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Fast am Ziel

Handkuss | #40

Irene hatte inzwischen Erika kennengelernt, bei ‚Horn‛ am Kurfürstendamm. Damals war ‚Horn‛ das prominenteste Modehaus Berlins, und Erika war dort Empfangsdame. Es war ihre berufliche Aufgabe, den Damen, wenn sie das Geschäft betraten, auf so animierende Weise „Guten Tag, gnädige Frau“ zu sagen, dass, wenn die Damen ‚Horn‘ wieder verließen, sie die letzten Bündel Reichsmark ihres Gatten ausgegeben hatten.

Noch während der Blockade durch die Sowjets gaben meine Eltern aus Anlass ihres Umzugs von der Reichsstraße in den Grunewald ein Kostümfest. Es war ständig Stromsperre, also ziemlich schummrig, aber Guntram hatte Würstchen aufgetrieben – eine Sensation! –, und mein Kindermädchen Fräulein von Petzold vernachlässigte mich zwar sträflich, wie unsere Haushälterin Maria berichtete, nachdem sie ihr heimlich gefolgt war und sie mit einem Freund erwischt hatte, während ich im Kinderwagen unbeaufsichtigt blieb, aber dafür konnte Fräulein von Petzold sehr schön nähen, was für ein Kostümfest zweifellos vorteilhafter war als die Kinderbetreuung. Meine Mutter lud zu diesem Fest Erika ein, damit die endlich auch mal „Guten Abend“ sagen durfte. Auf jener Faschingsfeier traf Guntrams Werner, in Scheidung begriffen, auf Irenes Erika, bereits im Krieg verwitwet. Meine Eltern waren Trauzeugen; auf dem Foto wird Irene von Erika fast verdeckt. So blieb es nicht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die beiden ‚Hochzeitler‛ gingen wohl vor allem davon aus, dass sie einander schmücken würden. Werner brachte als Mitgift neben seiner fast erwachsenen Tochter Sohn Andy mit in die Ehe, Erika hatte Hartmut als Aussteuer dabei. Er war zwei Jahre älter als Andy und wurde von Erika laut Irene deutlich bevorzugt. – Stiefmutter! Nur dass man sich Andys wirkliche Mutter Lygia, so vom Storchenteich aus betrachtet, auch nicht unbedingt ausgesucht hätte. Außerdem kann es sich bei den Zuwendungen für Hartmut nur um Geringfügigkeiten gehandelt haben, denn beide Jungen wurden stramm erzogen und knapper gehalten als die von Werner hochgeschätzten Hunde im Zwinger; auch bekamen die Buben, den gruseligen, pädagogisch gemeinten Berichten meiner Eltern zufolge, die Peitsche weitaus häufiger zu spüren, als die Gerte auf die Schäferhunde niedersauste. Trotz dieser vielversprechenden Maßnahmen ist aus beiden nicht das geworden, was Werner sich unter erfolgreichen Geschäftsleuten vorstellte: Sie haben sich beide ungeachtet ihrer unterschiedlichen Gene mehr in eine Richtung entwickelt, dass sie von Werner als Schnorrer und Hungerleider bezeichnet worden wären – Künstler halt …

Es machte meinen Eltern immer große Freude, mir vorzuhalten, dass Andy und Hartmut in der Dahlemer Villa (ohne Freitreppe) am Abendbrottisch stets fragen mussten: „Darf ich noch eine Scheibe Wurst haben?“, und Werner – je nach Laune – antwortete: „Du hattest doch schon eine!“ oder „Bitte höflicher darum!“

Foto: Privatarchiv H. R.

Diese Unerbittlichkeit angesichts der üppigen Lebensumstände der Familie (solchen Luxus habe ich – in geschmackvoll! – erst bei Pali wiedergesehen) verfehlte auch bei mir nicht den Eindruck – allerdings den gewünschten. Eher fand ich es bedrückend. Jedenfalls führten solche Meldungen aus dem elterlichen Propaganda-Ministerium nicht dazu, dass ich mir je eine Scheibe Brot oder Wurst mehr genommen hätte, obwohl sich meine Eltern das so sehnlich wünschten. Bei uns herrschten andere Sitten: „Nimm doch noch ein bisschen Schinken“, bat meine Mutter, und ich öffnete den Zwinger und bellte: „Nein!“

