Nun also wieder Meran, und hier passiert rein gar nichts. Meine Eltern gehen täglich in das leere Haus nebenan und richten es, den wechselnden Tageszeiten entsprechend, unterschiedlich ein, auch Farbe der Wände und Fußbodenbelag wechseln mit dem Sonnenstand. Irene erleidet von Zeit zu Zeit einen Wutanfall, weil sie befürchtet, dass sie nicht ernst genommen wird und ihr die Sache über den Kopf wächst. Dann sagt Guntram: ‚Püüüppchen!‘, und es wird weiterdekoriert. Manchmal gehe ich mit, meist nicht. Ich kaufe lieber Lebensmittel ein und koche. Ich koche jeden Tag, und es macht mir Freude. Aufs Schlucken habe ich weniger Lust und halte nur zum Schein mit, damit es nicht aussieht, als hätte ich was Unrechtes an die Speisen getan. Liebevoll kochen – bescheiden essen. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass ich endlich meinen Narzissmus aufgebe, dass ich ein – zumindest gastronomisch – nützliches Mitglied der Gesellschaft werde, zumindest für meine Eltern. Wer schon so anfängt, wird vielleicht nochmal die Welt verändern, vielleicht sogar zum Guten. Auch eine andere positive Entdeckung hab’ ich an mir gemacht: Ich will nicht mehr sterben. Ich will bloß noch tot sein.
Etwas merkwürdig und meinen Todesabsichten zuwiderlaufend ist, dass ich dem Wurstverkäufer im ‚SPAR‘-Laden Unter den Lauben verfallen bin. Er hat – Du wirst Dich wundern – keinen Kerlsbart, sondern trägt die poetischen Lippen ungeschützt. Er hat taubenblaue, verträumte Augen, dichtes, wenig gelocktes, tiefdunkles Haar und den anmutigsten, hüftlosen Aprikosenarsch unter der Jeans, den man sich vorstellen kann.
Wenn er sich umdreht, um Schinken hauchdünn mit der Maschine zu schneiden, so ist das ein Anblick wie der erste Atemzug aus der Poppersflasche oder die erste Magnolienknospe im April. Er ist kein Kind mehr – Ende zwanzig? –, aber er hat die schöne Unerwachsenheit der Neugierigen. Sein Blick sagt: ‚Ich seh’ dich, was willst du?‘ Wenn ich vom Gemüse aus um die Ecke biege und meine rote Nase schon ein bisschen schneller ist als der Einkaufswagen, dann schießt er bereits, noch bevor ich die Augen so weit aufreißen kann, als hätte ich welche, diesen Blick ab: ‚Ich seh’ dich, was willst du?‘ Er kann mich gar nicht bemerkt haben – er zieht ja Pelle ab und will sich nicht in den Daumen schneiden –, aber doch.
Nun forsche ich am Knoblauchpulver rum, als schriebe ich darüber eine Doktorarbeit, das Kräuterregal befindet sich unmittelbar vor dem Aufschnittstand. Sein Blick nimmt mir nicht eine Sekunde irgendein Interesse für das Würzpulver ab, beschämt ziehe ich mich zurück. Ich luge zwischen den Brechbohnenbüchsen durch, ein todsicheres Versteck eigentlich, aber ich fange doch sein unglaubliches Ichsehdich-Waswillstdu auf, weder abweisend noch kokett, ohne Witz, aber nicht ganz ohne Spannung.
Die Unentrinnbarkeit der Situation lässt mich Größe aufbringen, und ich trete vor wie der tapfere Soldat, wenn beim Morgenappell gefragt wird: ‚Wer hat heute Nacht den Hauptmann erschossen?‘ Allerdings kaschiere ich meine plumpe Tapferkeit raffiniert, indem ich mich von allen Frauen am Stand wegdrängen lasse. Sagt eine: ‚Sind Sie vor mir dran?‘, lüge ich sofort: ‚Nein.‘ Die Umständlichsten unter den Käuferinnen sind mir die liebsten, und ich freue mich, wenn sie gar nicht wissen, was sie wollen. Er betrachtet dann die Oberfläche ihrer Gesichter lustlos fragend, etwas verschlafen, und ich kriege auch einen für die Kundinnen entbehrlichen Seitenblick ab, so was wie das weggeschnittene Stückchen Fettrand am Schinken. Wenn sie sich dann nach unzähligen Töpfchen mit Artischockenherzen und Fleischsalat noch hundert Gramm Salami geben lassen, gerate ich ganz aus dem Häuschen vor Freude, denn nun muss er an diese Maschine und mir, leicht vorgebeugt, den Rücken zuwenden. Vorne die lange, weiße, züchtige Schürze, hinten klafft dieser aufgeweckte Jeans-Arsch, das hat so was Frivoles.
