1967 ließ ich Sizilien weg und machte ansonsten die Reise noch einmal mit Harald und Hans-Dieter im farblosen VW Käfer meiner fahrscheuen Mutter. Wir drei waren zusammen in derselben Abitur-Klasse gewesen, vorher auf Klassenreise in der Würzburger Residenz und als Rokoko-Figuren im Park von Veitshöchheim. Harald und Hans-Dieter hatten inzwischen als Soldaten gedient, ich hatte lieber Orchesterwerke geschrieben (Herzfehler, gleich nach der Musterung behoben).
Foto: Privatarchiv H. R.
1968 reiste ich die Strecke dann erneut mit meiner unternehmungslustigen Mutter ab, wieder im elfenbeinfarbenen Käfer, aber mit mir selbst am Steuer. Inzwischen kannte ich den Weg ja. Neben dem Vertrauten kam immer auch etwas Neues hinzu, so ging das Jahr für Jahr, mal bereichert um Siena und San Gimignano, mal um Ischia und Perugia.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ab 1968 war ich dann alljährlich mit Harald auf Italien-Tour. Ich muss hier etwas einflechten, was ich eigentlich verschweigen wollte. Harald und ich, wir hatten unsere lingua reservata, unsere Terminologie, wie wir es nannten. Mit ihr grenzten wir uns geschmäcklerisch ab von dem, was unseren Altersgenossen zwischen Kommunistischem Studentenbund und Led Zeppelin am heißen Herzen lag. In unserem Kosmos hatte sich der strikt heterosexuelle Harald Jahr für Jahr weiterentwickelt, erst zur Haraldine, dann zur Männer mordenden (dollen) Dine und schließlich zum koketten Dinchen. Pali hatte auf ihn (?) den Begriff ‚die Normale‘ geprägt, Roland bevorzugte das schlichte ‚Dinchen‘. Im Urlaub wurde es wegen seiner mangelnden Fähigkeit, Bräune anzusetzen, zur ‚Rosanen‘. Ihre Jod-Allergie gestattete es ihr darüber hinaus, quaddelnübersät, also schaumgeboren wie die Venus, den Mittelmeerfluten zu entsteigen.
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All das hielten wir akribisch in Halbjahresübersichten fest. Harald zeichnete selbst, ich kopiere Fotos zu den Texten. Mitte der Achtzigerjahre hatte Harald wohl keine Lust mehr auf Persönlichkeitsspaltung. Unsere Freundschaft entschlief. Er selbst wurde 2004, kurz nach seinem 60. Geburtstag, in seiner Wohnung aufgefunden, da waren sie dann alle vier tot.
Nachdem Harald und ich 1973 abweichlerisch in Griechenland gewesen waren, um die Obristen zu stürzen, machten wir uns 1974 wieder auf den Weg nach Italien. Die Strecke nahmen wir sportlich in unserem Rennwagen, dem Käfer: erste Übernachtung bei Mary, zweite in Sala Consilina, tausend Kilometer weiter südlich, Fähre von Reggio Calabria nach Messina, Kurzaufenthalt Taormina, Übernachtung Siracusa, kurze Bestaunung der 3000-jährigen Stadtgeschichte, quer durch Sizilien nach Palermo, Abstecher Monreale, Übernachtung Cefalù, Fähre Messina, Reggio, rüber auf die Adriaseite, Übernachtung in Tarento: Ja, schon wir waren flott in sowas, noch bevor die Japaner kamen.
Foto: Privatarchiv H. R.
Auf unserer Fahrt nach Norden stießen wir auf Polignano und dort auf das Hotel ‚Grotta Palazzese‛. Es lag im Ortskern auf einer Klippe, von unserem Zimmerfenster aus sahen wir herab in die Grotte, in der das Restaurant untergebracht war, aber im weiteren Verlauf des Blickes gab es nichts als das lange, breite Meer. Wir blieben eine Woche. Vormittags fuhren wir an den Strand und breiteten unsere Decken aus. Der Tourismus beschränkte sich auf Harald und mich. Abends tafelten wir in der Grotte, das war wirklich pittoresk. Soweit also die gute Erinnerung.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Die schlechte halte ich ein wenig kürzer: Im September 1979 fuhren Harald, Roland und ich nach Italien. Erste Übernachtung in Mantua; das war in unserem silbergrauen Derby als Strecke schon eine Leistung. (Darüber, dass alle dieses Auto spießig fanden, war ich erhaben. Ich habe mein Selbstwertgefühl nie über meinen Wagen definiert, sondern immer über meine Garderobe, und da trug ich Palis teure Sakkos auf. Guntram hatte den Derby bezahlt, und obwohl er mehr gekostet hatte als die Textilien, war er doch weniger prestigeträchtig als ein Armani-Anzug, für den Pali zu dick geworden war.) Wir fuhren die Adria entlang und fanden alles furchtbar. Seit ich 1954 mit meinen Eltern und Großeltern in Riccione gewesen war, hatte das Wirtschaftswunder dort die Hölle des Teutonengrills ausgebrütet, der mit meinen Wunschvorstellungen von Teufels Küche nichts zu tun hatte.
