Eigentlich hatte ich am Sonntag im ‚Boutique Hotel Alhambra‘ eintreffen und am Montag wieder abreisen wollen. Mit einer Woche dazwischen. Dann fand ich aber Sonntag bis Sonntag formal befriedigend genug. Es war ohnehin der längste Aufenthalt der Reise, die einzig geplante Neuentdeckung, und es war gut, dass es so gut gewesen war.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Als Lošinj noch zu Österreich-Ungarn gehörte, hätte ich hier wohl nicht sein mögen, und auch Kaiserin Sisi verbrachte ihre Zeit lieber auf Korfu: Damals gab es auf ‚Lötzing‘, später italienisch ‚Lussino‘, nur Einöde mit Küste. Jetzt aber war dieses Hotel – und nichts sonst – eine Reise wert gewesen. Na ja, vor fünfzig Jahren hätten mir der Pinienduft und das blaue Meer vielleicht gereicht, und ich hätte mir auf einem der vielen Campingplätze Mühe gegeben, die Leute mit Kindern im Nachbarzelt auszuhalten. Jetzt ist das Leben schwer genug, und ich muss das, was ich mich auszuhalten traue, dosieren wie eine gefährliche Droge. Schlecht zumutbar für uns alle drei fand ich die Idee, neun Stunden Fahrzeit bis Dubrovnik zu verkraften. So fahndete ich nach einem Ort, an dem wir übernachten konnten, ohne dass klar würde, wie willkürlich er gewählt war. Split sah auf dem Bildschirm nicht verheißungsvoll genug aus; ich ahnte gleich all die Schwierigkeiten, die es zu bieten hatte, davon morgen mehr. Dann stieß ich auf Zadar.
Zadar war schon eine Siedlung der Illyrer. Viel weiß man von denen nicht, macht nichts, im 2. Jahrhundert vor Christus unterwarfen sowieso die Römer die Stadt. Nachdem das weströmische Reich sich in die Geschichtsbücher verabschiedet hatte, wurde Zadar Hauptstadt Dalmatiens. Aber dann ging es erst richtig los: Erst war es fränkisch (Nürnberg gab es da noch gar nicht), zu Beginn des 9. Jahrhunderts wurde es byzantinisch, später venezianisch. Die Eroberung von Zadar 1202 hat Tintoretto mehr als 300 Jahre später aus dem Gedächtnis gemalt – wäre man nicht gern dabei gewesen?
Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei
Die Stadt war offenbar allseits beliebt: Mal war sie ungarisch-kroatisch, dann wieder venezianisch. Ladislaus von Neapel war drolligerweise ungarisch und verkaufte im Jahre 1409 Zadar für 100.000 Dukaten an Venedig. Finde ich preislich in Ordnung. Bis 1797 war Zadar die Hauptstadt der venezianischen Doppelprovinz Dalmazia e Albania. Dass mit Venedig 1797 Schluss war, sagte ich schon. Zadar kam an Österreich, zur Napoleon-Zeit natürlich an Frankreich, von 1813 bis 1918 zurück an Österreich, als Garnisonsstadt der K.-u.-k.-Armee. 1920, als Folge des Ersten Weltkriegs, man ahnt es, ging Zadar an Italien, das es nach dem Zweiten Weltkrieg, auch das ahnt man, an Jugoslawien abtreten musste, woraufhin den Italienern, die nicht gleich verschwanden, das Foibe-Massaker (siehe #15) schwierig zu überlebende Probleme bereitete. 1991 griff die Jugoslawische Volksarmee Zadar aus der Luft und mit Artillerie an. Die Belagerung dauerte bis zum 22. Januar 1993, als die kroatische Armee die Verbindung von Zadar mit Zagreb hinbekam. 1995 erst wurde die staatliche Gebietshoheit wiederhergestellt. Junge, Junge! Welche Ortschaft hat das zu bieten? Dabei habe ich das meiste schon weggelassen, und gewusst hatte ich nichts davon.
Krieg, Sieg und Niederlage: So läuft das nun mal. Der Einzelne leidet, und einige wenige wähnen sich an einem Ziel, für das ihre Enkel nicht einmal mehr Verständnis aufbringen werden. So ein Geschubse! Hin und her. Und es ist klar: Das hört nie auf. Die Menschheit wird es nicht schaffen, das zu ändern. Syrien, Ukraine, Afghanistan. Gut, wenn man nicht zu den Betroffenen gehört. Betroffen bin ich trotzdem. Müssen sich unsere Nachkommen von den Robotern beibringen lassen, friedlich zu werden – also geknechtet?
