Zu dieser Zeit, 1947, war Pucki schon einem smarten Australier, der ihr das Blaue vom Himmel dort unten versprochen hatte, in seine Heimat gefolgt. Da war es dann allerdings doch nicht so nobel. Pucki musste vor Ort zu ihrem Entsetzen hinter der Theke Hot Dogs verkaufen, behauptete Guntram. Puckis Schwiegermutter Maria Rinke, die in dieser Hinsicht angeblich über gewisse Erfahrungen verfügte, weil sie in der Essener Brauerei ihres Vaters als Backfisch zu ähnlichen Bouletten-Diensten herangezogen worden sein soll, solidarisierte sich keineswegs mit ihrer halbjüdischen Schwiegertochter, sondern bestand den Rest ihres streng katholischen Lebens darauf, dass Pucki die Mörderin ihres ersten Sohnes sei. Mehr Genugtuung konnte sie sich nicht erlauben; denn den Genuss der Schadenfreude über Puckis Schicksal verbot meiner Großmutter der strenge Christengott. Andererseits geleitete dieser Gott Pucki auch nicht heimwärts, das musste die bundesdeutsche Botschaft übernehmen. Sie ließ die Gestrandete in die junge Bundesrepublik zurückschiffen, wo Pucki sich eine Zeitlang in der Nervenheilanstalt erholte.
Kriegswichtig war Hassos Besteckfabrik wohl nicht deshalb gewesen, weil die Soldaten mit Messer und Gabel essen sollten, sondern weil sie auf Munition umgerüstet hatte. 1947 war Hasso immer noch Geschäftsführer der Fabrik, die sich wieder mit Bestecken befasste, und ein führendes CDU-Mitglied (wie christlich und wie demokratisch er war, weiß ich nicht so genau) war er auch. Meine Großmutter war sogar Kreisvorsitzende der CDU Schmalkalden, und sie war immer sehr christlich und ihr Lebtag nicht demokratisch, aber nach wie vor rührig. ‚Wertheim‘, wo sie jeden Freitag Schweinebraten für ihre fünf Männer gekauft hatte, gab es ja nicht in Schmalkalden, nicht mal mehr in Berlin, und so lief sie raus aus dem Ort, stellte sich an die Eingangspforte eines Bauernhauses, lauschte dem appetitanregenden Gegacker und sagte, wenn die Bauersfrau auf dem Hof erschien: „Ja, Sie können wohl lachen! All die schönen Hühner! Putt-Putt-Putt-Putt. Sie haben wohl nicht mal ein paar Eier für mich, wohl nicht?‟ Im günstigsten Fall setzte es dann für Reinhold Rührei zum Abendbrot.
Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Elena Valebnaya/Shutterstock
Die Rinke-Brüder hatten im Rahmen von Achims Hochzeitsfeierlichkeiten Puckis Lieblingscousine Vicky kennengelernt und sie wegen ihres Gebarens mit dem Ehrentitel ‚die Barfrau‘ versehen. Trotzdem heiratete Hasso sie wenig später – wegen des Namens, behauptete Guntram. Ja, der machte schon etwas her: ‚Viktoria von Beneckendorff und von Hindenburg‘ las sich gut auf der Anzeige. Auch die jüngere der beiden Hasso-Töchter, die einen Baron heiratete, wollte von ihrer Mutter, als sie sie viele Jahre später zu sich nach Hamburg holte, Vicky solle aufhören ‚Rinke‘ zu heißen und wieder eine ‚Hindenburg‘ werden, in Hamburg sei so etwas wichtig. Ich fand das nicht und benahm mich von Hochzeit zu Hochzeit schlechter.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Also, in meinen linksliberalen Kreisen klang der illustre Name inzwischen nicht viel besser als bei den Studenten, die mit der RAF liebäugelten und für die alles, was mit Adel und Großbürgertum zu tun hatte, auf den Müllhaufen der Menschheit gehörte. Aber wer selber glaubte, Adel im Blut zu haben, sah das vielleicht anders. Vicky ließ sich zur Namensänderung überreden, nicht gern, wie sie sagte, aber sie galt halt als ein wenig harmlos. „Die meisten Menschen haben sicher etwas geahnt“, ahnte ihre Tochter, als wir an einem Sommerabend im Garten über die leidige Vergangenheit sprachen, „aber Mami bestimmt nicht. Die hat nie etwas von Politik mitbekommen.“ Auch so lässt sich Verhalten schönreden: Zur Verantwortung gehört Bewusstsein, wo das fehlt, herrscht Unschuld.