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Wir fuhren bis Polignano, vorher gefiel uns nichts. Unser Hotel stand noch, das ‚Castel del Monte‛ auch, wie wir uns überzeugten. Wir aßen stimmungsvoll in der Grotte und legten uns schlafen. Am nächsten Morgen war das Seitenfenster des Beifahrersitzes aufgebrochen und das Autoradio herausgerissen. Kinder! Ich hatte sie am Abend schon bemerkt, aber mir – wie so oft – nichts Besonderes gedacht. Was lernen solche Blagen denn im Kommunionsunterricht? Im tiefsten Kreis der Hölle sollen sie schmoren, ich schiebe gern die Holzkohle unter den Grill, nein, ich zwinge lieber ihre Eltern, das zu tun und dabei die Lauretanische Litanei herzusagen; die bekam ich nach der Beichte mit Vorliebe zur Buße aufgebrummt, wenn ich mich der Unkeuschheit schuldig bekannt hatte. Um nicht erkannt zu werden, fuhr ich immer in eine weiter entfernte Kirche. All diese Gewissensqualen, all diese vertanen Chancen, so richtig geilen Sex zu haben und anschließend mit Mitte dreißig an Aids zu krepieren! Vor derartigen Ahnungen schützte mich auf dem Rückweg in der Straßenbahn vorübergehend die Lauretanische Litanei (gleichzeitig beten und fahren spart Zeit):
Du weise Jungfrau
Du ehrwürdige Jungfrau
Du lobwürdige Jungfrau
Du mächtige Jungfrau
Du gütige Jungfrau
Du getreue Jungfrau
Du Spiegel der göttlichen Heiligkeit – und so weiter.
Von der reinen Jungfrau zur alten Jungfer ist es nur ein Schritt, lehrt übrigens das Leben frei nach Napoleon.
Die örtliche Polizei in Polignano war an dem schrecklichen Diebstahl so desinteressiert wie zu erwarten war, aber wir brauchten ihre Zeugenschaft für die Versicherung. Ich hatte ganz wunderbare Raub-Musikkassetten in San Marino erworben. Der Klang war nicht toll, denn sie waren etwas stümperhaft von den Originalen überspielt worden und entsprechend günstig gewesen, aber sie drückten ganz herrlich mein Lebensgefühl aus: unbeschwerter Urlaub. Erst im Oktober in Hamburg konnte ich die MCs wieder hören. Die kindlichen Diebe hatten sie zurückgelassen. Es war wie ein Einbruch im Van-Gogh-Museum: Die Rahmen sind weg, die Bilder hängen noch. Später habe ich versucht, die Schallplatten zu beschaffen, von denen meine Kassetten geklaut worden waren – erfolglos. So mussten also die abgehalfterten Musikkassetten von damals ihre Lebensfreude zu den Soundtracks meiner späteren Filme beisteuern, sogar noch zum allerletzten in der Version von 2016: eine Unbeschwertheit, die für mich immer Sehnsucht blieb und nie Wirklichkeit wurde.
Foto: Privatarchiv H. R.
In Bari fanden wir eine Werkstatt, in der das Armaturenbrett notdürftig zusammengeflickt und das Seitenfenster verklebt wurde. Noch am selben Abend nahmen wir bitter enttäuscht die Fähre nach Korfu, weg von den italienischen Verbrechern ins befreite Griechenland.
Foto oben: Natalia Dobryanskaya/Shutterstock | Fotos unten (3): Privatarchiv H. R.
Zu diesen Vorgängen liefere ich hier ein authentisches Video. Der Film von 1979 huldigt meinem Idol Hans Christian Andersen. Andersen reiste viel und schrieb poetisch, deshalb habe ich mit ihm und der kleinen Seejungfrau eine Begegnung auf der Überfahrt organisiert. Damals reisten wir in Richtung Ferne, heute befinden wir uns auf ‚rückzu‛.
Lieber Herr Rinke, welch wunderbare Ergänzung zu ihren Geschichten sind diese kleinen Videos! So werden die Anekdoten noch einmal ganz anders zum Leben erweckt, so bekommen die mir nur aus ihren Berichten bekannten Charaktere ein Gesicht. Gerne mehr davon!
Und ach…Polignano, Bari – wie gerne würde ich einmal die italienische Küste bis Apulien herunterfahren. Weiter als bis nach Umbrien haben mein Mann und ich es leider nie geschafft. Ich beneide Sie um diese vielen Reisen und hoffe sehr, dass sich der ein oder andere Traum irgendwann doch noch erfüllt.
Das freut mich. Ja, im weiteren Verlauf wird es mehr Videos geben, weil wir ab jetzt ja nicht mehr Neuland vor uns haben, sondern meine Vergangenheit abklappern.