Zum Leidwesen meiner Mutter entdeckte ich nach unserer Rückkehr in Hamburg, dass es noch sehr viele Männer gab, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Schon auf Palis und meiner gemeinsamen Geburtstagsfeier Ende Juni wurde mir das bewusst. Irene hatte mich als halbwegs gute Partie unter der Haube gesehen und konfrontierte mich am Sonntags-Frühstückstisch mit der Drohung: „Wenn du dich zum promiskuitiven Homosexuellen entwickeln willst, musst du das Haus verlassen.“ „Ja!“ bestätigte Guntram, „ähh, was ist ‚promiskuitiv‘?“ Die Entscheidung fiel mir leichter, als meine Eltern geglaubt hatten. Mir lag damals sehr viel mehr daran, möglichst viel Sex zu haben, als weiter mein zwölf Quadratmeter großes Kinderzimmer zu beschlafen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Ich fand sogar eine Wohnung in 800 Meter Entfernung, und meine Mutter half mir unter Tränen bei der Einrichtung. Danach hat sie sich mehr und mehr mit meinem Lebenswandel und dessen Nächten abgefunden. Einmal in Mailand sagte sie mir noch am Morgen: „Du benimmst dich wie ein ‚streunender‘ Kater!“ – oder sagte sie ‚räudiger‘? Einmal wollte sie morgens in Massachusetts abreisen, vertraute aber ihrem Englisch nicht genug. Ansonsten ließ sie es über sich ergehen, dass ich war, wie ich war, genoss die Weltreisen mit mir und dachte über Palis Einschätzung nach: „Sei doch froh! Eine Schwiegermutter wie dich hätte eine Frau niemals akzeptiert. Dann säßest du jetzt allein mit Guntram zwischen Loggia und Nirosta.“
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Unter Palis zahlreichen Lovern war ich der einzige, mit dem er weiterhin freundschaftlich verbunden blieb. Es war so ein nahtloser Übergang; eine der gelungensten Transaktionen, die ich je in meiner zwar aufmüpfigen, aber durchaus kompromissbereiten Lebensführung hinbekommen habe. Tut mir leid: Die Welt habe ich nicht verändert und erst recht nicht besser gemacht – mein Leben schon. Jeder gerechte Gott wird diese Sorge um ein erfülltes Dasein mehr anerkennen als die Unbedingtheit eines Utopisten wie Robespierre, Lenin oder Hitler, der Millionen in den Abgrund gestürzt hat.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Was war das für ein Abgrund zwischen dem Hotel ‚Vittoria‘ und unserem Sitzplatz am Hafen! Ich erschauerte. Aber nur kurz, dann fuhren wir wieder weg. Ich glaubte dem ‚TripAdvisor‘-Gast, der über das Hotel geschrieben hatte: ‚Vor allem trotzt der große Frühstückssaal mit Grandezza auch dem letzten, völlig fehl am Platze wirkenden Gast in offensiver Touristenaufmachung‘ und verachtete die Schreiberin aus Minneapolis für ihre Zeilen: ‚Die Angestellten sind eigentlich alle nett. Das Frühstück war nichts Besonderes.‘ – Was ist schon Besonderes am Frühstücken, du Trump-Wählerin?
