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0407
Fast am Ziel

Wohnen und Sein | #96

Freitag, 14. Oktober
Als wir abreisten, war der Himmel trüb, und die Blätter hingen lustlos an den Bäumen. Rafał hatte alles im Auto verstaut, bis auf das, was er vergessen hatte. Halb so schlimm. Carsten blieb mit Sally noch länger und konnte hinterherbringen, worum Rafał ihn schriftlich und mündlich bat. Wenn man bedenkt, wie es vor hundert und erst recht vor zweihundert Jahren war, wenn man kommunizieren wollte, dann kommt man auf die Idee, ‚Fuck ju Göhte‘ zu twittern. Fortschritt hat den herrlichen Nebeneffekt, sich überlegen zu fühlen: Ich laufe nicht, ich reite. Ich fahre in der Kutsche; in der Eisenbahn; im Auto. Ich fliege!

Die Vergangenheit kann ich in monumentalen Breitwandfilmen auf mein Smartphone runterladen und Charlton Heston in mini sehen, aber Science-Fiction-Filme sind noch angesagter und blockbusteriger, dafür geh’ ich sogar ins Kino. Und ich esse Popcorn und ich trinke Cola und ich kaufe mir pro Woche zwei bis drei T-Shirts mit geilen Sprüchen drauf. Meine Tattoos und meine Ringe in Ohr und Nase zeigen, dass ich meinen Körper liebe wie mich selbst. „Was soll nur aus der Welt werden mit solchen Erdbewohnern?“, fragten sich schon die griechischen Philosophen und fragen sich heute die Rentner, die früher engagiert waren im Kampf gegen das, was ihre Eltern nicht bereuen wollten. So geht das immer weiter, aber wie es scheint, nicht mehr linear, sondern fast schon in der Potenz.

Meran ist nicht mehr das, was es mal war. Es ist schöner, also besser, bis auf die Verkehrsführung. Die Einbahnstraßen zwingen zu mühseligen Umwegen.

Ich bin äußerlich nicht mehr der, der ich mal war, und das kann ich durch den Glauben, ich sei innerlich derselbe geblieben, nicht wettmachen. Meine Einbahnstraße lässt kein Abbiegen zu: Ich mache weiter oder ich höre auf. Den Plan, über den Reschenpass zu fahren, ließ ich fallen, rechtzeitig, noch im Bett, denn diese Tour hätte eine Stunde länger gedauert, obwohl es die kürzere Strecke ist, was auch als Gleichnis durchgehen mag: Umwege und Lügen führen schneller ans Ziel als Geradlinigkeit, die sich nicht durchsetzen kann – gegenüber Lastwagen am steilen Hang oder Unentschlossenen am Tag der Wahl. Also fuhren wir einsichtig über den Brenner, Kristina zuliebe. Auf den hohen Bergen lag Schnee, und in Österreich schien sogar die Sonne. Als wir am Schild ‚Bundesrepublik Deutschland‘ vorbeifuhren, ging der Abschiedsmodus endgültig in den Erwartungsmodus über.

Schreiben ist, wie jeder, der das ernsthaft tut, sagt oder verschweigt, eine einsame Beschäftigung. Wahrscheinlich ist das Trainieren für einen Pokal genauso einsam. Ich kenne nur das Komponieren in einem Umfeld, das keine Noten lesen kann. Es macht nicht hochmütig, eher fühlt man sich ausgeschlossen vom großen Kreis der Unwissenden. Kassandra muss so gefühlt haben, aber bei ihr ging es um Wahrheit, um die Vorhersage, die missachtet wurde; bei mir ging es bloß um Töne, um Gebilde aus Klang, mit denen ich die Welt erobern wollte, weil sie so nachvollziehbar schlüssig waren und in den Abwandlungen der Themen den Wandel der Zeit und des eigenen Lebens widerspiegeln sollten. Hoch rechne ich mir an, dass ich nicht gefragt habe: „Wen interessiert das?“ Ich wollte es tun, ich musste es tun. Ich habe es getan. Und interessiert hat es wirklich niemanden. So habe ich im Nachhinein komponiert wie andere Kreuzworträtsel lösen oder früher Patiencen legten und heute in Computerspielen aufgehen. Das Bewusstsein, es geschafft zu haben, muss das Marketing ersetzen. Hier wird nichts verkauft, der Laden ist geschlossen, was niemand merkt, weil niemand ihn betreten will. Nun hantiere ich statt mit Tönen mit Wörtern und es beflügelt mich, mir einen Sinn einzubilden, der nur real wird, wenn jemand mein Geschriebenes liest und sich davon bestätigt, irritiert oder herausgefordert fühlt.

Wir fahren durch Berglandschaft im Herbst, die Bäume sehen aus, als seien sie der Blätter müde; wahrscheinlich wissen sie nicht, dass nach dem Abwerfen ihres Schmucks zwar erst der Winter kommt, dann aber der nächste Frühling. Vielleicht wissen sie es doch. Diese Erwägung führt direkt zu Kristina, zu ihrem Weltbild, ihrem Lebensbild.