Dieser Frage gingen wir aber nicht nach, sondern wir folgen Frau Navis Vorschlägen, wie Zadar und überhaupt erst mal das Festland zu erreichen sei. Unerwartet früh erreichte uns ein Stau (er fand, wir erreichten ihn). Wir wussten nicht, was er von uns wollte, und das macht ja immer unruhig: Verkehrsunfall? Bombendrohung? Dritter Weltkrieg? Auf dem Balkan ist alles denkbar. Rafałs flinke Beine klärten uns darüber auf, dass die Brücke, die wir überqueren mussten, in der Luft hing. Sie gewährte Segel- und sonstigen Booten die Durchfahrt vom offenen Meer irgendwo anders hin, was mir nicht ganz so einleuchtete wie der Suezkanal, zu dieser vormittäglichen Zeit schon gar nicht, aber es trotzdem hinzunehmen, war wieder mal die einzig sinnvolle Möglichkeit und gleichzeitig eine gute Vorübung auf die Wartezeit, die uns bevorstand, um von Cres mit der Fähre nach Krk zu kommen. Der Name dieser Insel hat mich beschäftigt, seit ich ihn das erste Mal gelesen hatte. Das italienische ‚Veglia‘ und das österreichische ‚Vegl‘ sind nicht halb so schön, vor allem, wenn man, wie ich es selbstredend tat, wirklich KRRRRRK sagt und nicht etwa unsportlich mit ‚Kirk‘ schummelt. Ähnlich gut gefiel mir allenfalls das Örtchen oberhalb von Mary: ‚Gfrill‘, wobei das i etwas stört. ‚Bcdfghk‘ sieht, finde ich, auch ziemlich kroatisch aus, obwohl es nur die ersten Buchstaben des Alphabets ohne Vokale sind.
Derartige Flausen konnte ich mir eine Stunde lang im Kopf rumstromern lassen, während wir für die Überfahrt anstanden. Sollte es mich jemals wieder ins ‚Alhambra‘ ziehen, dann muss es, wie ich das von James Bond gewohnt bin, mit dem Hubschrauber sein, wohl ab Rijeka – hieß italienisch ‚Fiume‘ und zu Österreichs Zeiten ‚Sankt Veit am Flaum‘, klingt das nicht wie Kaiserschmarrn? Vorbei, vorbei. Die Warterei auch, und von Krrrrrk zum Festland gibt es eine Brücke – Gott sei Dank, Tito auch! Die Brücke wurde 1980 eröffnet und war bis 1996 die längste der Welt, bis sich die Chinesen vordrängelten. Nun hatten wir also wieder Festland unter den Rädern und den Blick auf Inseln, die versonnen in der Adria lagen. Nach dieser umständlichen Anreise und der gewussten Entfernung nach Dubrovnik bekam ich von mir ein Sonderlob für manövergerechte Planung. Ich war sehr geschmeichelt und berührte die Zähne des Kommandanten scheu mit meiner Zunge.
Foto: MaciejPie, Zadar-przystan/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Am Nachmittag erreichten wir Zadar. Das gibt es nicht! Gegenüber dem Hotel gab es einen Parkplatz. Gibt es doch … Das Hotel lag auf der einen Seite der Bucht an einer stillen Straße, gegenüber ging die Stadt weiter: Es war, auf Hamburger Verhältnisse übertragen, so, als blicke man vom ‚Vier Jahreszeiten‘ auf den Ballindamm. Der Manager war hilfsbereit und von einer Geschmeidigkeit, die heterosexuellen Männern fremd ist. Wir ließen uns nicht nur unsere Zimmer, sondern auch die Restaurant-Terrasse zeigen, mit Blick nach unten; aber am schönsten war die City-Beach, gegenüber dem Hotel: eine begrünte Anlage, direkt am Wasser. Man konnte in Liegestühlen oder Sofas lümmeln oder an Tischen alles trinken, was man wollte. Chillen also. Silke und Rafał leisteten mir auf einen Espresso oder so Gesellschaft, bevor sie aufbrachen, um all das von der Stadt zu sehen, was die Geschichte übrig gelassen hatte, und um nicht vorlaut zu sein, hatte ich ihnen nicht mal das Wenige mit auf den Weg gegeben, das ich eben aufgeschrieben habe. Ich wusste, sie würden spontan Eindrücke sammeln, und ich würde mir meinen Teil denken müssen.
Foto: Böhringer Friedrich, Narodni trg Zadar/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.5
Der Spätnachmittag strahlte trotz trompetender Hitze so viel Gelassenheit aus! Menschen waren da und taten nichts, eine wohltuende Belanglosigkeit. Auf der Seite gegenüber der Verkehr, den man sah, aber nicht hörte, hier die Zeitlosigkeit des Müßiggangs, der weder von den Illyrern noch von Ladislaus aus Neapel etwas wusste oder wissen wollte. Schreiben mit den Fingern kann ich ja nicht mehr. Musste ich halt wieder mal rumdenken. Es tut gut, Menschen dabei zuzusehen, nichts zu wollen. Keine Höhepunkte. Kein Aufbegehren, kein Sturm auf eine unverteidigte Bastille am Ufer rechts der Seine oder auf eine heiß begehrte Schöne links am Nebentisch, nur Sonntag und das leise Summen einer vertrauten Musik, die mal Hit war und jetzt Allgemeingut ist. Es können ja nicht alle Menschen in jedem Augenblick darüber nachdenken, warum es sie gibt. Es wäre verkehrt, sie für ihre Unaufmerksamkeit zu verachten: Vielleicht suchen sie gerade in Aleppo nach etwas Essbarem oder in San Francisco nach etwas Fickbarem. Soll ich sie beneiden? Solange ich Fragen wichtiger finde als Antworten, bin ich dazu nicht bereit.
