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0810
Fast am Ziel

Kriegsfrieden | #23

Wir versuchten, was wir konnten, aber diesen Schlossblick von der Bucht in den Sonnenuntergang, den erwischen wir einfach nicht. Wir kamen weder mit den Beinen noch mit den Rädern dicht genug an den Abhang, um runterzugucken. Aufgeben, wenn es um nichts geht, ist mir fremd. Rafał, so gutmütig wie abenteuerlustig, folgte meinem Vorschlag, die Klippe einen schmalen Weg herunterzufahren, der nichts als ‚Beach‘ versprach, was hier üblicherweise bedeutet, dass man dafür zahlen muss, auf Felsen liegen zu dürfen. Ein paar späte Sonnenselige kamen uns in ihren Autos entgegen. Unten war es leer: diese Leere, die vorher schon im Trubel zu spüren ist, die sich aber erst mit dem Abziehen der letzten ‚Juxer‘ über das Land breitet und die die Wellen einzuebnen scheint. Alles wird flach. Wir stiegen aus. Ein Stück weiter sah ich etwas, das ich mir als Lösung unseres Wohin-Problems vorstellen konnte. Rafał fuhr weiter über Sand und auf den Parkplatz. Von Nahem sah das Gebilde aus Räumen und Terrassen einladend aus, und das Personal so, als sei es anspruchsvolle Kundschaft gewohnt. „Wir wollen nur etwas trinken“, wehrte ich in meinem schnöseligsten Italienisch ab, aber jemand, der mir auch einen Smoking oder seinen Liebhaber verkauft hätte, führte uns verbindlich lächelnd an den Essmöglichkeiten vorbei auf eine Terrasse mit Strandbar ohne Strand und wenigen Gästen mit Gläsern.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Wir setzten uns dicht ans Meer, die Sonne war weg, und ich fand es etwas kühl. Silke trinkt dann meist Mineralwasser ‚con gas‘ und wenn möglich mit einer Scheibe Zitrone, manchmal gibt es sogar Sanbitter, das erinnert von Ferne an Campari ohne Alkohol; Rafał bestellt im Allgemeinen Aperol Spritz, besonders, wenn er wieder ans Steuer muss, und ich bleibe bei Negroni. So wie vorhin an der Badebucht gerade alles vorbei war, so hatte hier noch nichts angefangen. Die schwarzweiß angezogenen jungen Männer und Frauen, die später der Kundschaft gefallen sollten, lehnten noch lässig an der Theke. Schwarzweiß war auch die ganze Einrichtung mit den tiefen Tischen und hochlehnigen Sesseln. Alles war wunderbar künstlich und gestylt. Nichts erinnerte an irgendetwas Lebendiges, es war die Kulisse für das Manifest von Unvergänglichkeit der Materie: Sterben ist unmöglich, alles wird zu Pulver und aus Pulver neu gemacht. Die Sonne war weg, die Gläser leer, wir gingen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Form besteht aus Wiederholung, als wörtliches Zitat oder als Abwandlung des Ursprünglichen. Wir wählten den einfachsten Weg und fuhren zum Obelisken. Wer zwei Abende hintereinander ins selbe Lokal geht, der ist doch Stammgast, nicht? Der Wirt fragte: „Avete riservato?“ Da ich sonst ja eigentlich immer reserviere, fühlte ich mich ertappt, als hätte ich die Pasta-Zange in die Tasche gesteckt. „No“, antwortete ich schuldbewusst. Wir bekamen aber trotzdem einen Tisch, in der zweiten Reihe. Es war voller als gestern. Die Gruppe direkt vor uns beherrschte die Szene. Alle waren hübsch angezogen. Eine höchst aufgeräumte junge Frau versuchte, die ganze Gesellschaft zu belustigen, dreizehn, ohne sie. Sie ging herum und hielt dabei Plädoyers wie im Gerichtssaal. Einige lachten an einigen Stellen, andere schienen durchgehend das Einschlafen zu vermeiden. Offenbar sprach sie über jeden von ihnen, nicht unfreundlich, aber auch nicht sehr inspiriert, eher engagiert. Vielleicht war es unterhaltsamer, den Auftritt vom Nebentisch aus zu beobachten als dabeizusitzen. Das wäre mir früher nicht passiert: lieber zu beobachten als teilzunehmen. Warten statt machen. Eigentlich stand ich nie auf der Bühne, immer saß ich im Parkett. Ein schaler Gedanke. Der Averna schmeckte wie Hustensaft. Ich trinke ihn ohne Eis, nicht, weil es gesünder ist, sondern, weil es intensiver schmeckt, heute nach Hustensaft.

Foto: Ruslan Semichev/Shutterstock

Silke ging nicht nach drinnen wie Rafał und ich. Sie mag Stehklos nicht. Rafał hatte ein Date. Sein Smartphone bietet ihm allabendlich genügend Auswahl, um nicht im Hotelzimmer versauern zu müssen. Ich versüßte mir den Abendrest mit ‚Vienna‘ von Eva Menasse. Ab morgen würden wir auf dem Balkan sein, dem ‚Pulverfass‘, wie er wegen seiner revolutionären Unruhen gegen die österreichische Herrschaft seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches genannt wurde. Mir kam mein Gedicht von 1994 in den Sinn, dann schlief ich ein.

Kriegsfrieden

Auf einem Stehklo
in Sarajewo
stand ich beim Hagel der Granaten
mit einem bosnischen Soldaten
allein zu zweit.
Alles war eh so
total beschissen,
es kam schon gar nicht mehr drauf an.
Da hab ich ihn – verrückte Zeit! –
mitten im Pissen
küssen müssen:
schaurig, traurig,
von Mann zu Mann.

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