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Fast am Ziel

Ein Triumph | #70

Samstag, 6. August
Als ich erst meine Augen öffnete und dann auch die Gardinen, sah ich, die Welt war wieder im Lot: blauer Himmel. Die beiden Balkone meiner Luxus-Suite boten darüber hinaus einen besonderen Komfort: Ich hatte Anschluss an die Öffentlichkeit. Gleich unter meiner Balustrade wurde geräuschvoll gefrühstückt. Ich sah die vollen Tische und hörte neben dem Geklapper von Kannen, Tassen, Tellern und Bestecken sofort das Schlürfen, Schmatzen, Beißen, Kauen, Zutschen und Malmen von Orangenschleim, Jogurt, Zwieback, Rührei, Ananas, Cornflakes und Aufschnittfetzen, aber nur Italienisch. Betreten wandte ich mich ab, dem Bad zu.

Foto: stockcreations/Shutterstock

Den Vormittag wollte ich am Pool verbringen und tat das auch. Außer mir bloß Rafał. Ich hatte zwar eine geschützte Ecke an einem Felsen gefunden, aber es war doch recht windig. Die anderen Gäste verhielten sich zimperlich, die waren wohl noch nie auf Norderney gewesen (ich auch nicht). Ich war auf einen knappen Vorsprung geklettert, da lag ich den Liegestuhl ab und brauchte keinen Schirm. Der warme Auguststurm machte mir nichts aus; Lesen ging nicht, Bräunen schon. Ich konnte in der Sonne liegen, ohne zu schwitzen, das ist wie Saufen ohne Gewissensbisse. Hoffentlich geht es auch ohne Kater bzw. Sonnenbrand aus. Rafał ‚plumpste‘ ein paar mal, ich begnügte mich mit der Dusche.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Muss schön sein, so über dem Meer zu schwimmen, das Becken mündet in den Horizont. Von meiner höheren Warte aus sehe ich leicht sehnsüchtig in die Niederungen und gehöre nicht mehr dazu. Als ich es noch konnte, wollte ich es nicht, sage ich mir. Das stimmt nicht ganz, aber es tröstet. Dazugehören. Heimat in den Menschen finden, die um einen sind. Dasselbe glauben, dasselbe wollen. Das macht die Hauptanziehung von Religionen aus, mehr als die Glaubenssätze. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in noch lebenden Menschen beheimatet bin, aber dafür habe ich gleich drei lokale Heimaten: Othmarschen, Meran und Berlin. Das Berlin meiner Kindheit gibt es nicht mehr, aber da passe ich sehr flexibel mein Heimatgefühl dem jeweiligen Stand des Bauwesens und des Bewirtungsgewerbes in Berlin an.

Foto: Privatarchiv H. R.

Rafał hatte – wie wir alle – eine schwierige Jugend. Er ist das Älteste von drei Geschwistern. Als er fünf war, verließ die Mutter die Familie. Warum, habe ich nicht herausbekommen. Irgendetwas zwischen Überdruss und Selbstverwirklichung. Der Vater hatte zwei Jahre im Gefängnis zugebracht, weil er in Danzig bei einer Solidarność-Veranstaltung aufgegriffen wurde. Aber er war nur zufällig dort gewesen. Klingt erstaunlich. Rafał wuchs bei seiner Großmutter auf dem Lande auf, zwischen Hühnern, Kühen und Schweinen. Als er zehn war, holte der Vater die drei Kinder zurück in die Stadt. Die Mutter war auch manchmal wieder da. Rafałs Vater wurde ermordet, die Mutter kam in eine psychiatrische Anstalt, Einzelheiten möchte Rafał nicht geschrieben sehen. Die Großmutter zog nach Radomsko, das liegt zwischen Łódź und Krakau, adoptierte die Kinder und zog sie auf. Rafałs Erzählungen klingen alle wie schlimme oder schöne Märchen. Palis unglaubliche Geschichten gaben sich immer den etwas prosaischen Anschein von Wirklichkeit.

