Teilen:

2710
Fast am Ziel

Höhepunkte und Amokläufe | #29

Wir hatten es einfach schön, was am Anfang des Unterwegsseins immer Probleme aufwirft: Wird der Rest der Reise ein Abstieg werden, ein Niedergang? Höhepunkte habe ich immer angestrebt und vermieden. Entweder man traut ihnen gar nicht erst über den zieltrunkenen Weg oder sie markieren das Ende von Vorfreude und Lust: Höhepunkt gleich Endstation. Wenn man Glück hat, wie beim Liebestod in der Oper, kommt danach gar nichts mehr, üblicher ist die emotionale Talfahrt. Vom Forum Romanum zum römischen Strich ist es nur ein Schritt. Napoleon hatte es auf seinem peinlichen Rückzug aus Russland staatsmännischer ausgedrückt: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt“, sagte er einsichtig. Hat Hitler wohl nicht gelesen.

Ich habe mich immer davor gehütet, irgendetwas in meinem Leben als den Höhepunkt zu bezeichnen. Deshalb bleibt mir die biografische Möglichkeit, die allerletzte lebensverlängernde oder -beendende Spritze dereinst als den Höhepunkt meines Daseins empfinden zu können, selbst wenn ich ihn nicht mehr schildern kann. Doch so weit will ich noch gar nicht vorausschauen.

In Europa war ja bereits vor unserer Abreise etwas los gewesen. Am Tag, bevor wir unser geschütztes Heim verließen, war ein Fanatiker in Nizza mit dem Lastwagen in die Menschen gebrettert, die am Straßenrand standen, um den 14. Juli zu feiern. Am 14. Juli vor 227 Jahren fand in Paris der ‚Sturm auf die Bastille‘ statt, was nachträglich dem Volk als Beginn der Französischen Revolution eingeimpft wurde. In der Bastille hatte zuvor mal Voltaire eingesessen – Gebildete wissen, der war Philosoph – und Marquis de Sade schmorte da auch schon – Prügelknaben kennen ihn als Namenspatron von Nachtclubs.

1789 lungerten in dem Riesenbau gerade mal sieben Häftlinge rum, bewacht von einem Kommandanten, dem 80 Kriegsveteranen und 32 Soldaten assistierten. So viel Brimborium wurde nicht mal um die RAF gemacht. Der Kommandant, offenbar lebenslustig, gab sofort auf. Für den ‚Sturm‘ bedurfte es nicht mal eines Windhauchs. Erhaben oder lächerlich? Wie üblich, wenn gefeiert wird, zählten aber nicht im Mindesten die Tatsachen, sondern ausschlaggebend war bloß die Idee, und die war in ihrer Umkehrung dem Attentäter wohl bewusster als denen, die er niedermähte. Die standen nur da und wollten Feuerwerk sehen. Er wollte zeigen, dass die Idee gescheitert ist. Wer die Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen, wissen wir spätestens sein Santayana. Viele kommen allerdings erkenntnislos um im Rahmen der Geschichte, was der Natur völlig egal ist, solange sich die Verstorbenen vorher nur tüchtig fortgepflanzt haben.

Die wenigen Misslichkeiten einer spannungslosen Woche sind schnell benannt: Am Mittwoch fuhren wir in den Ort. Er wirkte ein wenig ausgestorben, und ich musste mir sehr zureden, das hübscher zu finden als Touristenmassen. Wir umrundeten den winzigen Hafen, für mich eine Strecke wie für die Weinbergschnecke der Weg von ihrem Haus bis zur Kräuterbutter, und setzten uns da hin, wo ich es am nettesten fand. Da habe ich einen Instinkt, ich finde immer das Beste. Diesmal nicht.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Aber wer bestellt auch in Mali Losinj Thunfisch Sashimi? Jemand, der wenig auf dem Teller haben will und nicht damit rechnet, einem unwirsch zerhackten Stück rohen Fisches in die Wunden sehen zu müssen. Silke und Rafał waren cleverer und bestellten ein Risotto, dessen leichenhaft aufgequollene Körner sich mit Chappi-Bröckchen zu einem ganz beachtlichen Mörtel verkleisterten. Hungernde wären dankbar gewesen. Wir nicht so. Aber was mir in der folgenden Nacht so schlecht bekam, war wohl weniger das Alter des Fischkadavers als die Erinnerung an ihren Anblick. Wenn ich keine Angst hätte, dass die Karotten mich verfluchen, würde ich Vegetarier werden.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Für ein zweites Mittagessen kleidete sich Silke so, dass die Speisung auch auf Schloss Windsor hätte stattfinden können, ich mich ähnlich. Das Lokal war dann aber doch etwas weniger mondän als erwartet. Wir saßen zwischen Badehosen und Bikinis und empfanden die Umgebung als eher tiefgestochen. Wie hätten sich wohl diese Fettwänste in Bermudas gefühlt, wenn sie mitten im Hochzeitsmahl von Coco Chanels Urenkelin mit Armanis Großnichte gesessen hätten? Wie wir? Unbehaglich? Das Essen war gut, aber dafür geht man doch nicht vor die Tür!

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Ein dritter Ausflug verlief befriedigender: mit dem Boot die Küste entlang. Bei der Fahrt aus der Bucht heraus war noch alles gut, aber dann polterte der Bootsmann so über die Wellen, dass ich froh war, nie zu frühstücken, und mein Darm vor Verwunderung aufgab, Signale in Richtung des vorderen oder hinteren Ausgangs zu senden. Zweimal fragte unser Führer, ob alles ‚okay‘ sei, und natürlich wäre ich lieber in den Fluten und im Maul einer Sardine versunken als zu sagen: „Etwas langsamer, bitte!“

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Zweimal hielt er sogar an, damit Rafał beherzt ins Wasser springen konnte. Rafał tauchte und juchzte. Im Wasser zuhause, ohne Furcht, das Ufer fern, aber Zuversicht im Herzen. Vorbei. Für immer. Habe ich es genügend genossen, als es war, was es war? Manchmal muss man die Erinnerung genießen im Glauben daran, dass man das Ereignis selbst so überwältigend gefunden hat, wie es sich dem Gedächtnis darstellt.

Unser Bootsmann brachte uns zu einer Insel mit einem Fischlokal, bei dem er Prozente bekommt oder das er für besonders gut hält oder beides. Aus- und Einsteigen ist immer etwas, bei dem ich hoffe, mich bloß lächerlich zu machen, aber nicht auch noch ins Wasser zu fallen, um mir an der Schiffswand das gesunde Bein zu brechen. Anlegen, rausklettern, da sein. Es klappt ja immer, und dann ist es ein kleines Erfolgserlebnis.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die Plätze waren gut, die Meerestiere waren gut, alles war gut. Freundliche Menschen, freundlicher Schatten, ruhige See. So ist das Leben schön. Besonders schön war der Tag, wenn man abends nicht die Nachrichten sah. In ­München hatte ein Amok­läufer neun ­Menschen und sich selbst getötet, ­mehr als 30 wurden verletzt. Wir setzten uns auf die Terrasse, sagten: „Schrecklich!“, und tranken unsere Cocktails, während die Sonne hinter den Hügeln verschwand, ohne unterzugehen.

Foto: Privatarchiv H. R.

2 Kommentare zu “Höhepunkte und Amokläufe | #29

  1. Wollte der Attentäter von Nizza tatsächlich zeigen, dass die Ideen der Französischen Revolution gescheitert sind ? Hat er die überhaupt akzeptiert: Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit? Oder wollte er einfach möglichst viele Ungläubige erwischen????

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

1 × zwei =