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1906
Fast am Ziel

Gefangen im Eigenen | #91

Samstag, 13. August, bis Donnerstag, 13. Oktober
Wenn ich früher irgendwo ankam, wollte ich mich dort ausleben. Heute muss ich mich an meinem Bestimmungsort einleben. Zu Hause fällt das natürlich am leichtesten. Natürlich? Nach Rolands Tod fühlte ich mich jahrelang in jedem Hotel zwischen Oslo und Toronto vom Lächeln an der Rezeption gemeinter als von den stummen Wänden meiner Wohnung nahe der Elbe. Und in Berlin bin ich nach wie vor sofort zu Hause, obwohl ich dort ganz bewusst im ehemaligen Osten schlafe, mit dem mich biografisch weniger verbindet als mit den Stadtteilen rund um die Alster. Heimat ist für mich etwas Exotisches: Almwiesen, Meeresbrandung; Stallgeruch und Eckkneipe – etwas, das mich nicht betrifft.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Aber in Meran bin ich zweifellos zu Hause: eigenes Gefrierfach und eigenes Geschirr; eigenes Bett, eigenes Bad – mehr Zuhause geht nicht. Der Garten ist kaum größer als der in Hamburg, aber benutzbarer. Das macht das Klima. Weder mein Hamburger noch mein Südtiroler Heim ist protzig. So habe ich es mir in meinem Elternhaus abgeguckt und bin dabei geblieben. Meinen mangelnden Änderungswillen nenne ich Bedürfnislosigkeit und kehre nun zufrieden aus all den prunkvollen Hotels in meine leicht antiquiert möblierte Unsachlichkeit zurück.

Foto: Privatarchiv H. R.

Eigentlich hatte ich ja erst am Sonntagabend wieder hier sein wollen; die letzten beiden Nächte hatte ich mir am Gardasee in Salò gedacht. Aber das Hotel ‚Fasano‘ hatte uns abgewiesen: Ferragosto, da ist ganz Italien auf Urlaub und macht auch vor fünf Sternen keinen Halt. Ferragosto = Mariä Himmelfahrt – gehört für mich zu den merkwürdigsten Festen; denn da ist die jungfräuliche Gottesmutter mit ihrem – auch schon recht betagten – Leib paternostermäßig in den Himmel entschwebt, wo sie rund um die Uhr damit beschäftigt ist, die Fürbitten unzähliger Gläubiger in Empfang zu nehmen und weiterzuleiten. Am 1. November 1950 war von Papst Pius XII. als Glaubenssatz verkündet worden, ‚dass die allerseligste Jungfrau Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen ward.‘ Sofort denke ich an die ferne Zeit, als mir noch jeden Sonntag der Jesus-Körper am Gaumen klebte, und ein bisschen bin ich gerührt.

An nichts glauben zu können ist nicht viel lebbarer, als etwas glauben zu müssen, aber sehr anders. Und doch: Mein Recht, nicht glauben zu müssen, würde ich genauso unpazifistisch mit der Waffe verteidigen wollen, wie viele Überzeugte ihren Glauben unbedingt durchsetzen wollen. Alle die, die sich auf einen Gott berufen, der ihren Gebeten zuhört und entsprechend eingreift, alle solche Fantasten sind mir verdächtig – ich kenne die Geschichte. Wenn Erleuchtete Macht hatten, haben sie kaum je widerstanden, sie im Sinne ihrer Gewissheit auszuüben. So ist aus mir wohl ein intoleranter Atheist geworden. Erwachsene, die in ihrem Weltbild einen, drei oder noch mehr Götter brauchen, darunter Menschen, denen heute die Jungfrau Maria leibhaftig in den Himmel geflogen ist, die halte ich nicht nur für verblendet, sondern auch für gefährlich. Hinzu kommt: je gläubiger desto fruchtbarer. Fünf Kinder sind noch wenig in Krisengebieten. Und wenn eines von ihnen es bis ganz nach Bayern geschafft hat? Familiennachzug ist ein Gebot der Humanität. Manche bleiben ja vorher schon auf der Strecke. „Jeder Tote ist einer zu wenig“, traut sich nicht mal die AfD zu sagen. Ist manch Gläubiger trotzdem froh, wenn ein Papst oder ein Angehöriger die Nacht oder ein anderes Unglück überlebt hat, dann beweist das nur, wie wenig der Bangende es dem weiterhin Zurückgebliebenen gönnt, bereits vor ihm im Himmel eingetroffen zu sein. Wir waren ja nun auch zu Hause. „Nie wieder im Leben will ich so eine Reise machen“, dachte ich. Aber sicher war ich mir nicht.

7 Kommentare zu “Gefangen im Eigenen | #91

  1. Ich habe mich schon oft gefragt, was Heimat oder sich zu Hause fühlen eigentlich meint. Manchmal fühle ich mich in meiner eigenen Stadt fremd und dann bin ich auf einmal in Lissabon, Lyon oder Wien und habe das Gefühl, ich wäre mein Leben lang nie woanders gewesen. Wann und warum man sich irgendwo heimisch fühlt ist mir immer noch ein Rätsel.

  2. Wer Macht hat, will sie auch ausüben. Das ist ein trauriger aber logischer Zusammenhang. Lincoln sagte zwar: „Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht“, ich würde aber sogar so weit gehen, dass jeder noch so anständige Mensch in einer Machtposition scheitern muss.

    1. Die Frage ist dann nur, ob man es schafft wenigstens seinen Anstand und seine grundlegenden Überzeugungen zu bewahren oder ob einen das Gefühl Macht zu haben so sehr mitreisst, dass man alles über den Haufen wirft…

  3. Die Geburtenrate in Deutschland liegt doch eh immer noch unter dem EU-Durchschnitt. Da stellt der Familiennachzug wohl kein großes Problem dar. Der gemeine AfD-ler Neu-Nazi bekommt natürlich trotzdem Schweissausbrüche, weil möglicherweise die Balance zwischen deutschen und Flüchtlingskindern durcheinander gerät.

    1. Ach Gott, wer ernsthaft etwas gegen Flüchtlinge hat, egal unter welchem Vorwand, dem ist nicht mehr zu helfen. Dass die ganze Situation Probleme mit sich bringt, ist leider wahr. Die Flüchtenden können aber in der Regel am wenigsten etwas dafür. Die würden auch gern bei sich zuhause bleiben.

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