Ich setzte mich an einen anderen Tisch. Die Sonne stand tiefer, ich konnte sie ertragen und ich wunderte mich darüber, dass ich durchaus noch etwas brauner werden wollte, obwohl ich nicht mehr glaube, dass irgendetwas mich attraktiv machen kann und ich niemanden mehr brauchen will, der mich attraktiv findet. Die Ebene ertragen, die Gipfel nicht vermissen. Dieses Für und Wider von Höhepunkten muss ich hier, wo nichts irgendwohin strebt, klären, um dann bis zum Ende des Palavers nicht mehr darauf zurückzukommen: Also los!
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich weiß noch genau, einmal bekam ich nach heftiger Vorarbeit einen Orgasmus, der gar nicht enden wollte. ‚O Gott‘, dachte ich, ‚wenn das jetzt ewig so bleibt!‘, da hörte er endlich doch auf. Kein Mann wird schwul, nur weil der männliche Orgasmus nachprüfbarer ist als der weibliche, obwohl, wenn es Veranlagungen nicht gäbe, das ein gutes Argument wäre. Im Film stöhnt die Geliebte, und der Bösewicht ist zufrieden, dabei hat sie nur so aufgewühlt getan und die Papiere längst für den wahren Helden aus dem Safe geklaut. Das Gestöhne ist sowieso oft wertvoller als das Erlebnis. Schon als ich Mitte zwanzig war, habe ich das karikiert und gesagt: Man muss einen Scheinorgasmus vortäuschen, besonders, wenn man einen echten hatte.
Da ein ewiger Orgasmus grauenhaft wäre, ist es notwendig, sich den Zustand von Orgasmus bloß vorzustellen, ohne ihn durchleiden zu müssen. Dasselbe gilt natürlich für alle Paradiese, weil man zwar ewig schön und klug, aber nicht ewig glücklich sein möchte. Da fehlt irgendwas, und dass man nicht weiß, was, das macht das Leben spannend, spätestens ab dem Zeitpunkt, da man genug zu essen hat, also die Möglichkeit nachzudenken. Also, wenn auch ich so darüber nachdenke: Eigentlich will ich doch den permanenten Orgasmus. Für mich und für alle.
Foto: Palauenc05, Kathedrale St. Anastasia/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0
Die Sonne sank. In Triest hatte ich beteuert, ich würde die ganze Reise über nicht mehr in der Situation sein, wartend herumzusitzen. Und ich saß ja hier geschützt, gleich am Auto, gleich am Hotel; der zweite Negroni machte dem ersten den Platz in meinem Fühlen streitig. Jeder stirbt für sich allein. Aber niemand ist eine Insel. Das Leben verlangt nichts, als ausgehalten zu werden, und wenn man keine Skrupel hat, sich zu versündigen, dann träumt man sich in einen Syrer hinein, der auf Kos gelandet und voller Hoffnung ist, um nicht an die bedrohliche Speisekarte denken zu müssen, die einem in weniger als zwei Stunden ihre unbarmherzigen Forderungen aufdrängen wird.
Silke und Rafał kamen zurück. Ihre Eindrücke waren schön, sagten sie; mein Gefühl von Bedrohtheit hatte noch keine klinischen Formen angenommen. Mag sein, dass unser Hotel-Restaurant das beste in Zadar war. Der Tisch war gut, das Essen war gut, und die Menschen um uns herum sahen aus, als ob sie sich leisten könnten, hier zu sein, ohne sich in der kommenden Woche einschränken zu müssen. Wir feierten, dass wir da waren, bevor wir in das entwichen, was die Nacht uns zu bieten hatte: mir mein adrettes Zimmer. Dort überließ ich mich meinen Träumen, nicht mehr auf der Insel, aber sonst wie immer.
Bewunderung für Ladislav von Neapel. der die Stadt immerhin zu einem ordentlichen Preis verkaufte -im Gegensatz zu Chruschtschow, der die Krim 1954 einfach an die Ukraine verschenkte – und davon haben wir jetzt den Salat…
Unvorhergesehene Gaben haben seit dem Danaergeschenk ‚Trojanisches Pferd‘ häufiger schon zu mehr Zwist als Dankbarkeit geführt. Manchmal meint es das Schicksal gut mit Dir, wenn Dir nichts geschenkt wird …
Im Prolog denke ich sofort an Irina, “ ich habe mehr ge… , weils gut war“
Schön!!!