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Fast am Ziel

Gerechtigkeit für alle | #69

Den Nachmittag verbrachte ich in meinen weißen Räumen, wo sonst? WLAN klappte wie fast überall erst nach allen möglichen Manipulationen. Einfach Kennwort eingeben und loslegen, das geht ganz selten mal – entweder mein PC ist zu alt oder ich bin es. Aber wozu brauchte ich über das Internet mit der Welt verbunden zu sein? Eigentlich war ich ja hier, um ihr zu entkommen; doch Möglichkeiten nicht zu nutzen, ist Luxus, sie nicht zu haben, ist Leid; in meinem Fall natürlich auf recht hohem Niveau.

Es gibt nichts umsonst im Leben. Jedes Glück muss erkauft werden: mit Geld, mit Drogen, mit Bildung, mit geistiger Zuwendung (an Religionen oder Ideologien), mit Verfallenheit. Ist Wehmut Glück? Ist Glück eine Begabung? Das wäre sehr ungerecht. So furchtbar wenig ist von Natur aus gerecht, dass der aufgeklärte Europäer mit seinen sozialen Maßnahmen kaum noch hinterherkommt. Ungerecht ist es, mit niedrigem Intelligenzquotienten und hässlich bei armen Eltern aufzuwachsen.

Gerechtigkeit ist, dass der Vorstand so viel bezahlt bekommt, wie er der Bank wert ist, dass der Mörder so viele Jahre bekommt, wie er Leid zugefügt hat, dass betörender Charme und beängstigende Gewalt bei der Durchsetzung von Zielen keine Rolle spielen und dass ein Glück so lange anhält, bis es langweilig wird. Im Internet findet sich dann rasch ein neues.

Foto oben links: Elnur | Foto oben Mitte: Andrey Burmakin | Foto unten: vchal/Shutterstock

Das Internet bietet so vieles, was ich in meiner Jugend nicht gehabt habe. Dass damit wie mit allem Schindluder getrieben wird – Schund, Porno, Kriminalität –, ist klar, und einer der Gründe dafür, dass ich nicht an das Gute in jedem Menschen glauben mag, ich also allgemeiner Einstufung nach eher katholisch-konservativ als zukunftsgläubig-links bin. Das Internet. Wie mühsam war es, mir all die Sinfonien, die ich unbedingt haben wollte, zu ersammeln, auf Schellack, auf Vinyl, auf Tonband. Heute kann ich mir das alles, meist kostenlos, über Kopfhörer in die Seele pusten. Ich bin nicht sentimental genug, um zu sagen: Wie schön war doch das allmähliche Sammeln! Vielleicht wusste ich meine Errungenschaften mehr zu schätzen, damals, aber ich liebe den Überfluss, heute. Askese kommt nachher.

Bei meiner Beerdigung möchte ich dann bitte den zweiten Satz aus Beethovens Tripelkonzert gespielt haben, bis zum Takt 39, und schon nach dem Klaviereinsatz in Takt 20 muss deutlich werden, dass das Thema in den Streichern liegt, nicht im Klavier. Wie oft habe ich diesen Satz in die Tasten geträumt, alle Stimmen … Eigentlich ist mir völlig egal, was mit meiner Leiche passiert und ob sie beweint wird. Jetzt muss ich es packen! Und hinkriegen. Immer noch …, möglichst. Wer seiner augenblicklichen Existenz nicht mehr besonders viel zutraut für die Zeit vor oder nach dem Tode, der kann endlich seine Ängstlichkeit abstreifen und richtig leichtsinnig werden. Es ist nun mal erfüllender, per Selbstmordattentat einen Diktator zu beseitigen oder per Kontaktanzeige einer sinnlichen Erbschleicherin aufzusitzen, als ereignislos seinem Ende entgegenzulungern.

Na ja, manchmal finde ich meine Schreib(weis)e vorlaut. Aber ich denke, wer es gewohnt ist zu lesen, der liest auch zwischen den Zeilen und nimmt nicht jedes eingeschmuggelte Falschgeld für bare Münze. Aber hey, tust du noch ‚lesen‘, Alter? Echt? Dann kannst du auf Twitter lesen, dass (2s! krass, was?) die alle nicht mehr schreiben können, okay? Tun sie aber: ihr Selbstbewusstsein als wutbürgerliche Analphabeten. „Pack!“ Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Trau ich mich aber nicht. Stattdessen formuliere ich mich in Altersstarrsinn. Was sonst? Wegrennen kann ich nicht mehr, Klavier spielen auch nicht. Dieses Unvermögen wird durch mein Vermögen nicht ausgeglichen. Aber helfen tut es schon.

Foto: bonchan/Shutterstock

Zum Abendessen verschlug es uns wieder in die Hotel-Kantine. Alles war wie zu erwarten: Silke die Eleganteste, ich der Älteste und Rafał der Schnellste. Er hatte ja auch noch am meisten vor. Dass wir in der Einöde gelandet waren, merkte man daran, dass der nächste für Rafał infrage kommende Nachtpartner neun Kilometer weit entfernt wohnte und ihn von dort aus interessiert anmailte. Wie die Sache ausgegangen ist, weiß ich nicht. Ich hab’ nicht gefragt.

4 Kommentare zu “Gerechtigkeit für alle | #69

  1. WLAN auf Reisen… ein schwieriges Thema. Ich habe mich mittlerweile fast damit abgefunden, dass man, egal in welchem Land oder welcher Hotelklasse man absteigt, auf das Internet als Nachrichtenquelle verzichten muss. WLAN ist natürlich immer vorhanden. Funktionieren tut es sehr selten. Ein ewiges Rätsel, dass gleichermaßen für mich wie auch für die Hotelbetreiber unlösbar scheint. Vielleicht klappt es in 10 Jahren besser…

  2. Genau wie es gute und schlechte Bücher, wunderbare und misslungene Konzertaufnahmen oder intelligente und idiotische Kinofilme gibt, gibt es auch gute und schlechte Twitter-Accounts. Letztendlich ist Twitter ja nur ein Medium. Die Verkürzung auf 140 Zeichen muss nicht sofort mit Dummheit gleichgesetzt werden. Genau wie die neuen Medien generell nicht unterschätzt werden sollten. Ich würde zum Beispiel Frau Jelinek durchaus als sehr schlaue, verdiente Autorin ansehen – und das, obwohl sie hauptsächlich im Internet veröffentlicht.

  3. Ja, die Sache mit Glück ist so eine Sache … da streiten sich sogar die Gelehrten –, was uns sagt, dass Glück eben nicht rational zu erfassen (geschweige herbeizuführen) ist. Es kommt vielmehr auf den emotionalen Quotienten einer Person an und darauf, was ihm Hochgefühle verschafft. Das kann ein politisches Freiheitsgefühl, eine harmonische Beziehung, ein Leben mit Kindern oder aber ein erfüllender Beruf, wervolle Freundschaften, soziale Sicherheit oder Gesundheit sein. Das Glückspendel schlägt bei jedem Menschen unterschiedlich stark aus, entscheidend dabei ist, Emotion zulassen zu wollen. Nur dann wird man auch tatsächlich Glück wahrnehmen können. So ist am Ende eben jeder „seines eigenen Glückes Schmied“.

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