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Schlimmer als die US-Bürgerin war unsere Navi-Zicke. Sie sollte uns nach, wie ich dachte, Santa Agata lenken, genauer aber nach Sant’Agata sui Due Golfi an der sorrentinischen Küste hoch über zwei Meeren, dem Golf von Neapel und dem von Salerno, aber die ‚Schnecke‘ dachte wohl, wir säßen noch im ‚Käfer‘. Sie führte uns ganz idyllisch durch Weinberge, doch dann mehrfach an Tore, die unser stolzer Mercedes nicht durchschreiten konnte: zu breite ‚Hüften‘.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Als wir nach kilometerlanger Fahrt zum dritten Mal am Kreisverkehr unten in Sorrent angekommen waren, ließen wir sie schnattern und wählten die einzige von uns noch nicht genutzte Abfahrt durch die für den Durchgangsverkehr gesperrte Flaniermeile des nicht mehr sonderlich phönizischen Sorrent, so lange, bis uns tatsächlich ein Schild darauf aufmerksam machte, dass man hier nach Sant’Agata käme. Der Weg ging steil bergauf und war so pittoresk, wie man das auf einem Urlaubsausflug erwarten kann. Obendrauf auf dem Berg lag dann Sant’Agata (etwas affig mit dem Apostroph). Der Ort wirkte nicht besonders malerisch, sondern mehr zweckmäßig. Ich hatte das Restaurant ‚Lo Stuzzichino‘ ausgewählt. Aus schlechten Kritiken lerne ich immer mehr als aus guten. Wenn bei ‚TripAdvisor‘ jemand behauptet: ‚ausgezeichnet‘, kann ich das glauben oder nicht, aber bei Aussagen wie: ‚ein ok Portion für ein leichtes Abendessen, das ehemalige zu klein für den Preis‘ oder: ‚Wir hatten Pasta und Pizza, die waren in Ordnung, aber waren fest mit einem 12 euro Services unerwartet‘, buche ich sofort. Unsere Navi-Tante fand das ‚Stuzzichino‘ ganz gut, aber Rafaƚ keinen Parkplatz. ‚Stuzzichino‘ heißt im Deutschen ‚Häppchen‘. Bei diesem Wort muss ich immer an Berlin denken. Im Jahr 2000 schrieb ich von dort an Pali im Rahmen eines – in Schreibmaschine – 280 Seiten langen Briefes bei vier Wochen Aufenthalt:
Foto: Gryffindor/Wikimedia Commons/gemeinfrei
Am Frankfurter Tor verfällt das Parterre des ersten Hauses am Platz: Die Neonschrift über dem Eingang staubt lichtlos, einige Buchstaben hängen schief: ‚Imbiss – Das große gute Häppchen‘. Die Räumlichkeiten sind völlig inventarlos, eine der Fensterscheiben ist eingeschlagen. Bis hierher und nicht weiter sind die Renovierungsmaßnahmen an der Frankfurter, ehemals Stalin-Allee vorgedrungen. Die nächsten Fassaden haben dieselbe Struktur wie der vorige Block, aber sie bröckeln, die Fensterrahmen wirken morsch, der Putz ist verdreckt und löcherig. Auf der anderen Seite des Platzes, dem ,großen Häppchen‛ genau gegenüber, glänzt die einzig belebte Stelle des ganzen Straßenzuges: Menschen drängen sich draußen und drinnen, und die Neon-Beleuchtung funktioniert. Nein, ich habe es mir nicht ausgedacht, jeder kann hinfahren und es sich ansehen. Rechts der zerschlagene Ost-Imbiss. Links ,McDonald’s‘.
Ich sank zurück in die Tiefe, per Rolltreppe. Den Wohlstand in Westberlin habe ich immer als etwas erkaufter, kostbarer und perverser empfunden als anderswo. Das Kalbsfilet und das Klopapier im ‚Kempinski‘ waren immer zarter als da, wo es mir selbstverständlicher erschien. Die ‚gigantischen Vorzüge‘ des Kommunismus hatten jenseits des Brandenburger Tores vor dem Gaumen und dem Arschloch der Werk- und Untätigen Halt gemacht. Wer auf Dauer über Realexistenz und Utopie die Kaufkraft der Banknoten und die Saugfähigkeit der WC-Rollen abtut, der muss höchstes Vertrauen in die Schlagkraft seiner Armee und die Leidensfähigkeit seiner Bevölkerung haben.
Foto: Marcuscalabresus/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Silke und ich stiegen aus. Rafał fuhr weiter in der Hoffnung auf einen Parkplatz, wir betraten die Terrasse in der Hoffnung auf kleine, gute Häppchen. Es war ziemlich leer; noch enttäuschender war, dass man hier oben zwischen den beiden Buchten keine von beiden sah. Ich hatte mit einem Panoramablick gerechnet, der mich mehr interessierte als die cannelloni alla sorrentina, aber als Silke quengelte, dass man hier ja gar nichts sähe, schnitt ich ihr die Bemerkung ab mit der Behauptung, dafür sei das Essen besonders gut, und abwesend-abweisend guckte ich dazu in die Mauern der umliegenden Häuser aus nicht allzu vergangenen Zeiten. Dann aber musste ich wieder auf die Straße, um dem erfolglos zurückgekehrten Rafaƚ ein Zeichen zu geben, dass laut Wirt im Halteverbot gut Parken sei. Das kannten wir ja schon aus Abbazia. Sicher kriegen die Polizisten von Zeit zu Zeit hier ein großes, gutes Häppchen: Auch Bullen mögen Schweine, besonders als sfiziosi con prosciutto.
