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0511
Fast am Ziel

Ich stürze Rechte! | #33

Rührend! Silke und Rafał wollten mir so viel wie möglich von Zadar zeigen. Zugegeben, ‚Besichtigung‘ hatte ich wirklich in die Vormittagsplanung geschrieben, aber wir kamen trotz Rafałs Unverfrorenheit von keiner Seite mit dem Auto an die geschlechtliche Mitte des Körpers heran, der Zadar früher mal war.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Was ich aus dem Autofenster heraus sehen konnte, war wenig überzeugend. Aber ich fand es auch wichtiger und richtiger, dass das alles einigermaßen erhalten blieb, als dass ich, und Hunderttausende vor und nach mir, mit Dieselmotoren daran vorbeigerauscht wäre(n), um mal kurz „Aha!“ zu sagen, ohne an die Illyrer, die venezianischen Dogen oder den geldgierigen Ladislaus zu denken. Geschichte teilt sich nicht mit; man muss sie sich erarbeiten, und wer das nicht tut, der lebt in einer zweidimensionalen Gegenwart, wird von mir verachtet, kann aber trotzdem glücklich sein. Das Hotel ‚Bastion‘ kann er sich eventuell nicht leisten, aber mancher Hochgebildete auch nicht. Bildung macht nur glücklich, reich nicht, jedenfalls nicht finanziell; doch was ich altmodisch unter Bildung verstehe, gilt selbst im Gymnasium nur noch als Ballast, jammere ich kulturpessimistisch. Dabei habe ich in der Oberstufe auch nur gelernt, was ich unbedingt musste oder wofür begabte Lehrer mich begeistern konnten. Hätten meine Eltern mich nicht gefördert und gefordert, dann hätte ich es nicht mal zur Cindy aus Marzahn gebracht. Die Erziehungsmethoden meiner Eltern waren offenbar besser als ihre Gene.

Da der Kern von Zadar also nicht zu erobern war, weil das Fleisch drumrum sich zu sehr wehrte, fand Rafał es passend, mir Zadar wenigstens vom Ballindamm aus zu zeigen. Auch das war nicht so einfach; man kam nicht über eine Art Jungfernstieg dorthin, sondern über ein Gewirr von Straßen, die, feindselig gesinnt, ständig versuchten, in die entgegengesetzte Richtung zu führen. Schließlich erreichten wir doch das andere Ufer, und ich sah von dort aus die Altstadt gegenüber, die Schiffe am Kai, und ich musste an Haralds Lieblingsspruch denken: „Komm’ Se rein, könn’ Se rausgucken!“

Mit Harald hatte ich die ganze Küste 1973 abgeklappert. Obwohl Jugoslawien als gemäßigter Ostblock galt, nie dem Warschauer Pakt angehörte und sich selbst als ‚blockfrei‘ einstufte, empfanden Harald und ich die jugoslawischen Adria-Orte doch als ‚Eisenhüttenstadt sur Mer‘. Wir fuhren bis an die Grenze zu Albanien, das damals nicht betretbar war, sahen Frauen in Pluderhosen und Minarette; das war uns Orient genug, und wir verabschiedeten uns von Dubrovnik an Bord der Autofähre nach Korfu.

Foto oben: Oleg Voronische/Shutterstock | Foto unten: Taking in the Sights/Shutterstock

Korfu, das entsprach endlich unserer Vorstellung von Urlaub. Auch Sisi hatte sich hier wohler gefühlt als in Wien oder überhaupt im Vielvölkerreich ihres Mannes.

