Zeit, wieder in den August 2016 zurückzukehren: Rafał verließ die Autostrada und uns das Glück. Über Schlaglöcher und Schienen holperten wir in die Hauptstadt der Campagna ein: ‚Vedi Napoli e poi muori‘. In der folgenden Stunde fragte ich mich allerdings, ob es nicht besser wäre, lieber erst zu sterben und dann Neapel gegebenenfalls von oben zu sehen. Meine Vision, uns an der Promenade bei einem Erfrischungstrunk (bei mir also Negroni) auf ‚Tante Terese‘ einzustimmen, war schon perdu. Eher fürchtete ich, ihre Küche sei bereits zu, wenn wir irgendwann bei ihr ankämen. Mit der Angst bin ich per du seit meiner Kindheit, wir kennen uns gut. Weniger gut kannten wir den Weg. Frau Navi hatte uns schon wissen lassen, dass unser Ziel in einer ‚für den Verkehr gesperrten Zone‘ läge. Trotzdem verlangte sie, wir sollten auf einer Straße nach links abbiegen, bei der sich selbst der mutige Rafał nicht in den Gegenverkehr drängeln konnte: Der Mittelstreifen störte noch mehr als das Verbotsschild. Stattdessen fuhr Rafał wieder mal ein paar Runden Kreisverkehr und ging die erwünschte Straße von der anderen Seite an. Immerhin kamen wir in Hafennähe, aber nicht recht weiter. Ich kletterte aus dem Wagen und fragte einen Taxifahrer: „Wie kommen wir mit dem Auto zu ‚Zi Teresa‘?“ Er wusste Bescheid: „Non affatto!“ – Gar nicht! –, sagte er und empfahl uns ein Parkhaus. Das gefiel nun mir nicht. Rafał fuhr zum Wasser. Da gab es eine breite Straße, eine mittelhohe Mauer, und mehr sah man nicht. Die Navifrau sagte trotzdem höchst zufrieden: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
So viele Halteverbotsschilder wie dort habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Für Begriffsstutzige war unter jedem blauroten noch ein weiteres Schild angebracht, welches deutlich darauf hinwies, dass zu bleiben nicht angebracht war: Es zeigte einen Abschleppwagen. Auf der anderen Straßenseite reckten sich herrschaftliche Hotels, und livrierte Männer achteten darauf, dass höchstens mal ein illustrer Gast aus dem Fond seiner Limousine stieg, und mehr auch nicht. Ich stieg auch aus, vorne, und bat Silke, dasselbe zu tun. Sie wirkte etwas zögerlich, wohl, weil guter Rat teuer war, und das in einer ihr nicht geläufigen Währung.
Rafał wurde von mir ermuntert, sich ein sicheres Plätzchen zu suchen, wo, war seine Sache, und dann stakste ich mit der etwas unwilligen Silke die lange, lange Treppe, die von der Mauer aus nach unten führte, herab. Die Hitze war mit dem Wort ‚mörderisch‘ treffend beschrieben. Ein paar bedrohlich laute Jungen kamen uns entgegen, und ich hatte nichts als meine Krücke in der linken Hand, mein Portemonnaie in der rechten Hosentasche und natürlich Silke hinter mir. Unten gab es einen Gehweg, das Ufer und drei Lokale, deren letztes ‚Zi Teresa‘ war. So von der untersten Stufe aus war es nicht mal für mich schwierig, das Lokal zu erreichen. Der Eingang lag auf der Seite, von der wir nicht kamen, wir gingen also an der Terrasse vorbei und sahen, dass sich nur wenige Menschen von ‚Teresas‘ Angestellten bedienen ließen. War aus Berlusconis Stammlokal wieder ein Geheimtipp geworden oder gar ein No-Go? Vor ‚Teresas‘ Pforten führte eine sehr viel breitere Treppe als unsere Abwärtsstiege wieder nach oben, also vom Gestade des Jachthafens zur Promenade und den Grandhotels.
Ich sagte zu Silke, sie solle warten, ich würde im Lokal nach Parkmöglichkeiten fragen. Ein Kellner kam mir auch gleich entgegen und erklärte mir den Weg zum nächsten Parkhaus: „Cinque minuti da qui.“ Befriedigt ging ich zurück zu Silke, aber die war weg. Ich erwog, ihr über die Treppe nachzusteigen, aber erst rauf, dann wieder runter, und sie war inzwischen sicher längst bei Rafał, der sowieso immer etwas findet. Ich wartete; meinen rechten Fuß am Fuß der Treppe. Wenn der linke Fuß hinten steht und das Hauptgewicht trägt, ist es einfacher, das Hinfallen in der Öffentlichkeit zu vermeiden, selbst unter gleißendem Himmel.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
‚Die Sonne schien ihm aufs Gehirn, da nahm er seinen Sonnenschirm‘, heißt es im ‚Struwwelpeter‘ über den ‚kohlpechrabenschwarzen Mohren‘ (für die Kleinen: Das ist ein recht dunkler Afroamerikaner). Ich war sowieso eher rot und hatte bloß meinen Stock, der war gegen die beißende Hitze wenig hilfreich.
