Nach ein paar Tagen in Meran war ich konsequent genug, meinen Vorsatz über den Haufen zu werfen; auf den gehören die meisten Vorsätze sowieso. Ich hatte mir ein bisschen vorgenommen, diese unerhebliche Fahrt durch Kroatien und Italien nicht schriftlich zu verewigen, nun tat ich es doch und konnte – auch wie immer – nicht schlüssig unterscheiden, ob mein Drang mich mitzuteilen aus dem Strauch der Langeweile oder aus dem Baum des Sendungsbewusstseins ersprossen war. Wie auch immer: Was ich anfange, das beende ich auch. Pali ärgerte mich mit seiner Meinung: „Du kannst nichts wegschmeißen. Das ist dein Fehler. Du bist einfach zu geizig.“ Pali bezog seine Aussage auf belichtetes Filmmaterial, überflüssige Erklärungen, verschimmelten Käse und eingelaufene Pullover. Ich schreibe also gegen ihn an und grusele mich davor, dass das Material jemals einer Lektorin in die Hände fallen könnte und ich mit ihr um jede Zeile ringen muss. Anette ist schon eine solche Lektorin, die mir in meiner Reisebeschreibung des vorigen Jahres die Passage verbot, na ja, ausredete, in der ich über Hunger schrieb. Das hat den Vorteil, dass ich das Thema jetzt aufgreifen kann, ohne mich zu wiederholen. Im Liegestuhl, nach dem Mittagessen. Garten vor Augen, Drossel vor Ohren, während die anderen anderes tun.
Fotos: (4): Privatarchiv H. R.
Sich hinzustellen, -zusetzen oder -zulegen mit dem Wunsch zu grübeln, das bringt meiner Erfahrung nach nicht viel. Man muss sich seine Erkenntnisse schon erwandern und sich die Objekte am Wegesrand ein bisschen genauer angucken oder andere Reize auf sich einwirken lassen, um zu brauchbaren Konzepten zu kommen, wie man sein Leben oder die Philosophie umgestalten oder zumindest in den Griff bekommen kann. Da ist ‚Essen‘, das gerade hinter mir liegt, ein guter Anfang und ‚Sex‘, der schon lange hinter mir liegt, ist ein gutes Ende.
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Ein Beitrag der ‚Tagesschau‘ hat mich besonders beschäftigt. In einer Reportage beklagten Flüchtlinge auf ihrer Route nach Norden, dass sie in den Lagern nur einmal am Tag zu essen bekämen. Das ist das Paradies! Hunger ist herrlich. Auf der Speisekarte lese ich: ‚Dialog von Garnele und Rinderfilet an Brokkoli-Schaum, dazu ein Glas Château Margaux‘ und ich denke: „Enden wird das in einem Dialog von Scheiße und Pisse in der Kloschüssel. Aber im Gewebe bleibt natürlich auch etwas hängen.“ Anette sagte zu der Textstelle in meiner Reisebeschreibung des vorigen Jahres, in der steht, dass ich die Hungernden beneide: „Das kannst du nicht schreiben, lies mal Herta Müllers ‚Atemschaukel‘!“ Hab’ ich sofort getan. Na ja, Hunger, den man nicht fühlt, sondern bloß liest, der quält ja nicht mehr als Schmerzen, von denen erzählt wird. Mitgefühl in der Seele ist erbaulicher als Peingefühl im Körper. Habe ich lieber Zahnschmerzen oder Kummer? Keiner fragt, keiner antwortet? Weil Gott oder ein ähnliches Phänomen uns ja nicht vor die Wahl stellt? Menschen tun das schon. Da spricht jemand aus, dass er lieber das Magengeschwür des Freundes hätte, als weiterhin den Tod des Sohnes zu ertragen. Abwegig. Aber die Verzweiflung hat eben nicht nur Depressionen im Köcher, sondern auch Fantasie. Die Pfeile reißen tiefe Wunden. So kommt es zu diesen Attentaten in Frankreich, in Deutschland, überall dort, wo ein Verzweifelter sein Leben als letzte Waffe einsetzt.
War das im Schützengraben damals so viel anders? ‚Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.‘ Wie fremd ist uns diese Inschrift des Kriegerdenkmals am Dammtor geworden! Anderen nicht. Ein Leben, das als wertlos erachtet wird, lässt sich leicht opfern, das eigene natürlich besonders freudig, wenn das nächste so viel erstrebenswerter zu werden verspricht: mein Hauptargument gegen Religionen. Wo Religionen Nächstenliebe predigen, sind sie nützlich. Wo sie vorschreiben, was man denken, anziehen und essen soll, sind sie ein Graus.