Fotos (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Bleiben mochten wir trotzdem nicht: kein richtiger Strand. So landeten wir in einem Kaff am Peleponnes, das auch nicht gerade an Capri erinnerte: Es war sehr, sehr einfach, von der ‚Waschgelegenheit‘ bis in die Mangoldküche, aber es strahlte nicht diese quälende Ärmlichkeit aus, die ich überall wahrnahm, wo Sozialismus herrschte. Ob es wirklich der Anblick war oder nur meine Einstellung, das weiß ich natürlich nicht. Zumal damals in Griechenland statt der linken Wohltäter die rechten Obristen regierten, und wie die Junta-Polizei mit Einheimischen, nicht Touristen, umging, das erlebten wir später hautnah in Athen. Innenminister Pattakos hatte Kommunisten gegenüber verkündet: „Wer sich weigert, die Reueerklärung zu unterzeichnen, wird das Lager nur als faulender Kadaver verlassen.“ Ein Jahr, nachdem wir in Griechenland gewesen waren, 1974, stürzte die Junta, Pattakos wurde zum Tode verurteilt, aber begnadigt.

Komisch, 1976 waren wir in Spanien, und das Franco-Regime stürzte. Ich scheine einen destabilisierenden Einfluss auf rechte Diktaturen zu haben, dabei hatte meine Mutter, die sich vor den Nazis hatte verstecken müssen, postuliert: „Denjenigen, die mit dem Regime einverstanden sind, geht es in rechten Diktaturen gar nicht so schlecht, im Sozialismus geht es ausschließlich der Nomenklatura gut.“ Pali hatte sie daraufhin als ‚faschistische Jüdin‘ bezeichnet. Diese Einstufung nahm sie mit einer ihr sonst nicht eigenen Gelassenheit hin; sie hielt es wohl für so grotesk, als hätte er sie eine Voodoo-Priesterin genannt. Mein Vater war bereits zu Anfang seiner Affäre mit ihr vor Irena gewarnt worden, dass sie wahrscheinlich eine polnische Spionin sei; sie war also schon einige Anschuldigungen gewohnt, und obwohl sie immer Probleme damit hatte, ihre ansehnliche Größe zu akzeptieren, war ihr trotzdem klar, dass man zwar im richtigen Augenblick untertauchen muss, aber dass in Friedenszeiten Aufmerksamkeit zu erregen mehr bringt als Unauffälligkeit.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Dann war ich 1990 wieder in Dubrovnik. Der Pianist Ivo Pogorelich, den ich betreute, lebte da, und die Stadt war quirlig, keine Spur mehr von bedrückendem Sozialismus. Kurz darauf, im März 1991, ging wieder alles schief. Für den Krieg, der damals ausbrach, lehne ich aber jede Zuständigkeit ab. Es hatte mich insgeheim ohnehin gewundert, dass nach Titos Tod alles so friedlich geblieben war; damit war es allerdings nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vorbei. Kroaten und Serben kommen einfach nicht klar miteinander; so geht das schon seit Jahrhunderten. Wie immer habe ich erst einmal die Religion in Verdacht, Unheil zu stiften: 86 Prozent der Serben bezeichnen sich als orthodox, 87 Prozent der Kroaten als Katholiken. Atheisten gibt es kaum, was für einen ehemals sozialistischen Staat seltsam ist. Klar, die Katholiken gehorchen dem Papst, die Orthodoxen dem Metropoliten. Für Außenstehende klingt das noch gar nicht nach ganz so empörendem Gegensatz, aber eine ähnliche Konstellation hatte nicht nur Maria Stuart den Kopf gekostet. Was sich Sunniten und Schiiten heute noch liefern – und alles um des allbarmherzigen Allahs willen, das geht auf keine Kuhhaut! Wäre das nicht ‚nadschis‘, man könnte es sogar als Schweinerei bezeichnen.

