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Fast am Ziel

Aus der Keule geschnitten | #37

Mittwoch, 27. Juli
Wenn alles schön ist, gibt es nichts zu berichten. Katastrophen sind dagegen fast immer erzählenswert. Der Mittwoch war so ein Tag dazwischen: nichts los, aber trotzdem unbefriedigend. Grund: Um elf Uhr vormittags mussten wir aus unseren Zimmern, um zehn Uhr abends sollte unsere Fähre ablegen. Nun ziehe ich mich ja nicht ständig um und dusche nicht alle halbe Stunde, aber wenn das Gepäck im Kofferraum liegt, will man eigentlich abreisen. Stattdessen verbrachten Silke und ich den Tag größtenteils auf der Terrasse, Rafał kam mal dazu und mal vom Wege ab, um letzte Eindrücke zu sammeln.

Am Nachbartisch saßen Amerikanerinnen, die ich in Verdacht hatte, der Mittelpunkt der nächtlichen Geräuschkulisse gewesen zu sein. Sie hatten ihre Koffer bei sich und einen jungen Mann, den ich schon etwas eher als Silke aufhörte, für einen Bräutigam zu halten, vielleicht war er der Bruder, jedenfalls handelte es sich um eine Braut auf Hochzeitsreise, mit ihren drei allerbesten Freundinnen. Natürlich knipsten sie ständig mit ihren Smartphones herum, dann öffneten sie ihre Koffer und hielten einander ihre Errungenschaften teils an die Taille, teils vor die Nase. Gestern war sicher Junggesellinnenabend gewesen. Wieder mal. Reiche Tochter aus dem mittleren Westen heiratet Sohn von Vaters Geschäftspartner: Tu felix Cynthia nube! Europareise für alle inbegriffen. Morgen treffen die Mädels auf die Männer. In Venedig, wo sonst? Empfang im ‚Danieli‛. Essen in Harry’s Bar. Die Väter sprechen über die Krise, die Mütter über die Kleider, die Kinder über die Kinder: Wir wollen doch drei, oder reichen zwei bis zur Scheidung? Ich liebe dich. Noch. Vielleicht waren es auch nur vier Flugbegleiterinnen mit ihrem Purser vor dem Rückflug nach Atlanta.

Eine kleine Katze kam und räkelte sich zutraulich. Vögel schnappten nach den Kartoffelchips, die meinen Campari begleiteten. Ein Spatz war etwas unaufmerksam. Die Katze fraß ihn. Hätte ich ihr nicht zugetraut. So schnell! Nur ein paar Federn blieben übrig; die musste eine von der Serviererin beauftragte Putzangestellte wegfegen. Jeder hat sein Aufgabengebiet. So ist das in der Gastronomie. Silke war indigniert. Sie mag sowieso Pferde und Hunde lieber als Katzen. Silke stand auf und unternahm einen Gang durch den Urwald.

Pflanzen können assimilieren. Es ist von der Natur nicht freundlich eingerichtet, dass Tiere das nicht können, sondern dass sie fressen und ausscheiden müssen: Wohl der Preis dafür, nicht am Stängel zu hängen, sondern Beine zu haben. Zu essen kann ja ganz nett sein, aber dass einem das Klo nicht erspart bleibt, ist ziemlich erniedrigend, und wenn man es nicht bis aufs Klo schafft, ist es noch erniedrigender – weshalb sich vielfach die Ansicht durchgesetzt hat, Gott habe die Welt ideal erschaffen, konnte ich nie begreifen. Von der schlimmen Geburt bis zum schlimmen Sterben ist doch alles schrecklich. Nicht nur, weil die Menschen so beschaffen sind, dass sie sich gegenseitig ausrotten, sondern weil Viren, Erdbeben und andere Sendboten Gottes ein Übriges tun, um das ohnehin krause menschliche Seelenleben zusätzlich durcheinanderzuwirbeln.