Auf dem Rückweg konnte Rafał sogar einige Blicke in den Abgrund auf der Fahrerseite riskieren, ohne unsere Leben zu gefährden. Er geleitete uns hinter dem Kamm des Berges hinab nach Positano; die Sonne blieb lieber noch in Sorrent und überließ es dem heißen Himmel, Sommerwetter auszustrahlen. Ich ging auf meine Terrasse, mit ‚Vienna‘, und sah abwechselnd in die Bucht, in das Buch und in mich.
Foto: Privatarchiv H. R.
Viel mehr habe ich mit Harald vor 34 Jahren auch nicht unternommen, aber die Muße damals war freiwillig, kein Unvermögen. Und ein bisschen großartiger war es doch, wie man in dem Clip sehen kann:
Am Abend lud ich Silke zu mir ein. Sie trank Wasser, ich Wein, wir redeten über Unverfängliches und genossen die Kulisse ohne Bühne. Ein Theaterstück ohne Handlung. Sehr erholsam. Rafał nutzte die vielen Treppen und Gelegenheiten des Ortes, um sich das zu erarbeiten, worauf ich zurückblicke. Silke und ich waren froh, nichts mehr essen zu müssen. Wenn ich früher etwas in den Mund nahm, das ich nicht runterschlucken wollte, dann gab es dafür Möglichkeiten. Jetzt ist es ein Kaugummi.
Fotos oben (2): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Fly_dragonfly/Shutterstock
„In solchen Kreisen“ | #52Sturm und Drang und Einbahnstraßen | #54
Was für wunderbare Bilder im Videoclip von der „original“-Reise! Manchmal denke ich, ich sollte viel mehr festhalten. Als Erinnerung für später. Ich bin zugegebenermaßen doch eher faul was Photographie und Film angeht. Aber wenn ich Ihre Videos sehe, Herr Rinke, wünschte ich mir ich könnte einige Reisestationen auf ähnliche Weise noch einmal nacherleben.
Tripadvisor, Foursquare und Yelp sind allerdings auch meine liebsten Reisebegleiter. Gerade durchwachsene Bewertungen wie „Richtig gutes Essen, aber leider ein wenig überteuert“ sind tatsächlich immer ein guter Grund einen Tisch zu reservieren. In solchen Situationen möchte ich mein Smartphone nicht mehr missen.
Die Videoaufnahmen machen wirklich Lust auf einen Italienurlaub. Sicherlich stecken da viele schöne Erinnerungen drin, Herr Rinke. Mir geht es trotzdem ähnlich wie Frau Lodeau, ich tue mich schwer meine Urlaube zu dokumentieren. Ich denke immer, dass ich beim andauernden Motivsuchen und Knipsen zuviel vom eigentlichen Geschehen verpasse.
Mit der Super-8-Kamera war das ein Vergnügen, das ich mit Video und Smartphone nicht fortgesetzt habe. Meine Jahresfilme zwischen 1975 und 1990 sind mein Gedächtnis. Seither muss ich alles im Kopf behalten, oder ich schreibe halt.
Jedes Mal wenn ich in Berlin bin, frage ich mich warum nicht mehr aus der Karl-Marx-Allee gemacht wird. Der ehemalige DDR-Prachtboulevard hat soviel Potenzial. Die Architektur sticht ohne Frage aus dem ganzen Bau-Einerlei heraus, aber irgendwie reiht sich nur Würstchenbude an Billigcocktailbar an Würstchenbude an Billigcocktailbar. Wirklich ein bischen Schade. Für mich eine der prägendsten und liebsten Gegenden der Hauptstadt.
Das Restaurant „A mano“ am Straußberger Platz ist ganz schön.
Oh vielen Dank für den Tip! Dann werde ich für meinen nächsten Berlinaufenthalt einen Besuch bei „A Mano“ auf meine to-do-Liste setzen.
Die arme Tripadvisor-Bewerterin. Den Unmut bzw. die Enttäuschung über das italienische Frühstück kann ich schon nachvollziehen. Es gibt in der Tat abwechslungsreicheres als süße Teilchen und Kaffee. Italien ist ein tolles Land, aber sicherlich nicht als „Frühstücksnation“ bekannt.
Da ich das Frühstück weglasse, kommt mir diese Ungewohnheit sehr entgegen.