Essen. Der geschriebene Hunger in der ‚Atemschaukel‘ hat mir nur wieder gezeigt, was für ein beneidenswert mächtiges, lebendiges Gefühl Hunger doch ist. Hungerhaben! Was für eine Offenbarung, was für eine wunderbare Bestätigung der Vermutung: Ich lebe. Ich will etwas. Ich bringe 100 Kilometer hinter mich und 100 Menschen um, damit ich mir etwas in den Mund stopfen kann. Kenn’ ich nur aus Filmen. Und aus der ‚Atemschaukel‘. Schon Knut Hamsun bekam seinen Nobelpreis für ‚Hunger‘. Fürs Sattsein hätte er ihn nicht gekriegt, weil Sattsein für alle steht, die zu viel haben: die Reichen, die Korrupten, die Etablierten. Hunger ist progressiv und dynamisch. Sattsein ist dekadent, degeneriert, regressiv. Die Unterdrücker sind satt, die Revolutionäre sind hungrig. Hunger verändert die Welt, Sattsein lässt sie erstarren. Hunger hat nicht mal einen Gegenbegriff; ‚Sattsein‘ wird mir vom Schreibprogramm rot unterstrichen: Gibt es nicht. Bei mir doch. Essen wurde mir immer schon reingequält. Von Anfang an. Hunger ist Leben, Sattsein ist Tod. Während unserer ganzen Reise habe ich diesen Tod bei jeder Mahlzeit als stummen Gast an unserem Tisch gespürt. Aus jeder Speisekarte, aus jedem Teller lauerte er mir entgegen, kroch mir vom Gaumen in die Eingeweide und flüsterte siegesgewiss durch meine Adern: „Ich krieg’ dich noch!“ Hunger erweckt Leidenschaften, Sattsein erschlafft in Verdrossenheiten. Die lodernde Flamme gegen das unbrennbare Aerogel. Mit der vergällenden Bedürfnislosigkeit schlage ich mich mein Leben lang herum, und kein aufrechter Kämpfer wird mir glauben, dass ich unter meinem bleichen Sattsein genauso leide wie Bedauernswürdigere unter ihrem nachvollziehbaren Hunger.
Selbst das klingt sicher wieder ausgedacht, zählt also nicht. Pointen sind da, wo es um alles geht, unwichtig, sogar ablenkend, also störend. Pointen gehen nur die etwas an, denen die wahren Bedürfnisse (Sichsattfressen, Sichvermehren) abhandengekommen sind und die sich deshalb an Dingen weiden müssen, die nicht auf der Hand liegen und die zu Hirn gehen statt zu Herzen. Tja, tauschen kann ich nicht, nur innerhalb meiner Möglichkeiten das rausschaben, was sich noch vom Mörtel der Wände abkratzen lässt an bröckelnden Hinweisen auf das, was einmal war. Das Schlimmste, was uns passieren kann und muss (!), ist, dass wir einen Augenblick des vollkommenen Glücks zu ertragen haben … und anschließend weiterleben müssen. Der brennende Schmerz eines glühenden Glücksmomentes verlischt erst im Tod. Und wer sich an seinen Erinnerungen nichts als freut, der ist nicht zu beneiden: Er hat das Unvergängliche, Unwiederbringliche mit eigener Seele nie erfahren.
Für viele ist es vielleicht doch besser, solches Glück nie zu erleben. Macht bloß gierig nach Vergangenheit. Ein Ziel zu haben, dauert so schön viel länger, als ein Ziel zu erreichen. Was ist ein kurzer, doofer Orgasmus gegen jahrelanges, hoffnungsloses Schwärmen? Das Wollen ist der Motor. Das Nichtwollen ist die Panne, und ohne pharmazeutischen oder psychologischen Abschleppdienst ist man verloren.
