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Wir fuhren durch völlige Finsternis, umso erleuchteter war der Ort. Ganz Apulien schien sich an Buden vorbei dem Mark entgegenzuschieben, dementsprechend gesperrt war alles, was uns den rechten Weg gewiesen hätte. Eine Polizistin, der ich den Krüppel machte und auf unseren Tisch in der ‚Grotta Palazzese‛ hinwies, ließ uns passieren, aber Rafał am Steuer hatte trotzdem alle Finger voll damit zu tun, Menschen anzuhupen, zu bedrängen und am Leben zu lassen. Hinzu kam, dass er die ein‘ oder andere Barriere beiseiteschieben musste und die dummen Südländer, die, statt uns ehrerbietig auszuweichen, ungerührt ihren billigen Belustigungen nachhingen.
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Als wir dem Trubel endlich entronnen waren, wurde es nicht besser; denn nun mussten wir uns durch so enge Gassen quälen, dass jedes entgegenkommende Fahrzeug den Untergang bedeutet hätte. Die Seitenstraßen waren noch uneinsichtiger als die Kirmesbummler: Kam da was von rechts oder von links und ging es jetzt geradeaus weiter oder um die Ecke? Rafał wurde immer hibbeliger, der Navifrau hatte er schon längst das freche Lügenmaul gestopft. Ich erinnerte mich nicht, dass die Zufahrt zur Grotte so beschwerlich gewesen war, aber, na ja, der Wagen war viel kleiner gewesen, der Verkehr viel zahmer und ich viel jünger. Vor ihren Häusern saßen die Menschen furchtlos auf dem, was sie wohl für ihre Straße hielten. Von Kindesbeinen an hatten sie gelernt, dass stehen und sitzen zu bleiben bequemer ist als Platz zu machen. Schrittgeschwindigkeit ist das Maß aller Dinge, und wer trotzdem überrollt wird, kann sich darauf verlassen, dass die teilnahmsvollen Nachbarn den Fahrer lynchen werden.
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Einige unsystematisch verstreute Hinweisschilder hatten uns schließlich doch den Weg zu der Gasse gewiesen, an deren Ende sich unser Ziel befand. Noch erstaunlicher: Fünf Meter vor der ‚Grotta Palazzese‛ klaffte eine Lücke in der ansonsten undurchdringlichen Kette der geparkten Wagen. Die Gedanken an den schnöden Kinderdiebstahl vor 37 Jahren verscheuchte ich, obwohl der grimmige Alte, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor seiner Tür saß, nicht aussah, als würde er die Stirn runzeln, wenn ein Asylant, ein Apulier oder ein Abschleppwagen unseren Mercedes in seine Gewalt brächte. Lieber dachte ich daran, dass der schöne Tisch am Meer nun fast vor mir lag. Ich hatte falsch gedacht.
Am Eingang standen viele Menschen, deren gehobenes Äußeres darauf schließen ließ, dass sie sich ebenfalls mit dem Beköstigungstermin einundzwanzig Uhr dreißig einverstanden erklärt hatten. Hinter einem Pult saß jemand in der Eingangsnische, jemand Zweites stand hinter ihm und gemeinsam sorgten sie dafür, dass die Schlange vor uns dünner wurde. Schon wieder ‚Berghain‛, dachte ich und sagte, als wir dran waren, leutselig, wie gern ich in dem Hotel gewohnt habe. Sie kaschierten ihr Desinteresse einigermaßen und erlaubten uns, den Weg nach unten anzutreten. In den Siebzigerjahren war mir nicht nur die Zufahrt viel unproblematischer vorgekommen, auch den Abstieg ins Lokal hatte ich in gar keiner Erinnerung, also in guter. Einen Fahrstuhl gab es nicht, aber unzählige Stufen, die ich nun hinabtapern musste, ohne auf meinen Vordermann zu stürzen oder in meine Hinterfrau zu fallen. Je tiefer wir uns wanden, desto lärmiger wurde es. Als ich es bis zum Fuß der Treppe geschafft hatte, war ich nicht nur mächtig stolz, sondern auch gleich Opfer einer Kellner-Attacke. Der Vorwitzigste von ihnen führte uns an einen Tisch, der ihm passender erschien als mir. Wir saßen zwar ziemlich nah am Wasser, aber nicht am offenen Meer, sondern im Innern der Grotte mit Blick nach unten in etwas, das auch die städtische Kläranlage von Bari hätte sein können. Es war so schummerig, wie es von Hotelausstattern für elegant gehalten wird, und wir wurden vom selbstbewussten Personal so unfreundlich bedient, wie es touristischer Laufkundschaft recht geschieht, aber wenigstens die Preise waren von exquisiter Höhe.