Der ‚Teresa‘-Nachfolger, vielleicht ihr Urenkel, kam heraus und bat mich herein. Da könne ich besser warten. Entweder wollte der aus Marketing-Gründen keine Schmorleiche vor seinem Lokal oder er war ein guter Mensch; wohl das, denn er brachte mir auch gleich Wasser an den Tisch, an dem ich nun allein saß, die Boote und die Festung links von mir jenseits der Hecke, die anderen Tische und das Gebäude rechts, direkt vor mir weitere Tische, wenige Gäste, und dann die breite, lange Treppe.
Foto: Privatarchiv H. R.
Immer wenn ich Füße sah, lauerte ich, wer da wohl runter kam. Endlich, nach zwanzig Minuten, sah ich Silkes und Rafałs Beine und nahm mir fest vor, nicht zu toben, wenn sie unten wären. Sie waren es aber gar nicht. Ich blieb stumm.
Nach einer halben Stunde bestellte ich mir einen doppelten Fernet Branca, das hilft ja immer. Ohne Eis natürlich, ‚liscio‘. Nichts Kaltes bei Hitze. Ob sie abgefahren sind? Keinen Parkplatz? Na dann weiter! Wie komme ich nach Rom? Taxe, Bahn, Bus. Ich habe Geld, ich kann die Sprache. Ist doch Quatsch. Sie lassen mich hier nicht sitzen. Ich stierte nach vorn. Beine auf der Treppe! Langsam abwärts … fremde Köpfe. Wieder nicht. Das kann nicht sein. Blutdruck? An der Decke. Gibt aber keine.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Nach einer Dreiviertelstunde endlich die richtigen Beine. Als sie an den Tisch treten, bin ich zehn Sekunden lang erleichtert und dann wütend. „Du solltest warten, nicht wegrennen!“, flüsterte ich Silke an, und während ich weitersprach, hatte ich den Eindruck, dass meine Stimme vielleicht doch etwas lauter wurde, oder warum sonst sahen die Esser auf mich statt auf ihre Teller? Silke machte einen desolaten Eindruck, was ich zunächst der Macht meiner Worte zuschrieb, bis ich merkte, dass sie kurz vor dem Kreislaufzusammenbruch stand – inzwischen: saß. Sie bekam Wasser von mir, tröstende Worte von Rafał und die Karte vom Kellner – die wollte sie am wenigsten.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Wein durfte nur ich trinken, und das tat ich dann auch. Das Essen ließ schön lange auf sich warten, so gab es genügend Spielraum, uns selbst und uns gegenseitig zu beruhigen. Silke hatte die ganze Zeit über oberhalb der Treppe in der Sonne gestanden. Hätte ich das gewusst, hätte ich sie natürlich doch runtergeholt und dann ganz gelassen, mit den Fingern am Stiel meines Glases spielend, abgewartet, welche Erklärungen aus Rafał heraussprudeln würden. Es war mir nicht mehr bewusst gewesen, dass es so umständlich ist, ‚Teresa‘ zu erreichen, obwohl hier ja auch früher niemals Autos hatten fahren können. Früher war mir auch nie aufgefallen, wenn Treppen kein Geländer hatten. Früher …
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Appetit hatten wir alle nicht, aber was kam, war nicht schlecht. Die Frage, ob die Mahlzeit all die Anstrengung wert war, ist falsch gestellt. Wie man die Frage richtig stellt, weiß ich allerdings nicht.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Andere Gäste waren da auf ‚TripAdvisor‛ bestimmter in ihren Aussagen. Ein deutscher Kommentar: ‚Das Essen war wirklich mies. Völlig liebloser Salat, Antipasti mit schlechtem Öl und ohne Geschmack, die Pasta ein geschmackloser Witz und der Fisch ein Grätengrab. Die Kellner verkomplettierten den Eindruck.‘
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Amerikaner waren noch unzufriedener: ‚Mein Partner war ihr harter Kalbsschnitzel Schnitzel mit kein Gemüse oder Salat serviert. Sie hat ihr Salat als sie fast das Fleisch gegessen hatte und als ich mein Essen serviert, während sie hatte schon fast fertig, so dass sie auf ihr eigenes gegessen.‘ Oder: ‚Man verwechselte derjenige der Bestellung, ein Gericht kam zum ersten Mal als der andere und wir fast zu schreien bemerkt hatte. Schlechte Wahl.‘ Weil es wohlfeil ist, sich an Übersetzungsautomaten zu delektieren, habe ich mir noch das Original ermausklickt: ‚They mistook the order, one dish arrived first than the other and we had to almost scream to get noticed. Bad choice.‘
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Silke und ich warteten oberhalb der Treppe, und Rafał erschien überraschend schnell mit dem Wagen. Eine kleine Stadtrundfahrt musste sein. Giuseppe hatte über WhatsApp vermeldet, dass sein Zug aus Padua Verspätung hätte, und uns war unsere Ankunftszeit in Rom auch längst davongelaufen. Wir sahen verfallene Gebäude, vor denen Männer lungerten und elegante Cafés, in denen Herren saßen, wie Großstadt so ist, nur hier eben mit Vesuv. Mehr ist aus dem Auto heraus nicht drin. Und draußen war für mich erst recht nichts drin.