In der eingeschränkten thüringischen Idylle gab es 1947 aber nicht nur den Bahnwärter und mich, meine Großmutter und Reinhold, Hasso, Vicky und die beiden Töchter, sondern auch die Russen. Und die waren auf Hasso nicht gut zu sprechen. Sie waren sogar so schlecht auf ihn zu sprechen, dass er eines Tages ziemlich hastig seine Koffer nahm und nach Berlin ausbüchste, in den Westsektor, versteht sich. Welche silbernen Löffel er aus seiner Fabrik gestohlen hatte oder welche Hühnchen es mit ihm zu rupfen galt, ist nie ganz klar geworden, ich habe den Verdacht, es war etwas, wovon die Amerikaner, Engländer und Franzosen auch nicht begeistert gewesen wären.
Vicky, die geborene Viktoria von Beneckendorff und von Hindenburg, sollte nicht nur mit ihren beiden kleinen Töchtern hinterherkommen, sondern möglichst mit allem Hab und Gut. Das ging aber nicht, die Russen wollten es nicht dulden, nicht, solange Vicky die Frau des Türmers Hasso Rinke war. Hasso und Vicky ließen sich also in Berlin pro forma scheiden. Mit dem Dokument der vollzogenen Trennung in der Tasche gelang Vicky der Umzug in die sowohl ehemalige als auch kaputte Reichshauptstadt. Die Abwicklung hatte jedoch eine gewisse Zeit in Anspruch genommen, und in der war Folgendes passiert:
Fotos (2): Shutterstock
Herr Stegenwallner hatte – in seiner Eigenschaft als Erfinder – die Lichtpause erfunden, damit konnte man das tun, was man später mit Fotokopiergeräten machte. Herr Stegenwallner ging mit dieser Erfindung zu Herrn Körte, einem Berliner Kohlenhändler, und der gründete daraufhin mit meinem Vater zusammen die ‚Eska‘: ‚S‛ von Stegenwallner, ‚K‛ von Körte. Anteilseigner der Lichtpausenfabrik waren aber zu je 50 Prozent Herr Körte und Guntram.
Foto: Shutterstock
Hasso, der gerade abgebrannt in Berlin erschienen war, wurde zum Geschäftsführer gemacht; das eingekesselte Berlin war kein günstiger Standort, der Firmensitz wurde ins zentrale Düsseldorf verlegt, schließlich musste die Menschheit ja von der Existenz der Lichtpause erfahren. Dazu bedurfte es einiger Anstrengungen. Die erste war ein Stand auf der wiedererstandenen Hannover-Messe.
Herr Körte war zwar kein liebevoller Vater (meine Erziehung bestand überwiegend darin, mir vorzuhalten, dass ich weit weniger als Herrn Körtes und Werner Russ’ Kinder verprügelt wurde), aber Herr Körte war andererseits auch kein Kostverächter, so dass der meiner Mutter positiv in Erinnerung gebliebene, stimmungsvoll-heitere Leichenschmaus nach seiner Beerdigung, fünfzehn Jahre später, in seinem Sinne gewesen sein dürfte. Herr Körte hatte ‚Carola‘ aufgetan, die genau wie er kein Kind von Traurigkeit war, und er hatte sie als Hostess nach Hannover beordert. Dort traf Hasso sie, verfiel ihr und heiratete sie.
Foto: Privatarchiv H. R.