Aber so war das schon immer: Ist Gottlieb der Grobe mein Herrscher, habe ich auf der einen Seite zu kämpfen, diene ich unter Archibald dem Arglistigen, dann muss ich ganz andere Leute totschlagen. In 90 Prozent der Fälle ist Religion nichts als Vorwand, aber Glaube ist wohl für die meisten Menschen genauso schön wie Sex: Blutrausch und Ekstase. Vielleicht erwächst im 21. Jahrhundert endlich der Cyber-Mensch, dem die virtuelle Zerstörungswut und die virtuelle Zärtlichkeit ausreichen, um ein erfülltes Leben zu führen. ‚Selbstbestimmt‘ – mit diesem Wort hätten Gottliebs und Archibalds Untertanen gar nichts anfangen können: Für Gott und Vaterland – das war’s. Da haben wir doch viel geschafft inzwischen: Wir dürfen gegen Handelsabkommen auf die Straße gehen und verhindern, dass Europa eine Stimme in der Welt behält. Unsere Urenkel werden dann von den Trinkgeldern der Amerikaner und Asiaten leben, die sich auf Billig-Reisen das unvereinte Europa ansehen können wie ein Disneyland mit echten Zutaten: Anschluss verloren, Almosen willkommen.

Na, so weit ist es ja 2016 längst noch nicht, und das Hotel, das wir in Dubrovnik ansteuerten, war eher kostspielig. Bei Split verließen wir die Autobahn: mitnehmen, was noch geht. Ich erlebe an mir auf dieser Reise die Gier des Gastes am Buffet, der weiß, dass er nie wieder irgendwo eingeladen wird.

Das, was Harald und ich 1973 mit kapitalistischer Überheblichkeit in Split erkundet hatten, das gab es nicht mehr. Noch jahrelang hatten wir über Split als über den Ort ‚gekichert‘, in dem ein alter Mann gebrauchte West-Plastiktüten verkaufte. Ich mag mich für unser damaliges Gelächter nicht schämen. Wir sahen in allem die Überlegenheit des Systems, in dem wir lebten, und ich hätte bei der Folterung der RAF-Häftlinge, die in genau jenem Jahr vor Gericht kamen, sehr gern zugesehen, bildete ich mir ein; doch statt Tortur hatten sie jede Menge Vergünstigungen, wie man inzwischen weiß. Harald und ich verließen damals Split nach kurzem Aufenthalt und der Einschätzung: ‚Nie wieder!‘ Und dabei blieb es in gewisser Weise auch, denn obwohl Rafał mit seinem üblichen Wagemut, von mir noch angestachelt, so unerlaubt wie möglich an die Altstadt heranfuhr, irgendwann war Schluss: ein Platz, eine Kirche mit venezianischem Campanile, haufenweise Touristen – das Übliche eben. Wir schafften es sogar noch bis zum Hafen, an dem Restaurants links und Schiffe rechts rumlagen: das Übliche eben. Dann drängte es uns zurück auf die Autobahn.

Autobahnfahrten sind fast immer langweilig, zumindest für die Beifahrer. Wenn Silke still wird, denke ich, sie schläft, und wenn sie wieder aufwacht, sagt sie: „Ich hatte nur kurz die Augen geschlossen. Es zieht so von der Air-Condition.“ Wenn sogar Rafał still ist, dann wird es bedrohlich, und er braucht demnächst einen Kaffee. Nur eine gewisse Zeit lang kann ich ihn noch mit ausgefeilten Fragen wachhalten: „Wenn du Orchestermusiker bei den Berliner Philharmonikern wärst, würdest du die Voodoo-Trommel schlagen wollen, mit den Rumba-Nüssen rasseln oder die Cha-Cha-Cha-Gurk quälen?“ Solche Fragen aus der frühen Haraldzeit gibt es genügend für die Ausgestaltung einer Fahrt von dem namenlosen Ort in Schweden, für den man immer ‚Upsala‘ macht, wenn man ihn meint, bis nach Dubrovnik, das, als es noch italienisch war, viel klangvoller ‚Ragusa‘ hieß, und durch Griechenland über die Türkei wahlweise bis nach Syrien oder Afghanistan, um dort für Einigkeit und Recht und Freiheit zu kämpfen. Da der Mann am Steuer spätestens bei der Frage, was die modebewusste transvestierende Hermaphroditin auf einem Kostümfest trägt, einen Nervenzusammenbruch erlitte, ist so eine Fragenfahrt auch für kampfbereite IS-Sympathisanten recht heilsam.

