Wir befolgten die Anweisungen der Navigatorin und verließen die Autobahn. Von Zeit zu Zeit mache ich Rafał darauf aufmerksam, dass er ihre Stimme durch eine männliche ersetzen will, aber er hat in der Gebrauchsanweisung immer noch nicht den Trick gefunden, wie das geht. Meine wiederholte Nachfrage hat damit zu tun, dass unsere Verwünschungen, wenn wir uns fehlinformiert fühlen, einfach zu frauenfeindlich klingen, und da könnte sich Silke hinten düpiert vorkommen. Ansonsten macht es großen Spaß, die stoische weibliche Stimme anzuschreien, und erleichtern tut es auch. Ein paar Minuten hinter der Abfahrt war es wieder so weit. Wir wurden eine enge, gewundene, abschüssige Gasse hinabgeschickt. Wäre uns ein Auto entgegengekommen, wir hätten nur aus dem Wagen springen und uns an den Felsen klammern können. Noch wussten wir ja nicht, dass uns solche Mutproben ab jetzt täglich bevorstanden. Während Rafał sich auf das Nächstliegende konzentrieren musste, schweiften meine Gedanken ab ins Erwartungsfrohe: Was für ein zauberhaftes Hotel würde das sein, das hier am steilen Hang lag, was für eine Umgebung, was für eine Aussicht!
Ursprünglich hatte ich uns ja im ‚Duca D’Aosta‘ schlafen gesehen. Schon, um Silke eine Freude zu machen. Sie ist nicht nur über Politiker und Sportler, sondern auch über Adlige wesentlich informierter als ich, weshalb ihr die Herzoge von Aosta gewiss geläufiger sind als mir. Für alle weniger Eingeweihte nur so viel:
Am 27. November 1927 heiratete Amadeus d’Aosta seine Cousine Anne Hélène Marie von Orléans. Das erlauchte Paar bekam zwei Töchter, nämlich Margherita Isabella Maria Vittoria Emanuela Elena Gennara, die Robert Karl Ludwig von Österreich (Sohn des letzten österreichischen Kaisers Karl I. und dessen Ehefrau, Kaiserin Zita) ehelichte und Maria Cristina Giusta Elena Giovanna, die Kasimir von Bourbon-Beider-Sizilien, einem Sohn von Gabriel Maria von Bourbon, das Jawort gab. Margheritas ältester Sohn, Lorenz von Österreich-Este, ist verheiratet mit Prinzessin Astrid von Belgien. Margheritas Nachkommen gehören also dem belgischen Königshaus an, was sie womöglich sogar in Luxemburg kreditwürdig macht.
Trotz Silkes völliger Vertrautheit mit derartigen Familienverhältnissen mochte ihr das Reservierungspersonal im Grandhotel ‚Duca D’Aosta‘ keine Zimmer gewähren, weil alle Gemächer von Kongressteilnehmern belegt waren, die offenbar über ein großzügigeres Budget verfügten als die Katholiken in Leipzig. So hatte Silke – pikiert, aber nicht entmutigt – das ‚Hotel Greif Maria Theresia‘ ausfindig gemacht, das sehr nach Triests imperial-österreichischer Vergangenheit klang und mit Meerblick-Balkonen prahlte.
Meine Erwartungen wurden zunächst dadurch enttäuscht, dass unsere atemberaubende Gasse unten in eine breite, vierspurige Hauptstraße mündete, die man mit viel gutem Willen ‚Allee‘ nennen konnte. Die Navigateuse hatte uns also nur abkürzungshalber die halsbrecherische Strecke geführt. Rafał und ich fluchten Frauenfeindliches, Silke war still. „Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt auf der linken Seite“, verkündete die Wegweiserin unbeeindruckt. War die erste Enttäuschung verkraftet, dann war gar das Hotel nicht so schlimm. Es lag ein paar Kilometer vor dem Zentrum, und es gab auf dem Grundstück einen Parkplatz, voll besetzt, was ja für die Beliebtheit der Unterkunft sprach. Rafał entdeckte, wie eigentlich immer, doch noch eine (Un-)Möglichkeit, das Auto abzustellen, einen Kofferträger gab es nicht. Wozu braucht man für zwei Übernachtungen in Triest einen Kofferträger? Na, bei acht monströsen Gepäckstücken kann er durchaus hilfreich sein. Wenn man vier Wochen lang unterwegs ist, führt man Computer, Bücher, Utensilien mit. Keiner von uns trägt gern an zwei Tagen hintereinander dasselbe am Leib, außerdem passen die Schuhe, die einen durch den Tag geleiten, so gut wie nie zur Abendgarderobe.
Schließlich war alles verstaut, und ich sah von meinem großzügigen Balkon aus über die sehr belebten Fahrbahnen hinweg in die Ansammlung von allem Möglichen auf der anderen Straßenseite. Dass dahinter das Meer war – man musste es einfach wissen. Vage überschlug ich, wie viel Wein und Grappa wohl nötig wären, um mit ausreichend ‚Ohropax‘ im Gehörgang am Lärm vorbei ein wenig Nachtschlaf zu finden. Das schwarze Tuch würde mich dabei vor überschüssigem Licht schützen. Ich weiß ja, dass ich nicht sensibel bin, aber dass ich empfindlich bin, kann mir keiner absprechen.
Wir ruhten uns aus, Rafał von Fahrt und Schlepperei, ich von nichts. Wegen des schon während der Planungsphase im Hamburger Februar gewussten opulenten Mittagsmahles hatte ich für den Abend nur eine Kleinigkeit im Hotel vorgesehen. Das Hotel-Restaurant war geschlossen: Umbau, dem auch der Garten zum Opfer gefallen war. Wenn man wohin kommt, wo man noch nie war, muss man mit so etwas rechnen. Wenn man wohin kommt, wo man schon mal war, auch. Wir ließen uns etwas empfehlen, gleich die Straße runter, stiegen ins Auto und fuhren da nicht hin. Stattdessen hatte es uns der höchste Punkt angetan: Hügelaufwärts, ganz oben, lockte ein Obelisk. Zu dem fuhren wir, war gar nicht so schwierig. Gleich dort lag am Hang ein Lokal, das mir sofort gefiel, zurückgesetzt hinter einem überrankten Vorbau. Viele Wagen.
„Samstagabend, sicher kein Platz“, dachte ich. Rafał quetschte sich trotzdem in die letzte Lücke, wir stiegen aus und die Stufen zum Vorgarten nach oben. Gleich würde die laue Abgeschiedenheit einer lärmigen Abendgesellschaft weichen. Nee. Die Terrasse war fast leer. Ich war verblüfft. „Aha, ganz schlechtes Essen“, dachte ich. War aber nicht so. Das Essen war sehr gut, Triest lag uns unsichtbar zu Füßen, und die Stehklos ohne Sitze wiesen darauf hin, dass sich nun der erste Abend neigte, an dem wir wirklich in Italien waren, selbst wenn auch diese Gegend bis 1919 zur Donau-Monarchie gehört hatte. Und dann waren bei ‚Maria Theresia‘ die Fenster auch noch so gut isoliert, dass ich problemlos schlafen konnte. Rafał erkundete währenddessen die Umgebung. Seine Probleme sind andere als meine, in dieser Hinsicht.
Toll… Das ist Rafal!