Da liege ich und sehe auf die Palme, auf den Oleander. Die vielen sorgsam gepflegten Kübel mit Stängeln, Blättern, Blüten schaffen eine Atmosphäre sommerlicher Üppigkeit. Die Kargheit der hohen Berge bedeutet mir wenig, aber es macht mir Spaß, sie als Kontrast zu wissen und hier unten aus meinem Hirn heraus abzudenken. Aufsteigen sollen die anderen. Der Nachmittag ist die Zeit, zu der meine Mitbewohner ihre Ausflüge machen, aus Rücksicht auf mich. Vormittags kauft meist Silke ein, Rafał kocht immer, Helga und Susi schließen sich an oder nicht. Carsten arbeitet. Sally döst. Ganztägige Ausflüge gibt es nur, wenn ich dabei bin. Der Mittagstisch ist der einzige Ort, an dem wir alle zusammen sind, also schlage ich auch nicht vor, mich allein zu lassen, obwohl ich die Mahlzeit nicht brauche, die Menschen schon.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Wenn ich Pech habe, werde ich rührselig und denke: „Es gibt viele Menschen, die genauso einsam sind wie ich. Einsamer ist keiner.“ Ich liege still am Rand meines kleinen Gartens und halte mich für ungenügsam. Das gefällt mir: ungenügsam! Meine Ungenügsamkeit, sie wird mit mir verlöschen. Unersättlich? Unvorstellbar. ‚Un-, un-, un-‘ – unbezähmbar, unbelehrbar, unentrinnbar. Unaushaltbar. Diese schwer erträgliche Spanne zwischen erst Daseinmüssen und dann Wegseinmüssen. Es tut allen denkenden Menschen weh, leben zu sollen – aber nicht mehr leben zu dürfen, das tut genauso weh. Dabei nutzt es nichts zu leben, man muss es auch ertragen können.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Und die welken Rosen müssen geschnitten werden. Leider. Aber sie werden nochmal blühen, sie sind zäh.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Wenn ich auf dieser Welt bin, um eine Prüfung abzulegen, dann werde ich sie nicht bestehen. Nur halb interessiert frage ich mich: „Was habe ich aus meinem Leben gemacht?“ Ohne das bereits genau zu wissen, hielt ich mich von Anfang an nicht für besonders geeignet. Zumindest nicht fürs Leben. Schon als ich die Brust meiner Mutter verweigerte und erst recht in der Pubertät. So etwas merkt man zwar schnell, aber man denkt es nicht gleich. Das kommt erst später. Und als ich es dann wusste, sah ich meine Hauptaufgabe darin, es niemanden merken zu lassen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Muss man denn zwangsweise etwas aus seinem Leben machen? Wird einem das nicht nur von unserer Gesellschaft (oder im besten Falle wenigstens von uns selbst) eingeflüstert? Jeder Mensch funktioniert anders, jeder packt die Dinge auf unterschiedliche Weise an. Meiner Erfahrung nach redet man da am besten so wenig wie möglich rein.
Und zwischen all den Spitzen wieder eine kleine Weisheit: Religion soll nicht vorschreiben, sondern Mitgefühl und Nächstenliebe vermitteln. Wie wahr, wie wahr. Wenn das endlich einmal die entsprechenden Kirchenoberhäupter einsehen würden…
Da könnte Kardinal Marx beispielsweise mal ein gutes Vorbild sein und die ‚Ehe für alle‘ nicht als Teufelswerk sondern als Symbol der Liebe unter zwei Menschen akzeptieren. Das wäre tausendmal christlicher als dieser Unsinnige Kampf der Kirche gegen Homosexualität.
Seit heute ist dieses Thema ja hoffentlich ein für alle Mal erledigt. Auch wenn Frau Merkel dann doch wieder ihrem Bauchgefühl gefolgt ist und gegen die „Ehe für Alle“ gestimmt hat (Manche lernen’s halt nie), sollte hoffentlich jeder einsehen, dass eine „offene und respektvolle Diskussion“ über so etwas wie Diskriminierung und Menschenrechte schlicht schwachsinnig ist. Das Gesetz ist endlich(!) durch. Unter welchen Umständen auch immer.
Anscheinend werden emotionale Verletzungen und physischer Schmerz in derselben Hirnregion verarbeitet. Das sagte jedenfalls mal ein schlauer Artikel in der Welt. Demnach macht das dann natürlich durchaus Sinn, wenn wir sagen, dass Liebeskummer ‚weh‘ tut.
Leben tut weh. Gott sei Dank nicht immer. Dem schönen Schmerz der Nostalgie stehen die Freude am Augenblick und die Hoffung auf die Zukunft gegenüber. Auch nicht immer. Bin gespannt, ob Totsein weh tut.
Ich freue mich nicht besonders auf den Tod. Ich mag mein Leben eigentlich doch ganz gerne. Das einzig positive, wenn es dann irgendwann soweit ist, scheint mir die Tatsache, dass Totsein eben nicht weh tut. So rede ich es mir jedenfalls ein.