Meine Eltern und das Ehepaar Russ gingen in den Fünfzigerjahren oft gemeinsam auf Reisen: Wer es sich leisten konnte, wollte die von Deutschland befreiten Länder so schnell wie möglich mal in Zivil sehen und fuhr mit ähnlich neugierigen Erwartungen über die Grenzen wie im November 1989 die DDR-Bürger zu Aldi. So auch die beiden befreundeten Ehepaare, meist zur verkehrten Jahreszeit in dem Glauben südlich der Zonengrenze sei bereits Frühling. Paris im März war schneidend kalt. Erst 1983 habe ich meiner Mutter ein sommerwarmes Paris Rive Gauche und Rive Droite geboten. An der Riviera war es auch nicht so toll, und auf Capri hat sich Erika aus Eifersucht darüber, dass der Hotelleiter Irene interessanter fand als sie, so an Negroni besoffen, dass Direttore Rafaele die kotzende Frau Russ übers Geländer halten musste, was ihre Attraktivität vermutlich nicht steigerte.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Werner aus Görlitz war natürlich weltmännischer als Erika aus Zittau, und so sprach er in den venezianischen Gassen an einem Sonntag einen Einheimischen auf dem Kirchgang an, indem er sagte: „Senjohr! Senjohr! Parlewuh Franßä? Wo geht’s ‘n hier zum Markusplatz?“ Daraufhin bekam meine Mutter – sagte sie – einen solchen Lachanfall, dass der Italiener verstört weitergegangen sei. Werner hatte aber auch weniger nette Seiten. Als ein Italiener in San Remo im Sonntagsstaat auf der Straße ging, ist Werner extra durch eine Pfütze gefahren und hat ihm mit aufspritzendem Dreckwasser den hellen Anzug ruiniert. „Das hat er nun davon!“, soll Werner gesagt haben, berichteten meine Eltern übereinstimmend. Er war halt so amüsant.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

1953 bekam Guntram das Angebot, bei Stinnes in Hamburg die Geschäftsleitung zu übernehmen. Er behielt seinen Berliner Kohlengroßhandel, mit dem er schon die Energieversorgung Westberlins während der Blockade 1948 organisiert hatte, aber wir zogen um nach Hamburg, wo sich Guntram neben Kohle und Öl auch um Schifffahrt kümmerte und es mit sehr sympathischen Industriellen zu tun bekam.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

‚Kohlenhändler‘ gehört inzwischen zu den ausgestorbenen Berufen wie Gaslaternenanzünder, Milchmädchen und Schallplattenverkäufer; den Reedereien geht es jetzt auch nicht mehr gut, und der Ölpreis ist so niedrig, dass die sehnsüchtig erwartete Inflation ausbleibt und Zentralbankpräsident Draghi für zinslose Sparbücher und gewinnträchtige Aktien sorgt. Damals aber konnte Guntram seine Familie gut ernähren, Irene war froh, das eingekesselte Berlin zu verlassen, ich nicht. Die zerbombten Villen im Grunewald waren für mich eine viel geheimnisumwittertere, fantasieanregendere Kulisse gewesen als die Othmarscher Nachkriegshäuser. Selbst der Möbelpacker sagte zu Guntram: „Ham sich aba vaschlechtat, Meesta!“ Ich war zwar ängstlich, aber verrückt nach Grusel. Da kam Berlin meiner Vorliebe für Gespensterbahnen natürlich sehr viel mehr entgegen als das grundsolide Hamburg, in dem sich meine Mutter dann nie heimisch gefühlt hat, obwohl sie Schiffe taufen durfte und sich die elegantesten Herren um sie rissen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Zumindest durfte ich in der zweiten Klasse bleiben. Die Schuldirektorin beschied Irene: „Bei uns hätten wir ihn nicht genommen.“ Damals war die gängige Meinung, dass Kinder, bevor sie sechs sind, nichts lernen dürfen. Heute möchten engagierte Mütter ihren Babys am liebsten dem Pastinakenbrei schon ein bisschen Pythagoras zuschöppeln. In Berlin war ich Klassenbester gewesen, und in Hamburg blieb ich auch nicht sitzen. Meine Eltern blieben dagegen auch in Hamburg am Ehepaar Russ hängen: im Winter nach Flims und im Frühjahr ans Mittelmeer. Mit der Hamburger ‚Gesellschaft‘ taten sie sich etwas schwer, aber das fiel mir damals nicht auf.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ende der 50er-Jahre war der amüsante Werner allerdings von Erika genauso wenig amüsiert wie von seinen beiden verflossenen Gattinnen und wollte sich auch von ihr wieder scheiden lassen. Gott sei Dank starb er aber vorher, so dass sie von der Pension ganz beschaulich leben konnte. Schlimm war das nur für Andy, denn nun musste er zu seiner Mutter nach St. Louis. Erika zog im Anschluss an die Beisetzung nach Hamburg – und ich glaubte, schmeichelhafterweise unseretwegen –, meinen Eltern hinterher. War aber gar nicht so, war wegen Herrn Wöllert, der groß und pomadig war, Erika nannte es ‚stattlich‘. Herrn Wöllert verschaffte Erika ,Höhenflüge‘, worüber sich Guntram gar nicht genug lustig machen konnte, und Irene schämte sich ein bisschen, dass sie es gepetzt hatte. Herr Wöllert war mit Frau Wöllert verheiratet – Elke – und er war finanziell von ihr abhängig. Erika schwor Elke hoch und heilig, kein Verhältnis mit ihrem Mann zu haben, was Irene ‚unterkietig‘ fand. Angelegentlich eines gemeinsamen Abendessens bemühte sich Herr Wöllert obendrein noch, seinen Schenkel unterm Tisch an Irenes zu reiben. Also, wenn das nicht unterkietig ist!