Foto: nobeastsofierce/Shutterstock

In der Natur wird überwiegend gefressen; gefressen, gefressen, gefressen. Wenn es Gras ist, versteht man das ja noch, aber bei so einem Vögelchen tut es einem doch leid. Was sich nicht wehren oder weglaufen kann, wird gefressen. So ist das nun mal. Aber Gott trifft keine Schuld an all dem Elend in der Welt. Weil es ihn nicht gibt. Wer besser damit zurechtkommt, ihn sich einzubilden oder gar anzubeten, der soll das halt tun. Fressen und scheißen muss er trotzdem. Aber was? Die Massentierhaltung, die aus dem Sonntagsbraten das täglich Brot gemacht hat, ist eine inhumane Verfallserscheinung, aber das Angebot der Tiere abzulehnen, ist auch dekadent. Kühe sind es nun mal gewohnt, gemolken zu werden, wie jeder Untertan vom Herrscher. Jung und gut gewürzt sind Tiere nicht nur gesund, sondern schmecken auch. Die harschen Veganer sind die Kinder der Fleischproduzenten, so wie die Terroristen der Siebzigerjahre die Kinder ihrer Nazi-Väter waren: aus dem gleichen Holz geschnitzt, aus derselben Keule geschnitten.

Foto: shellygraphy/Shutterstock

Um auch mal richtig radikal zu sein, möchte ich nur noch non-vegan leben. Kleidung ist leicht: Seide, Wolle, Leder – das geht. Essen geht auch: auf Brot verzichten, doppelt so viel Fleisch und Fisch; zum Nachtisch bloß Honig ist natürlich schade, aber mit Eischnee geht auch das. Getränk: Blut mag ich gar nicht und Milch auch nicht so. Einseitigkeit ist wohl nicht wirklich meins.

Silke war wieder da, Rafał auch. Nun war es an der Zeit, Anblick und Atmosphäre tief in sich einzusaugen und Abschied zu nehmen. Das taten wir dann.

Silke und Rafał kannten sich am Hafen schon bestens aus, so dass Silke beim zweiten Umrunden einer Art Sackgasse an genau der Stelle das Fahrzeug verlassen konnte, an der dieser Kiosk nun wohl endlich die Fahrscheine austeilen würde. Tatsächlich. Rafał reihte sich kundig in die Schlange derer ein, die schon bedient worden waren. Nein, war die lang! Dagegen waren die Tiere vor der Arche Noah wie ein paar Demonstranten auf der Hühnerfarm. Und noch bedrohlicher: In der Reihe neben unserer standen Tanklastwagen wie für die Benzinversorgung aller Agip-Tankstellen Italiens. Aber Silke kam mit den Tickets, nachdem Rafał ihr vorher auf Geheiß die Pässe (innerhalb EU?) gebracht und ich sogar zwischendurch eine Toilette gefunden hatte, die Schlange setzte sich in Bewegung, und als einen der letzten Wagen steuerte Rafał unseren Mercedes – rückwärts! – über die Rampe in den Bauch des dicken Schiffes. Silke und ich hatten vorher aussteigen müssen, und ein Kavalier, der erste Offizier oder so, nahm uns gleich beiseite und führte uns an all den Autos vorbei zu einem Fahrstuhl, mit dem er uns aus dem Bauch ins Haupt fuhr. Dort lagen unsere Kabinen mit Bullauge nach draußen und Duschzelle drinnen. Mein Krückstock hatte sich außerhalb meiner Hand selten so bewährt.

Problematisch dagegen war die Familienzusammenführung. Handy funktionierte nicht, aber Rafał und mit ihm Silkes Kosmetikkoffer befanden sich noch im Bauch. Als er uns endlich aufgespürt hatte, mussten wir zunächst seine Vorwürfe entkräften. Plötzlich waren wir weg gewesen. Aber doch genauso überrumpelt wie er. Und hätte ich etwa die sieben Stockwerke nach oben humpeln sollen? Na ja, war ja alles gut, der Kahn tutete, wir waren drauf, gingen an Deck und sahen uns dabei zu, wie wir Kroatien verließen.

Die Stimmen auf der Bank hinter uns waren schon italienisch, zwar laut, aber dieses Mal war doch der Geruch schlimmer: ein Picknick aus Dosenthunfisch minderer Qualität.