In meine Appetitlosigkeit mischte sich eine verhaltene Sehnsucht nach der welken Spanierin von gestern, doch jetzt mussten wir unsere Bestellungen in die Dunkelheit brüllen. Dass wir alle drei nur (exorbitant teure) Vorspeisen bestellten, steigerte unsere Beliebtheit nicht. Ich will doch immer von allen gemocht werden, aber in meinem Kopf wurde das Trinkgeld von Minute zu Minute kleiner. Die Kellner waren charakterlich das Tonic im Gin nicht wert, und andere Vorzüge gehen mich nichts mehr an. Was wir aßen, war sehr gut, aber für die paar Bissen die ganze steile Treppe und die genauso steile Abbuchung von meinem ‚American-Express‘-Konto? Der Laden war voll. Das Leben tobte. Der arme Mezzogiorno? Süditalien im Reichtum. Für Silke, für Rafał und für mich hatte ich wieder einen Punkt von meiner Liste abgehakt. Ich erlaubte mir nicht, enttäuscht zu sein, sondern fand es schön, dass ich meinen beiden Mitreisenden die Grotte gezeigt hatte und dass ich selbst sie erlebt hatte, als sie noch etwas Besonderes gewesen war, weil sie noch nichts Besonderes gewesen war.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Treppauf ist immer leichter als treppab; das Gleichgewicht funktioniert besser. Das Auto war weder von Ganoven noch von Polizisten abgeschleppt worden, sogar die Absperrungen waren weggeräumt. Der Rückweg verlief stiller als der Hinweg. Kaum Menschen, kaum Lichter. Wir gingen auf unsere Zimmer, große, komfortable Zimmer. Ich genoss das luxuriöse Bad und das breite Bett, und während ich mich aufs Einschlafen freute, dachte ich: ‚Ich schleppe mich durch mein Leben, und nie vergesse ich: Das Leben ist tödlich.‘
Das ‚Grotta Palazzese‘ sieht wirklich atemberaubend aus. Trotz des nicht gerade schmeichelnden Erfahrungsberichts bekomme ich schon Lust mal wieder einen Italienurlaub zu machen. Ihrem Blog zufolge sind Sie ja ein passionierter Italienkenner. Darf ich fragen, welche Region ihr Geheimtip wäre?
Wenn ich mir erlauben darf ungefragt zu antworten… Sizilien (Palermo, Taormina, ach eigentlich die ganze „Königin der Mittelmeerinseln“) ist auf jeden Fall eine Reise wert!
Meine Lieblings-Schauplätze werden am Ende des Reise-Berichts ‚abgearbeitet‘ sein. Mich für eine einzige Region zu entscheiden, fällt mir schwer. Ich denke, es wäre die Campagna: sie ist immer vertraut, aber wird nie Heimat.
Oh vielen Dank Herr Rinke, ich bin gespannt auf die kommenden Abschnitte ihres Reisetagebuchs. Ein gesundes und produktives neues Jahr! 🙂
Wenn auch ich meine bescheidene Meinung beisteuern darf: Die Sila in Kalabrien ist wirklich atemberaubend. Als Naturliebhaber kommen Sie jedenfalls voll auf ihre Kosten und beim Wandern können Sie mitunter gar auf ein Rudel Wölfe treffen.