Das Einkaufen als Vorgeplänkel zum Akt war, gerade hier in Meran, meine besondere Leidenschaft. Zum Beweis führe ich den Ausschnitt meines Briefes vom 17. Juli 1992 an Pali an:
Foto: BMK/Wikimedia Commons | CC BY-SA 2.0
Natürlich ist er eigentlich Vegetarier. Den Ekel, den er für die in Plastikdärme gepressten Fleischabfälle empfindet, die er den Frauen ins Pergamentpapier säbelt, schluckt er mit Verachtung runter, und er schneidet den Schinken deshalb so transparent, damit er sich statt rosa Schweinebacke die durchsichtigen, zyklamfarbenen Blütenblätter einer Riesenorchidee vorstellen kann, dann dreht er sich wieder um und fragt sinnend: ‚Qualcos’altro, Signora?‘, oder wenn die Frau Tirolerin oder Touristin ist, fragt er: ‚Sonscht noch was?‘ Er gibt ihr das Päckchen nicht einfach umgeschlagen wie Klappstulle, sondern – Papier oben, Papier unten, damit nichts verklebt – eingerollt wie ein Geheimnis.
Foto Mitte: Gita Kulinica/123rf | Foto rechts: MSSA/Shutterstock
Sein eigenes Geheimnis ist, dass er nur ‚eigentlich‘ Vegetarier ist, also nicht wirklich, sondern nur in seiner Fantasie. In Wirklichkeit nimmt er in unbeobachteten Augenblicken ein kleines Stück Wurst zwischen die Finger und schnippt es mit der Geschwindigkeit eines Vogels, der sich einen Krümel vom Gartentisch holt, zwischen die Zähne. Es schmeckt wie ein mild geräuchertes Verbot, in Lust gepökelt. Ein bisschen nach der wunden Achselhöhle eines Siegers, der die Arme hochwirft im Triumph. ‚Qualcos’altro Signora?‘ – ‚Niente!‘
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Meine Zuneigung für die solchen erotischen Träumen äußerst dienlichen Hausfrauen schlägt allerdings in der Schlange vor der Kasse abrupt in blanken Hass um. Ich schubse sie beiseite, wo ich kann, und warte dennoch endlos. Was müssen diese unförmigen Weiber so viel Kram kaufen? Eine Binde, ein Napf ‚Du darfst‘ und ein Paket Knäckebrot, das sollte doch für den ganzen Monat reichen. Auch Toleranz hat Grenzen; wer sich jenseits dieser Grenzen noch als ‚tolerant‘ bezeichnet, der ist bloß dumm oder teilnahmslos oder chaotisch. Liberalität, das ist für die meisten Menschen: Gleichgültigkeit, wo’s mich nicht zwickt. Mich zwickt’s aber. Was kann ich tun, mein Gott?
Zunächst mal warte ich ab, ob ich anfangen werde, die Mortadella einzelscheibenweise zu kaufen und zwischendurch immer mal wieder einen gefüllten Schweinsfuß, dessen ich mich anschließend verstohlen in einen Papierkorb der Kuranlagen entledigen muss. Ich ängstige mich nur ein wenig vor der Kriminalpolizei, die hinter den Leichenteilen in den Meraner Abfallkübeln sexuelle Ausschweifungen wittern könnte. „Noch mehr Parmaschinken? Wir haben doch noch welchen von gestern“, sagt meine Mutter, aber dann bitte ich sie aus der Küche und stelle den Backofen an.
