber (geplanten) Überraschungen kann ich sehr gut verstehen. Ich musste gleich an ein Sprichwort denken: ‚Manchmal ist eine Überraschung überraschender für den Überrascher als für den Überraschten.‘ Es ist doch tatsächlich die von Ihnen ebenso thematisierte Vorfreude, die in der Regel den Großteil des Vergnügens ausmacht. Und von dieser bekommt der Überraschte in der Regel ja nun leider nichts ab. Das Planen von Überraschungen ist somit wohl eher ein zugegebenermaßen wohl gemeinter Ausdruck von Selbstsucht.
P.S. Es mag in dieser Art von Blog vielleicht doch ein wenig zu weit führen, aber an ihrer Meinung zu den diversen Auf- und Abräumaktionen von Herrn Erdoğan wäre ich in der Tat interessiert.
Aber Herr Serner, was wäre denn ein Leben ohne Überraschungen?! Wie würden wir uns alle langweilen!
@Frau Buchmann: Es geht hier doch um Überraschungen, die von Freunden organisiert werden. Vom Wunsch nach einem überraschungsfreien Leben wurde doch weder von Herrn Rinke noch von Herrn Serner gesprochen…
@Herr Rinke: Ich wünschte mir würde das antrainierte Lachen ebenso einfach gelingen wie Ihnen. Der Brauch des Witzeerzählens beim gemütlichen Beisammensein war mir schon immer ein Graus.
Das Ärgerliche: Witzeerzähler haben selten Humor. Alle, die wirklich komisch sind, sind melancholisch oder gar depressiv. Humor setzt das Ertragen des Scheiterns voraus. Gelingen ist nie lustig.