Silke und Rafał wollten noch etwas essen. Nicht nur sie. Wir fanden ein Stockwerk tiefer, in der Mitte des Schiffes, das Restaurant, in dem es so herging, wie ich mir abendliche Ausflugsdampfer immer vorgestellt hatte. Und das, bis auf die Kellner, alles auf Italienisch: Oktoberfest in Neapel. Ich trank bloß Wein, zum letzten Mal kroatischen. Wer schon kein Frühstück und kein Mittagessen hatte, der braucht auch kein Nachtmahl. Als ich zum Schluss Silke und Rafał doch mit ein wenig Käse Gesellschaft leistete, wurde es ganz ruhig. Wie auf Kommando verschwanden die Familien, die Kellner sammelten die Tischdecken ein, eine leere Opernbühne, es war still. Ganz still. Wir gingen.

Foto: Piotr Krzeslak/Shutterstock

Rafał verbrachte die Nacht unter freiem Himmel. Im für Passagiere verbotenen Teil der Fähre lag er auf einer Bank und sah in die Sterne. Über dem Meer gibt es keine Leuchtreklamen und keine Abgase, in dieser Nacht gab es auch keine Wolken. Nur Sterne.

Foto: guteksk7/Shutterstock

Das Geräusch der Schiffsmotoren würde mich wachhalten, dachte ich. Aber dann nahm ich die Binde von den Augen und zog die spärliche Gardine beiseite. Nanu! Die Sonne strahlte noch ziemlich kraftlos von rückwärts. Aber wir fuhren schon an der Küste entlang. Sie war ganz flach, sie war etwas langweilig, und sie war ein bisschen verheißungsvoll. Für Flüchtlinge das gelobte Land, für Heimkehrer das Vertraute, für uns der zweite Teil der Reise: Vor uns lag Apulien.

7 Kommentare zu “Aus der Keule geschnitten | #37

  1. leider wohl wahr, herr rinke. aus dem selben holz geschnitzt / aus der selben keule geschnitten. die kinder der 70er-bewegung marschieren jetzt bei pegida und wählen allein aus trotz zu ihren eltern afd. populistisch-nationalistisches denken hat trotz aller aufklärung hochkultur. schließt sich der kreis?

  2. Ist es wirklich von Nöten nach Radikalität zu schreien, um sich Gehör zu verschaffen? Ich befürworte die ethische Diplomatie. Ob fleischliebend, vegan, non-vegan, ovolacto oder vegetarisch. Jeder wie er mag – hauptsache satt. Nur der Aufmerksamkeit wegen einander abschlachten und aufessen muss doch wirklich nicht sein.

      1. Radikalität komplett zu verhindern wäre allerdings auch ein sehr ambitioniertes Projekt. Vielleicht auch gar kein erstrebenswertes? Braucht man nicht manchmal radikale Ideen um wirklich durchgreifenden Wandel anzustossen? Gehen Radikalismus und Revolution nicht Hand in Hand?

        Ihrer Charakterisierung der harschen Veganer würde ich allerdings zustimmen. Die Moralkeule einer ethischen Ernährung ins Spiel zu bringen, Fleischesser zu verachten und zu bekämpfen schiesst sicherlich weit über das Ziel hinaus. Die FAZ führte vor nicht allzu langer Zeit ein interessantes Gespräch mit Richard David Precht zu diesem Thema:
        http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/moralisch-essen-richard-david-precht-im-gespraech-13832399.html

  3. Zeigt uns nicht der gefressene Vogel, wie vergänglich alles Leben auf diesem Planeten ist? Manchmal denke ich, wie schön es doch wär, ein Vogel zu sein, allem Unbequemem einfach davonfliegen zu können, die Dinge aus einer anderen, höheren Perspektive zu erleben. Aber in Anbetracht der Probleme weltweit ist es wohl doch ratsamer, ein Mensch zu sein, als solcher ist es uns zumindest gegeben, den Wahnsinn an Umweltkatastrophen, Hungersnöten und sinnlosem Kriegstreiben Einhalt zu gebieten. Die Frage, die sich dabei stellt: Reicht die menschliche Intelligenz, um die Welt zu retten, oder ist unsere Spezies doch nur mit einem Spatzenhirn ausgestattet?

    1. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Natur im Laufe der Jahrmillionen nicht noch ein Wesen gelingt, das mehr Intelligenz besitzen wird als der Mensch. Der Mensch selbst versucht es ja auch schon. Nur ‚handelt‘ die Natur nicht ethisch, sondern bloß auf Reproduktion aus. Da sind manche Menschen schon heute weiter, Gott sei Dank.

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