Bis auf den kurzen Zubringer hatten wir den Rest der Strecke Autobahn. An Venedig vorbei – eigentümlich, dort nicht wie fast jedes Jahr zu verweilen, sondern dort wie noch nie einfach entlang zu rauschen – aus dem Veneto über das Friaul nach Venezia Giulia. Wer sich ausschließlich für mich interessiert, muss jetzt runterscrollen, wer auch ein bisschen Geschichte aushält, liest weiter.
Zunächst mal ist ja Gegend als solche bloß hübsch oder hässlich. Doch bereits da klaffen die Geschmäcker weit auseinander. Der eine liebt leere Heideflächen mit einem Wacholder in der Ferne wie im Totengrund, die andere liebt hohe, von Behausungen zugebaute Berge wie im Tibet. Gegend ist aber außerdem Schauplatz von Geschichte, besonders in Italien, und Geschichte bedeutet im Allgemeinen nicht, die Tochter des Herrschers über Tumpeldumpel wird ins Ehebett des Sohnes vom Herrscher über Hampeldampel gezwungen, sondern die Untertanen von Tumpeldumpel fallen über die Bewohner von Hampeldampel her, oder umgekehrt, weil sie selbst oder zumindest ihr Herrscher deren Land wollen, was sie aber so nicht sagen. Sie sagen, dass sie beleidigt wurden, einem Gegenangriff vorbeugen wollten oder die anderen völlig verkehrte Vorstellungen davon hätten, was Gott will. Für die von uns bereiste Gegend bedeutet das einiges Wissenswertes, das ich chronologisch ausbreiten möchte, wofür ich mich natürlich rechtfertigen muss.
‚Der Reihe nach‘ zu erzählen, ist ja inzwischen selbst bei Fernsehkrimis verpönt. Wenn ich, gern schon vor den Credits, etwas halbwegs Interessantes (Mord, Explosion, Fahrerflucht) sehe, kann ich darauf warten, dass mich ein Schriftzug darauf aufmerksam machen wird: ‚vier Tage vorher‘, und dann muss ich mir mehr als eine Stunde lang, einschließlich Pinkel- oder Werbepause, die Stelle erarbeiten, an der die Fahrerflucht nach dem Mord während der Explosion stattgefunden hat. Zwischendurch hat der Schnitt eine Zeitlang immer hin und her gependelt zwischen dem Messer an der Kehle der Sympathieträgerin und dem Weinglas ihres infamen Geliebten in der Wohnung seiner heimlichen Freundin oder Dealerin. Dann holt als Rückblende die Kommissarin ihren Sohn aus der Kita ab, falls der nicht gerade entführt worden ist. Gleichzeitig rauchen Bösewichter in schmucken Häusern immer noch Zigaretten, Verdächtige aus schlimmen Vierteln sind unschuldig, und der prominenteste Schauspieler ist die Täterin, was die Zuschauerin countdownhalber eher erfährt als der tapfere Ermittler, der, ohne wie befohlen auf die Kollegen zu warten, in das Haus der Toten prescht, obwohl ihm gestern die Pistole geklaut wurde. Das Grundstück liegt genau an der Stelle, an der Öl gefunden wurde, eine Hochhaussiedlung gebaut werden soll und die Autobahn von Washington nach Moskau geplant ist. Das kam aber erst ‚vier Tage vorher‘ raus und hatte zu gewissen Erbstreitigkeiten geführt.
Foto: Minerva Studio/Shutterstock
Also, so nicht. Ich erzähle der Reihe nach. Die Etrusker, die Völkerwanderung sowie Aufstieg und Fall Venedigs lasse ich (bis auf ein paar Bilder) weg, so lehrreich dieser Abschnitt der Geschichte für diejenigen, die lernen wollen, auch sein mag. Was mich konservativ und alt macht, ist meine Vermutung, dass die meisten Menschen am Wissen nicht sonderlich interessiert sind. Die Strafe dafür kommt nicht immer, aber manchmal durchaus auf der Lohnabrechnung: niedrige Bildung – niedriger Verdienst. In Mitteleuropa ist das Bildungsangebot gegenüber Somalia ziemlich groß, und wer es nicht annimmt, verdient eben all das, was man für wenig Geld bekommt: schlechtes Essen, hässliche Kleidung, steriles Wohnen, billigen Urlaub und jede Menge religiöse Vertröstung auf später.
„Das Elternhaus!“, höre ich die, die in allem das Gute sehen, schon sagen, „das Elternhaus!!“ – Meine Mutter ist als quasi uneheliches Kind bei einer verbitterten, missgünstigen Mutter aufgewachsen und hat sich bis zu meinem Vater durchgeschlagen, nicht durchgeschlafen, was mich auch nicht gestört hätte, aber ich bin prinzipienloser als sie. Wie kommt es, dass sie mir Beethoven und Mozart – auf Schallplatte – vorgespielt hat, dass sie mir Marc Twain und Orwell zu lesen gab, dass sie mit mir, als ich dreizehn war, in die Chagall-Ausstellung gegangen ist? Ihre Gene – meine Gene? Immer hatte ich diese Diskussion mit ihr: „Talent setzt sich durch“, sagte sie und meinte die Pompadour genauso wie Alice Schwarzer, und sie selbst war ja auch kein schlechtes Beispiel dafür, wie man sich mit keinem anderen Talent als dem sich durchzusetzen, durchsetzt. Mein Vater, Schulabbrecher mit geknicktem Selbstbewusstsein, hatte sich auch durchgesetzt. „Ich will nicht wie die anderen über die Geschäftsführung meckern“, hatte er schnell herausgefunden, „ich will dazugehören.“ Unsere Gene. Kein Mensch hat mir aus den Genen oder dem Milieu prophezeit, dass ich jahrelang Orchesterwerke schreiben würde, und wahrscheinlich wird sie auch kein Mensch je hören. Aber sie sind da, in Noten, auch wenn sie nicht erklingen werden. Was man unbedingt will, das macht man auch, und ist es eine Frage des Elternhauses, ob es sich dabei um einen Bestseller oder einen Bankraub handelt?
Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons
„Mag ja sein, dass Talent sich durchsetzt“, antwortete ich damals meiner Mutter, „aber es geht nicht um Genies, die alles erreichen, sondern darum, dass die Mittelmäßigen, die nicht die Gabe haben, in den Olymp aufzusteigen, dass auch die gerecht behandelt werden.“ Meine Mutter sagte: „Ja, aber“ – so fing jeder ihrer Sätze an, und dieser Widerspruch bestimmt mein Leben, die Geschichte natürlich auch, aber weil wir nun schon alle vorangegangenen Jahrhunderte ausgeklammert haben, kommen wir gleich zum Jahr 1797. Da löste sich die ‚(Adels-)Republik‘ (komische Kombination, was?) Venedig auf. Sie war zuletzt keine Seemacht mehr gewesen, sondern hatte mit der Luxusindustrie und dem Tourismus ihre Geschäfte gemacht, ähnlich wie heute. Dann kam Napoleon, in deutlich untouristischer Absicht. Zuerst siegte er häufig, später nicht mehr so oft, und schließlich landete er auf St. Helena. Venedig wurde in dieser Zeit zwischen Frankreich und Österreich ein paarmal hin- und hergereicht und blieb bis 1866 bei Österreich. Österreich, genauer gesagt: dessen Generäle, verlor bei Königgrätz (heute Hradec Králové) gegen die Preußen, und weil das Königreich Italien schlauerweise auf der Seite Preußens gekämpft hatte, bekam es zur Belohnung Venedig und Umgebung. So ist Politik.
Die Gegend machte König Vittorio Emanuele II. aber wenig Freude. Er hatte sowieso Pech: Weil er schrecklich gern jagte, verbrachte er im Dezember 1877 eine Nacht im Unterstand. Die Folge: Lungenentzündung, Tod im Januar. Die Rehe freute es, die Italiener waren traurig.
Stefan Bauer/Wikimedia Commons, Einblick Panorama Pantheon Rom, CC BY-SA 2.5
Sein Sohn Umberto ließ ihn in Rom im Pantheon beisetzen, das war irgendwie noch fescher als das traditionelle Grabgelege des Hauses Savoyen in der Basilika von Superga. Was soll der Quatsch, kann man fragen, aber da die Menschen nach wie vor auf solche Demonstrationen hereinfallen und alles glauben, was man ihnen leicht schluckbar serviert, war die Entscheidung wohl goldrichtig. Das Veneto jedenfalls war damals ziemlich runtergekommen, und wer Mut hatte, wanderte aus. Im Ersten Weltkrieg flog Österreich-Ungarn mehr als vierzig Luftangriffe gegen die Serenissima; zur Strafe existierte es anschließend nicht mehr: 1919 erhielt Italien das Trentino und Südtirol im Norden und im Osten Trient und Istrien zugesprochen. So kamen die drei Venezien zustande.
Mussolini hatte viel vor mit Venedig: Es sollte neben Genua der bedeutendste Hafen in Italien werden. Autobrücke und Bahnhof wurden gebaut. Das Gebiet kam wirtschaftlich auf die Beine, Mussolini nicht. Er war Hitlers Verbündeter im Zweiten Weltkrieg gewesen, wurde von Antifaschisten kopfüber an einer Tanksäule aufgehängt und von Menschen, die vermutlich seine Gegner waren, ins tote Gesicht getreten. Das veranlasste Hitler wenige Tage später, sich zu erschießen. Er wolle nicht so enden wie Mussolini, sagte er zu Speer im Führerbunker in Berlin. Italien durfte Südtirol und das Trentino behalten, aber – Strafe musste wieder mal sein – der größte Teil Istriens ging an Jugoslawien, gleich hinter Triest war Schluss.
Die Tito-Anhänger warfen die Italiener tiefe Karst-Höhlen (‚Foibe‘) herunter und ließen sie dort verrecken, das ‚Foibe-Massaker‘.
Manchmal wurden auch zwei Menschen mit Stacheldraht aneinander gefesselt. Den einen erschossen die Partisanen, den anderen nicht, dann stießen sie beide in die Tiefe. Jugoslawien und Italien waren keine freundlichen Nachbarn. Inzwischen ist Jugoslawien untergegangen, Italien gibt es noch.
Das ist hochinteressant und dynamo verpackt Hanno. Dank auch deiner genügsamen Mama im Gegensatz zu meiner, die sich ja damals zeitgemäss kannten.
Deine Mutter fand ich aus Schilderungen immer wahnsinnig aufregend. Um aus mir einen überlebenswilligen Menschen zu machen, war meine wohl geeigneter. Die Lebensbejahung, die meine beidenEltern hatten, haben sie mir wohl nur teilweise mitgegeben. Aber über Gene und Umwelt lasse ich mich in den weiteren Kapiteln noch zur Genüge aus,
Was für eine eindrucksvolle und im Fall Mussolini gruselige Bebilderung dieses Geschichtsunterrichts! Die bleibt hängen!