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0610
Fast am Ziel

Duino | #22

Dreimal war ich von meinem weiß lackierten Terrassenstuhl aufgestanden, weil ich ein Klopfen vom Zimmer her gehört zu haben glaubte. Jetzt stand Rafał wirklich im Flur. Er und Silke hatten nicht nur Kaufenswertes entdeckt, sondern sogar den Eingang vom ‚Duca D’Aosta‘. Eher unscheinbar. Kein Monument glorreicher Zeiten. Dann konnten wir ja getrost weitere Ziele abarbeiten. Silke war schon umgezogen, als wir aus der Fahrstuhltür traten. Keine Experimente: Man kann nie wissen, ob das Leben nicht doch plötzlich elegant wird …

Foto links: RomanYa/Shutterstock | Foto rechts: Nejron Photo/Shutterstock

Wir fuhren in der Abendsonne, eigentlich fuhren wir in die Abendsonne, was besonders für Rafał am Steuer weniger Marlboro-Romantik als Aufklappen der Sichtblende bedeutete. Zunächst mal steuerten wir, weil wir ja sowieso am Wasser waren, das Schloss ‚Miramare‘ an. Meine Erinnerung hatte mich nicht getrogen: Es lag leicht erhaben am Wasser und ließ Besucher nur bis zu einer Barriere an sich heran, für alles Weitere forderte es die Füße oder den Rollstuhl. Wir blinzelten in das gleißende Rot und das weiße Gebäude davor (wie langes Jenisch Haus plus Turm), das musste reichen. Kehrtwende, nächster Punkt.

Foto: d13/Shutterstock

Die Navifrau bekam zu tun, sie sollte uns zum Schloss ‚Duino‘ lenken. Das war ja nun kein Kinderspiel für sie, aber immerhin wusste sie, dass wir erst mal den Berg rauf mussten und oben an der Steilküste entlang. Auch für Silke und Rafał war der lässige Straßenbummel vorbei: ‚Duino‘, das ist Geschichte, nicht gleich Cäsar, Napoleon und Hitler, aber immerhin: ‚Duino‘ gehört Prince Carlo della Torre e Tasso, (in Deutschland sagt man dazu Thurn und Taxis), Duca di Duino. Wer will, kann, wenn der Duca es erlaubt, den Flügel, auf dem Franz Liszt musiziert hat, zwar nicht bespielen, aber betrachten. Wer war noch da? Kaiserin Sisi und Kaiser Franz Josef I., Erzherzog Maximilian mit Charlotte, Eleonora Duse, Johann Strauss, Gabriele D’Annunzio, Paul Valéry, Mark Twain, Victor Hugo und Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este. ‚Neue-Welt‘-Leserinnen wird ganz schwindelig von sowas, doch auch die Navidame wollte uns gerade eben noch die Ortschaft Duino zeigen, aber mehr auch nicht. Ein verschämtes Schild wies uns dann doch den Weg.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Außer uns waren nur ein Mann und eine Frau da. Ein unbefahrbarer Kopfsteinpflasterweg führte zu einem versperrten Tor, hinter dem das alte Gemäuer vor sich hinsiechte. Bis 1399 war die Herrschaft Duino Lehen und die dort an der Küste gelegene gleichnamige Burg Stammsitz der Herren von Duino. Um diesen alten Klotz ging es aber nicht. Das den Füßen und selbst den Blicken nahezu verschlossene Schloss lag eine Ecke weiter, und wenn man zu einer besucherfreundlicheren Zeit dort ankommt, sieht man nicht nur Liszts Klavier, sondern auch die Bucht von Sistiana und den Golf von Triest von oben. Die größte Berühmtheit genießt dieses Schloss innerhalb der riesigen Gemeinde der Lyrik-Freaks aber deshalb, weil Rainer Maria Rilke dort seine ‚Duineser Elegien‘ zu schreiben begann. Die zehn Elegien beschreiben wenige glückliche Augenblicke und beklagen die Unvollkommenheit menschlichen Bewusstseins. Irene war von ihnen so beeindruckt, dass dieser Insel-Band das erste Geschenk war, das sie meinem zukünftigen Vater machte.

Rinke war aber wohl nicht so hin und weg von Rilke; jedenfalls erinnerte sich meine Mutter später, als auch ich begonnen hatte, Gedichte zu verfassen und vorzutragen, mehr einsichtig als enttäuscht: „Ihn hat es wohl nicht so beeindruckt.“ Sie hatte ja inzwischen auch dreißig Jahre Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, dass Rinke mit Rilke nicht so viel anfangen konnte. Pali hingegen hat es meinen Eltern nie verziehen, dass sie mich nicht ‚Hanno Maria‘ genannt haben. Seinen vorübergehenden Katholizismus hatte er längst abgestreift, aber sein Faible für Klangmalerei blieb ihm bis zum Tod erhalten. Meine Großmutter Maria, selbstgerecht und gottesfürchtig, hätte diesen Mittelnamen geliebt an mir, ich hätte es schrecklich manieriert gefunden und das ‚Maria‘ in meinen Visitenkarten weggelassen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto Mitte: enterlinedesign/Shutterstock

Trotzdem. Wer will, kann jetzt den letzten Teil meines Poems über die vier Jahreszeiten von 1965 lesen:

Doch dann der Winter –
trockene Askese,
glitzernde Eiskristalle
schärfer als Verstand;
ein Insichdringen,
Rückzug in den Geist,
der Rechenschaft verlangt.
Die eigne Form, die eigne Kraft der Bilder,
sie muss sich neu entdecken,
meditieren.

Durchsichtig ist der Frost,
Schnee hüllt das Fenster.
Dahinter ist es still,
denn dort entsteht
das Neue,
das bestehen muss.
Die tiefe Einkehr baut sich ihr Gerüst,
um das Gedanken und Gefühle ranken werden.
Gehalt wird jetzt geprägt, der nüchtern wirkte,
gäb ihm nicht jeder Monat seine Eigenart;
durchwandern muss in wechselnder Beleuchtung
der Sinn die ihm gegeb’nen Möglichkeiten,
stets neu verhüllt, doch nie verborgen,
liegt hier der wahre Schöpfungsakt.

Auch ich bin wie das Jahr,
erprobe ständig,
durchglüht von aller Zeit und jedem Wissen,
das einmal nur sich mir erschlossen hat.
Oft bin ich einsam,
häufig in der Menge;
ich scheine abgetrieben,
doch ich treibe niemals weit –
so soll es bleiben,
lebenslange Suche,
ich bin zufrieden mit der Ungenügsamkeit!

Foto links: BMJ/Shutterstock | Foto Mitte: TippaPatt/Shutterstock | Foto rechts: ESB Professional/Shutterstock

Noch nicht wirklich ich, aber auch nicht mehr ganz Rilke. – Das war nun aber genug Kultur.

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