Foto: Privatarchiv H. R.

Silke hatte sich eine andere Stelle im Gelände ausgesucht, die auch anderen Menschen geeigneter erschien. Rafał stattete ihr einen Besuch ab, kam zurück an unseren verwaisten Pool und sagte zufrieden: „Da bläst der Wind noch stärker.“

Foto oben: Yellowj/Shutterstock | Foto unten: AS Inc/Shutterstock

Zur Mittagsunterbrechung wollte ich weder auf die Terrasse noch in die Kantine. Wir fuhren die Hauptstraße nach Porto St. Stefano, die wir gestern wegen des Verkehrs verlassen hatten, und kamen nach zwei Kilometer zu dem Restaurant, von dem ich während meiner Reiseplanung mit Hochverdruss gelesen hatte, es sei geschlossen worden. Wagen standen am Straßenrand. Einen Versuch war es wert. Wir stiegen aus, wir sahen hinein. Die Tür ließ sich öffnen. Ich trat ein und war begeistert. Alles war etwas schicker als früher, aber es war dasselbe Haus, derselbe Blick, das gleiche Gefühl wie damals: 1975 mit der Noflo, am 10. August 1982 mit Harald, am 16. Mai 1995 mit meinen Eltern – ein ähnliches Gefühl jedenfalls, in jedem Fall ein Triumph. Wir saßen am Fenster, wir sahen aufs Meer und wir aßen, was wir uns bestellt hatten. Bei mir wurde wie immer das Glas schneller leer als der Teller. Flüssiges lässt sich halt leichter schlucken als Festes, zumindest, wenn die Flüssigkeit alkoholisch ist. Ich brauche gar nicht lange in meinem Hirn nach Wörtern für meine Erinnerungen zu kramen; ich füge hier einfach den Ausschnitt von 1975 ein.

6 Kommentare zu “Ein Triumph | #70

  1. In anderen Menschen beheimatet sein ist ein wunderbarer Ausdruck Herr Rinke. Mir ging es von jeher so, dass ich ein Gefühl von Heimat, Wärme, Geborgenheit eher mit den mich umgebenden Menschen, als mit einem spezifischen Ort verbinde. Sich mit allem was man hat an einen einzigen Ort zu klammern fand ich immer kitschig und auch arg sentimental. Jedem natürlich das seine.

    1. Thomas Berndard:„Es ist gescheit, wenn man weit weg geht und immer wieder zurück geht. Der Wechsel ist das Wichtigste.“
      Pascal: „Heimgehen heißt sterben. Wenn du zu Haus bist, bist du tot.“
      Camus: „Meine Heimat ist dort, wo ich grad bin. Also bin ich immer zu Haus und immer daheim.“

    2. und weiter…
      Dostojewskij: „Ohne Heimat sein heisst Leiden.“
      Schiller: „Der wackre Mann findet überall seine Heimat.“
      Goethe: „Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne.“

  2. Da halte ich es doch glatt mit Camus. Wenngleich man diesen Satz ja unterschiedlich interpretieren kann – je nachdem, ob die Betonung auf „wo“ oder auf „ich“ liegt. Ich ziehe Letzteres vor, auch um sich nicht von Äußerem abhängig zu machen. Das setzt allerdings voraus, mit sich im Einklang zu sein, in sich zu wohnen. Wie ich finde, auch eine gute Voraussetzung, um Widerständen von außen mit Halt-ung entgegnen zu können.

  3. Was für eine ausgelassene Stimmung Sie in Ihrem Video eingefangen haben Herr Rinke! Ich bleibe dabei, diese Ausschnitte können mehr Gefühle wachrufen und Eindrücke illustrieren wie jeder Text. Und das soll überhaupt nicht gegen Ihre Blogbeiträge sprechen 😉 Ich wünschte ich hätte meine alten Super 8 Aufnahmen nicht im Leichtsinn weggeworfen! Eine Schande. Naja, die Erinnerungen bleiben trotzdem.

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