Ansonsten lese ich aufmerksam Sloterdijks ‚Kritik der zynischen Vernunft‘, genauer gesagt deren ersten Band, keine leichte Kost für jemanden, der seit Jahren nur noch die Memos unseres Präsidenten gewohnt ist und seine literarische Befriedigung im Korrigieren der eigenen Hausnotizen finden muss. So lese ich langsam und geduldig, im Liegestuhl auf der Terrasse, unendliches Grün über dem Buchrand, während Irene, einen Liegestuhl weiter, im Laura-Ashley-Katalog blättert und Guntram den Wetterbericht für Nordrhein-Westfalen in der ‚Bild‘-Zeitung studiert.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Zurück im Jahr 2016. Wir essen von Geschirr, das Silke und ich im Veneto, in der Nähe von Marostica, gekauft haben. Silke war das Meraner Geschirr meiner Eltern einfach zu einfach gewesen, und ich musste ihr beipflichten. Wir geben uns auch nicht mehr mit Papierservietten zufrieden, sondern benutzen weißen Stoff für unsere Münder. Rafał wäscht und bügelt täglich. Endlich lebe ich in einem geordneten Haushalt.
In meiner Umgebung komme ich mir gleich etwas weniger oberflächlich vor. Es geht nämlich nur um Essen und Garderobe: natürlich nicht um ausreichend Nahrung für Bedürftige oder um warme Kleidung für Flüchtlinge, sondern um neue Rezepte für Lachse und hübsche Jacken für kühle Abende. Ein bisschen ist es wie unter Weltenrettern, deren Gespräche auch immer um dieselbe Thematik kreisen, bloß dass das Vorzeichen vor deren Märtyrer-Melodie nicht wie bei uns ein sanftes B ist, sondern ein grimmiges Kreuz.
Während ich mit der linken Hand so zu essen versuche, als sei es die rechte, höre ich zu und mir fällt auf, dass es nicht um Inhalte geht, sondern um Form: Wie lässt sich etwas auf Smartphone vergrößern, wie rede ich auf WhatsApp Leute an? ‚Hallo Kevin‘, ‚Lieber Kevin‘, ‚Hi, Kevin‘, ‚Fick dich, Alter!‘ oder wie? Fragen zum analogen Leben dringen gar nicht mehr durch, es sei denn, es handelt sich um das Waschprogramm der Maschine im Keller. Diese Art der Betäubung zwischen Nudeln und Nachtisch tut wirklich gut: Ich lasse mich gern davon überzeugen, dass die Welt sich um die beste Art, Pancetta kross zu braten, und um Probleme wie ‚Hallo‘ oder ‚Lieber‘ dreht. Dann kann ich allen Schmerz der Welt wegschieben und mich in meine Umgebung eingeebnet fühlen. Der pessimistische Konservative sagt: „Wir müssen die Welt nehmen, so, wie sie ist, eine bessere haben wir nicht.“ Der vorwärtsstrebende Progressive sagt: „Die Zustände, so, wie sie sind, gehen gar nicht. Wir müssen sie besser machen. Packen wir es an!“
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Na gut! Siege sind wirklich nett und kommen auch ab und zu vor. Der Einzelne, auf den es ja nicht (oder nur) ankommt, will aber bald mehr als dumme Siege: die endlose Seligkeit zum Beispiel. Ärgerlich ist, dass Erfüllung und Tod ganz dicht beieinanderliegen, und wer das eine sucht, der muss sich auf das andere gefasst machen. Ach, da denke ich lieber gar nicht weiter, sondern warte gespannt auf den Nachtisch und lasse mir erzählen, dass bei ‚Schönthaler‛ jetzt neue Ingwerschokoladen im Sortiment sind oder was sonst noch in der Welt vorgeht. Draußen.
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Meistens sage ich zu all dem nichts, sondern höre bloß zu und kaue. Langweilig möchte ich nicht sein, vor allem deshalb nicht, weil man mit Langeweile seine Botschaften schlecht vermitteln kann. So warte ich darauf, dass mir Pointen einfallen, bevor ich rede. Habe ich eine erwischt, höre ich sofort auf zu schweigen. Locker soll das klingen. Lieber lasse ich mein Sendungsbewusstsein darben und mich von Bestmenschen bekritteln, dass ich bloß rumfasele, als das Unerreichbare sowieso nicht zu erreichen und es dem Erreichbaren durch zu viel Gedankenmüll noch schwerer zu machen, als es allem, was mehr ist als nackte Information, sowieso schon fällt, durchzudringen.
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Wer welche Meisterschaft gewonnen hat und welcher C-Promi welchen Z-Promi verlassen hat, ist am jeweiligen Tag interessanter, als es die ewigen Fragen sind, die ungerührt und ungelöst im Raum stehen und wissen, dass sie noch Generationen zusetzen werden, wenn der Champion und der Promi im Erdboden schon nicht mehr nachweisbar sind. Auch eine Pointe? Jeder lacht gern. Es soll ja auch gesund sein. Darum trage ich bereitwillig dazu bei. Aber wie?