Die geprellte Vicky ließ sich mit ihren Kindern in Berlin nieder, Hasso ließ sich in Düsseldorf von Carola um den kleinen Finger wickeln. Gern ging sie auch auf die mondäne ‚Kö‛, um Pumps und Kleider zu kaufen; die Rechnung ließ sie dann an die ‚Eska‘ schicken, was weder Herrn Körte noch Guntram besonders freute.
Es gab – auch in den Fünfzigerjahren – in Frankfurt Rosemarie Nitribitt, und ich stelle mir vor, dass die beiden Frauen gewisse Gemeinsamkeiten hatten, nur dass die Nitribitt heute als Opfer der Gesellschaft dargestellt wird, während umgekehrt die Gesellschaft das Opfer von Carola wurde.
Meine Mutter durchschaute Carola gleich bei der ersten Begegnung als ‚Weibsstück‘, und auch ihre Beziehung zu mir ruinierte Carola am zweiten Tag unserer Bekanntschaft zum Weihnachtsfest 1951 in Berlin sofort, indem sie sich etwas von meinem Gabentisch grabschte, zu mir in die Hocke herunterkam und mir mit einer erbastelten So-spricht-man-mit-Kindern-Stimme erklärte, das wolle sie meinen Cousinen schenken, sie hätte sonst nichts für sie. Dass Hasso überhaupt mit dieser Person, die rothaarig und laut meiner Mutter, ‚ganz hübsch, aber mit einer brutalen Kinnpartie‛ ausgestattet war, bei der zarten, blonden Vicky aufkreuzen wollte, war schon schlimm genug, aber sich mit meinen Geschenken einzuschmeicheln – das war die Höhe. Weibsstück! Ich vergab meiner Schuldigerin nie, nicht mal ihr Tod hätte mich versöhnt, wenn nicht das mit dem Kartoffelpuffer gewesen wäre. Gut, dass sie mit Hasso im porösen ersten Stock bei uns schlief, den zu betreten mir wegen Einsturzgefahr verboten war. Und über meinem Zimmer stand ihr Ehebett ja Gott sei Dank nicht.
Hasso lebte mit Carola in Düsseldorf herrlich und in Qualen, bis sie ihn schließlich vor die Tür setzte: Er war ausgemolken. Der unmittelbare Familienzweig behauptete, Hasso hätte sich ihr freiwillig entzogen, und ich möchte nicht darauf verzichten, auch diese Darstellung hier wiederzugeben. Die neu angeschafften Möbel jedenfalls behielt sie zurück, sie kamen ihren Erben zugute.
Und wie schon im letzten Beitrag ist die lästige Kirche wieder im Weg. Nicht mal Schadenfreude erlaubt der liebe Gott. Ein Grund mehr sich nicht um den ganzen Humbug zu scheren. Hot Dog-Verkäuferin ist ja auch schon Strafe genug. Haha!
Hot Dog Verkäuferin ist wahrscheinlich tausend mal besser als vom „strengen Christengott“ selbst noch die Schadenfreude verboten zu bekommen. Ich würde sagen Maria Rinke hatte wohl das schwerere Los als Pucki.
Hahaha, ich schließe mich Herrn Herdesheim an. Hot Dogs verkaufen klingt tatsächlich besser.
Wo kommt eigentlich diese So-spricht-man-mit Kindern-Stimme her? Wer hat sich das ausgedacht, weiss das irgendjemand? Was ist da bloß schief gelaufen? Ist mir seit jeher ein Rätsel. Genau wie die leiernden Reden in der Kirche. Oder die völlig überzogenen Performances von Synchronsprechern. Warum reden Menschen bloß nicht normal?
Das ist tatsächlich ein großes Rätsel liebe Clara Bernauer. Die Kindheit soll natürlich ein geschützter Raum für die persönliche Entwicklung sein. Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln wäre demnach sicherlich falsch. Aber wieso man als Konsequenz gleich in diesen Kinds-Sprech verfallen muss und Kinder praktisch als Idioten behandelt, verstehe wer will.
Wunderbare Geschichten und Anekdoten aus einer sonst ja doch eher spießigen und langweiligen Zeit. Gottseidank werden heute weniger Kinder verprügelt als in den fünfziger Jahren.