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Erikas Bemühen, die Ehepaare Rinke und Wöllert einander näherzubringen, scheiterte damit schon im Ansatz. Ein Sittenbild der frühen Sechzigerjahre. Dann war Schluss mit Cha Cha Cha. Die Rolling Stones kamen, die Verlogenheit trollte sich ganz, ganz langsam, und sogar ich begann, mich allmählich zu fragen, was Gott in meiner Unterhose zu suchen hat. Konsequenzen zog ich noch lange nicht. Erika schon. Sie wohnte in Pöseldorf, das auf einmal schick geworden war und bekam eine so deftige Mieterhöhung, dass es sie zurück an den Wannsee trieb. Erika und Irene haben danach noch ein einziges Telefongespräch geführt – das war’s. Ihren Krebstod erfuhr ich von Andy, der inzwischen wieder in Deutschland lebte. Irene nahm es ungerührt zur Kenntnis. Nach Werners Tod hatte ich sie noch weinen gehört.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Schon Florenz 1966 war von all den Unstimmigkeiten überschattet gewesen. Als Hartmut am übernächsten Tag ,auf rückzu‘ mit höchster Geschwindigkeit über den Fernpass bretterte und Irene ihn bat, etwas langsamer zu fahren, schlich er mit Tempo 20 weiter. Das reichte. Wir übernachteten in Lermoos, verfeindet. Erst im Frühling nächsten Jahres kam Erika mit einem großen Blumenstrauß unangemeldet zur Doppelhaushälfte meiner Eltern, und das Verhältnis wurde gekittet. Halbwegs. Ich mochte Besuch, also auch Erika. Guntram begrüßte und verabschiedete sie bis zum Schluss nur mit Handkuss. Mehr wäre ihm nicht über die Lippen gekommen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

10 Kommentare zu “Handkuss | #40

  1. Lieber Herr Rinke, auch wenn ich in diesem Text ihre kleinen, aber immer so treffenden, gesellschaftlichen und politischen Seitenhiebe vermisse – die Geschichte vom Abendbrottisch ist doch zu köstlich!

      1. Ich bin gespannt und voller Erwartung! Meine Mutter pflegte immer zu sagen: ‚In der Abwechslung liegt die Würze des Lebens.‘ In diesem Sinne… vielen Dank und weiter so Herr Rinke.

  2. Wie hält man eigentlich eine Freundschaft aus, in der sich die verbunden Geglaubten scheinbar so wenig zu sagen haben? Zumindest die Umgangsformen der Familie Russ wären mir zuwider. Für mich lesen sich die Begegnungen Ihrer Eltern mit den besagten Herrschaften eher wie aus dem Leben einer Zweckgemeinschaft. Aber vielleicht waren Freundschaften oder ähnliche Bünde in den Nachkriegsjahren ja auch etwas Lebensnotwendiges nach all den kollektiven Nöten, Verlusten und seelischen Wunden. Kann sein, dass die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und Wohlstand noch eine zwingendere Bedeutung hatte, als dies heute der Fall wäre. Heute gelten „Freundschaften“ weit verbreitet sowieso meist nur noch als “Like”-Quote. Dann doch besser den Handkuss eines Snobs …

    1. Aha. Damals waren Freundschaften also Zweckgemeinschaften, heute gelten sie als ‚Like‘-Quote. Wann waren die Zeiten denn nun besser, Frau Schön? Die Vergangenheit zu idealisieren hilft ja nun auch nicht. ‚Früher war alles besser‘ hat noch niemanden im Leben weitergebracht…
      Ich möchte und kann gar kein Urteil über die Freundschaften der Familie Rinke fällen. Aus eigener Erfahrung würde ich aber anmerken wollen, dass eine echte Freundschaft immer viele unterschiedliche Facetten hat, gute wie schlechte.

      1. Alles, was ich schreibe, ist so wahr, wie es mir erzählt wurde. Aber naja, „es war einfach schön“, ist weder lohnend zu erzählen noch gar zu (be)schreiben. Dadurch wird der entstehende Eindruck vielleicht zu negativ, aber im Nachkriegs-Berlin ging es sicher sehr wenig fein zu. Die Schere zwischen reichen Schiebern, gut versorgten Millitärs und der leidenden Bevölkerung war viel krasser als heute zwischen Hertz-Tchibo und Hartz 4. Und Freude fand man unter seinesgleichen – da galt wohl die Geldbörse mehr als die Gesinnung.

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