Foto: Privatarchiv H. R.
Dass wir von Neapel aus mit Erika, Opel Diplomat und Fähre nach Sizilien aufgebrochen waren, ist jetzt 50 Jahre her. Fünfzig Jahre. Ein paarmal bin ich hier am Bahnhof angekommen und mit Koffer, Tasche, Anzugsack nach Ischia weitergereist. Am Inselufer standen meine Eltern und winkten mir entgegen. Einmal bin ich von hier aus mit der Bahn einfach weitergefahren nach Kalabrien, weil ich nicht länger als eine halbe Stunde auf Harald, der mich am Hafen abholen sollte, warten mochte. Wir trafen uns in dem Hotel, von dem wir vor einer Woche abgereist waren und zu dem Harald nun auf gut Glück zurückfuhr. Handys gab es ja nicht, ich vergesse meins sowieso immer auf dem Nachttisch, und Harald sagte leicht vorwurfsvoll, dass er eine halbe Stunde nicht viel fände, wenn man von weither über Serpentinenstraßen käme. Stimmt wohl, aber ich konnte nicht abwarten, damals.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Die Fahrt zurück zur Autostrada war um noch einiges grässlicher als die Hinfahrt, weil die Fahrbahn nicht reifenfreundlicher geworden war, aber der Verkehr schlimmer. Rafał tobte ein bisschen, Silke fror ein bisschen, aber ohne Klimaanlage wäre es im Auto noch schlimmer gewesen. Wenigstens war sich die weibliche Navi-Stimme mal sicher, wie es weiterging: Da lang, wo alle anderen auch hinwollten: Neapel sehen und sterben.
Foto: Dr.Conati/Wikimedia Commons/gemeinfrei
Die Hände im Schoß, die Füße im Becken | #56Benedikt, ohne Eier | #58
Fünfzig Jahre sind wirklich beeindruckend; also vor allem in Italienbesuchen gerechnet. Und dieses Immer-wieder-zurückkehren mag ich sehr. Gar nicht aus Sentimentalität, sondern vielmehr mit Wertschätzung für die eigene Geschichte und die Orte, die einen geprägt haben. Allerdings sind auf meiner „bucket list“ auch noch ganz ganz viele Orte, die noch auf meinen Besuch warten. Ich habe das Gefühl, ich brauche noch ein bischen mehr Zeit bis es sich lohnt zur zweiten Reise-Runde aufzubrechen.
Ich versuche zu erweitern, ohne zu vernachlässigen: in jedem Jahr etwas Neues entdecken, aber auch Erlebtes mit seinem jetzigen Zustand zu vergleichen.
Um Ihren eigenen Blog zu zitieren: „Alles ist – bis zu einem gewissen Grade – rückwärts gerichtet.“ Der Mensch braucht den Bezug zur Vergangenheit. Unabhängig davon, ob man sie glorifiziert, respektiert, als unangenehm betrachtet oder verneint. Der Bezug ist immer da.
Von abenteuerlichen Navi-Erlebnissen im Auto kann ich auch ein langes Liedchen singen. Dass man diese Verständigungsprobleme zwischen Mensch und Maschine technisch immer noch nicht in den Griff bekommt ist gleichermaßen verwunderlich wie charmant.
Wenn man der Navi-Stimme nicht folgt und nicht über die Kaimauer ins Wasser fährt, fühlt man sich als Mensch doch gleich wieder mehr geachtet, zumindest von sich sebst.
Auf langen Autofahrten kann ein Streitgespräch mit „Frau Navi“ auch ein ganz netter Zeitvertreib sein. Ich finde es manchmal ein wunderbares Mittel gegen die Langeweile mich über die offensichtlich falschen Anweisungen meines Navigationssystems zu echauffieren 😉
Wobei da Komik und Tragik auch recht nahe beieinander liegen können. Ich habe tatsächlich mal eine Hochzeit (eines zugegebenermaßen nicht ganz so engen Freundes) verpasst. Das kann ich zwar nicht ausschließlich dem Unvermögen meiner Navi-Frau zuschreiben, aber ich möchte doch sagen zu 70%. Haha!
Man muss ja nicht auf jeder Hochzeit Blümchen streuen und auf jeder Beerdigung Sand aufs Grab schaufeln. Gut, wenn man dann die Navi-Ausrede hat. Was haben wohl die Menschen früher gemacht, als man sich noch auf seinen Orientierungssinn verließ?