Für Rafał gab es sogar eine noch passendere Abwechslung: Die Autobahn war zu Ende. Wir fuhren an Schildern entlang; die Navifrau wusste von nichts und stammelte nur von Zeit zu Zeit: „Wenn möglich, bitte wenden.“ Es sah auch alles sehr neu aus. Dann begaben wir uns einen steilen Hang hinab in ein schon aus der Ferne eindrucksvolles Gewitter, das aber erst unten am Ufer der Neretva so richtig zeigte, was es konnte. Wir fuhren nicht nur den Fluss entlang ins Inland (in das wir ja eigentlich gar nicht wollten), sondern vorbei an unzähligen Obstständen, die jeden Veganer in Rauschzustände versetzt hätten. Der prasselnde Regen machte die Szenerie unwirklich und die Scheibenwischer ratlos. Ja, dachte ich, warm ist es und es gießt in Strömen – hier kann wohl viel wachsen.

Dann fuhren wir auf der anderen Seite den Hang steil aufwärts, ließen das Gewitter unter uns weiter Rabatz machen, die Navifrau wusste inzwischen auch wieder, wie man ans Meer kommt, und ich dachte: Eine Brücke von dort drüben oben nach hier oben wäre das Vergnügen jedes Straßenbauers und in Deutschland eine Selbstverständlichkeit, aber so war es viel abwechslungsreicher gewesen. Eine Frage an den Fahrer: Wenn jeden Tag 87 Lastwagen durch das Tal zuckeln, 33 mit leicht entflammbaren Flüssigkeiten, 21 mit verderblichen Tieren zur Schlachtbank, 19 mit Baumaterial, sechs mit Flüchtlingen auf der Balkanroute und sieben leer, wann lohnt sich dann die Brücke? Wer mitrechnet, merkt: Ein Wagen ist liegengeblieben – der mit Milch wahrscheinlich.

Nun dauerte es nicht mehr lange, und der aufregendste Teil der Reise stand bevor: der Austritt aus der EU. Rafał hatte sich extra einen neuen Pass besorgt, und ich versuchte mir den Schauer zurückzuholen, den ich immer an der DDR-Grenze empfunden hatte; an der Grenze zu Österreich wurde mir bloß mulmig, wenn ich Wein aus Italien schmuggelte, was ich allerdings fast immer tat. So weit wie meine Mutter, die einen einfuhrverbotenen Rehrücken unter ihrem grobmaschigen Pullover von Tirol nach Bayern verschleppte, bin ich nie gegangen, aber ich hatte auch nicht ihre Kriegserfahrungen.

4 Kommentare zu “Ich stürze Rechte! | #33

  1. Humorvolles, ironisches und selbstironisches Stück! Sehr vergnüglich zu lesen, politisch und historisch anspielungsreich, mit Höhen und Untiefen. Kein Tellergericht!

  2. Bei so viel destabilisierendem Einfluss auf politische Systeme sind Sie es dieser Welt schuldig,
    Ihre Entourage im nächsten Sommer ins MoMa, in die Eremitage sowie zu den antiken Stätten Palmyra und Hatras zu führen.
    Zugegeben, letztere werden Ihnen hitzetechnisch einiges abverlangen,
    aber kein Heldenstatus – antik oder modern – ohne entsprechendes Opfer!

    1. Kein Problem, ich liebe Hitze. Aber Palmyra und Hatra sind wohl erst übernächstes Jahr wieder in Schuss, und ich glaube nicht, dass Putin so rasch das MoMa und Trump so flink die Eremitage auslöschen wird. Da guck ich mir 2017 lieber wieder an, was dann noch von Italien übrig ist.

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