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Der Mensch und seine Frau neigen dazu zu glauben, sie hätten Humor, schon deshalb, weil das eines der wenigen Merkmale ist, das sie vom Tier unterscheidet. Das Bedürfnis, und damit auch die Fehleinschätzung, Humor zu besitzen, so wie man ein Kind oder ein Haus besitzt, ist ihnen im Westen durch die Renaissance und die Aufklärung nahegelegt worden. Trotzdem wird Komik oft mit Oberflächlichkeit in Beziehung gebracht. Trotz Kästner womöglich zu Recht, weil Comedians mit Witzigkeitsversuchen ziemlich schamlos umgehen. Oberflächlichkeit und Schamlosigkeit: Da schneide ich mir doch glatt ein paar Scheiben ab – hauchdünn. Komik liegt ja – oft unbemerkt – auf jeder Straße, und sie kleckert aus den vollgeschriebenen Seiten jeder ernst gemeinten Rede, die man nicht ernst nehmen kann. Komik braucht man gar nicht zu erfinden, man muss sie nur finden. Und sich bedienen. Ich kaue und ich klaue.
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Rafał denkt sich alle möglichen Desserts aus. Silke isst keinen Nachtisch und kein Schaf und kein Kraut und auch vieles andere ungern. Am liebsten isst sie gar nichts, aber auch davon nur die Hälfte.
Vor dem Mittagessen habe ich einen Fernet Branca getrunken, um mir Appetit zu machen, nach dem Essen setze ich mich vor meine Tastatur oder lege mich auf meine Terrasse. Das bin ich dem Wetter schuldig, wenn es gut ist. Darum ist mir schlechtes Wetter lieber.
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„So warte ich darauf, dass mir Pointen einfallen, bevor ich rede.“ Anstelle von 100g geräuchertem Schinken sollte sich der ein oder andere eine Scheibe von dieser Lebensweisheit abschneiden. Geschwätzigkeit ist mir eine der unerträglichsten Eigenarten. Und mit jedem weiteren Lebensjahr wird das Ertragen schwerer. Ich frage mich ob irgendwann doch noch der Punkt kommt, an dem man sich nach ein bischen Zuwendung und Geschwafel sehnt, oder ob ich einfach allein aber zufrieden wegsterbe.
Wenn unsere Generation Sloterdijk als schwere Kost einschätzt, was muss dann jemand denken, der mit den Tweets von Donald Trump und Diether Bohlens ‚professionellem‘ Urteil aufwächst? Früher war noch nie alles besser, trotzdem sind’s schlechte Aussichten.
Demokratie ohne Bildung ist nun mal gefährlich wie Autofahren mit Schnaps.
Und weil Autokratie ohne Bildung umso besser funktioniert, wird in der Türkei ja gerade die Evolutionslehre einfach komplett aus dem Lehrplan gestrichen. Verkehrte Welt. Ich fühle mich manchmal als würde die Zeit rückwärts laufen.
Frau DeVos leistet in den USA ja ähnlich wertvolle Arbeit. Je ungebildeter der Wähler, desto besser die Umfragewerte für Trump und Co. Damit ist ja eigentlich auch klar was das einzig clevere Gegenmittel ist: Bildung, Aufklärung, Information. Los geht’s, solange einen die Autokraten noch lassen…
Ich als vorwärtsstrebender Realist möchte sagen: Wir müssen die Welt so nehmen, wie sie ist. Aber die Zustände müssen wir besser machen. Das bezieht sich sowohl auf das optimale Rösten von Pancetta wie auf unser gesellschaftliches und politisches Miteinander.
„Jeder Mensch erwerbe sich Humor! Das ist nicht unmöglich. Denn immer und überall ist es einigen gelungen. Der Humor rückt den Augenblick an die richtige Stelle. Er lehrt uns die wahre Größenordnung und die gültige Perspektive. Er macht die Erde zu einem kleinen Stern, die Weltgeschichte zu einem Atemzug und uns selber bescheiden. Das ist viel. Bevor man das Erb- und Erzübel, die Eitelkeit, nicht totgelacht hat, kann man nicht beginnen, das zu werden, was man ist: ein Mensch.“
(ohne weiteren Kommentar)