Kristina habe ich in Moskau kennengelernt. Bernstein gab dort ein Open-Air-Konzert im Gorki-Park, was meine Anwesenheit nicht rechtfertigte, aber erklärte. Essen beim bundesdeutschen und beim US-Botschafter, Gartenparty in der Residenz, wie das eben so läuft, wenn man seine Textilien ausführen und die Zunge in Bewegung halten muss. Nach all meinen Moskau-Aufenthalten (Besuche mag ich sie nicht nennen) in Eis und Schnee war dieser heiße Sommer, inzwischen unter Gorbatschow, eine wohltuende Erfrischung.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Kristina war als Fotografin vor Ort. Sie schoss Bilder für ein Buch, das Frau Tchibo-Herz (aus dem Kaffee) und Eric C. Jacobson (‚die rote Hilde‘ aus #52) mitfinanzierten. Zusammen fuhren wir im Auto unseres Tontechnikers weiter hinaus, als die Polizei erlaubt. Das Lokal an der Moskwa kannte ich schon seit zehn Jahren. Es sieht aus wie ein Blockhaus, das auf dem Weg von Kentucky nach Архангельское (Archangelskoje) verrückt geworden ist.

Kristina fotografierte erst mal alles, was sich nicht wehrte: Hütten, Frauen und Schaufenster mit nichts drin. Wehrte sich doch: Gleich nach der Speisekarte kam die Polizei und nahm uns die Pässe weg, während wir Kaviar bestellten. „Denunzianten!“, dachte ich. Aber es war Sommer, in drei Jahren würde die UdSSR aufgelöst werden; länger würde unsere Haftstrafe wohl nicht dauern. Gleich nach dem Kaviar kamen unsere Pässe, mit dem Hinweis des Diensthabenden, dass wir die Gültigkeit unseres Visums überschritten hätten. Für solche Fälle habe ich einen so bekümmerten Gesichtsausdruck und eine so reumütige Stimme im Repertoire, dass sogar der Henker meine Einsichtigkeit bewundern würde und einen anderen nähme. Menschen, die in gerechter Empörung gegen die Staatsmacht aufbegehren, gefallen mir im Kino. In Wirklichkeit mag ich sie nur, wenn sie sich durchsetzen, was selten der Fall ist, und sonst gibt es statt Verfassungsänderungen bloß blutige Nasen und Tränengas. Bei uns nicht. Wir kamen im Auto des Toningenieurs wohlbehalten nicht nur zurück nach Moskau, sondern sogar im selben Flugzeug nach Hamburg, geschmuggelten Kaviar im Gepäck.

Kristina hatte ihr Studio mit Wohneinheit in Winterhude, also unweit meines Büros an der Alster. Dadurch ergaben sich in unregelmäßigen Abständen Mittagessen bei ihr. Sie kochte Pellkartoffeln, für deren Würze ich Lachs und Kaviar mitbrachte. Dann zog Kristina nach Wentorf, das nicht mehr ganz Hamburg ist, sondern zum Herzogtum Lauenburg gehört. Ich befürchtete, dass sich Fuchs und Hase da nicht ‚Gute Nacht‛ sagen, weil sie vorher schon vor Langeweile eingeschlafen sind, und besuchte Kristina dort nie, und auch kein anderer, wie sie mir gestand.

Irgendwann sagte sie am Telefon: „Das bin ich nicht!“, womit sie, glaube ich, nicht den Fuchs meinte, sondern die Umgebung. So zog sie zurück nach Uhlenhorst, wo ich sie wiedertraf, aber das war sie dann auch nicht mehr, sondern siedelte um nach Bad Tölz. Sie tat das, um näher an den Geldgebern zu sein, sagte sie. Kristina war für ‚Stern‘ und ‚Brigitte‘ zu Modeaufnahmen an ferne Strände gereist und kannte die Welt. Nun aber wollte sie ein Magazin herausbringen, das sich befasst mit, tja, der Ganzheit des Lebens; Gesundheit, Philosophie und Mystik sind nur Teilaspekte in der Gesamtsicht, die die Broschüre abdecken soll. ‚Atem‘ heißt sie. Allerdings gab es beim Erscheinungstermin Verzögerungen, die bis heute andauern.

Foto oben: FooTToo/Shutterstock | Foto unten: Privatarchiv H. R.

Inzwischen ist Kristina auch nicht mehr Bad Tölz, sondern sie ist Ostallgäu, genauer Halblech Berghof, wo Fuchs und Hase schon seit längerer Zeit ausgerottet sind. Dafür ist Schloss Neuschwanstein gangnah, und ich sehe Kristina jeden Morgen auf ihre Terrasse treten und hinabblicken auf König Ludwigs Prachtexemplar da unten. Vielleicht wohnt sie aber so:

Fotos: (2): Privatarchiv H. R.

Genügend Zeit, um das herauszufinden, hatten wir nicht, wohl aber die Muße für ein gemeinsames Mittagessen. Diese Zusammenkunft war der eine Grund dafür, dass wir die gängige Strecke durch das Inntal mieden, der andere Grund war, dass es auf dieser Reise (bis auf Meran) keine Wiederholungen geben durfte, und am Inn entlang waren wir ja schon ‚hinzu‘ gefahren.

Normalerweise ging die Rückfahrt, und seit ich nicht mehr mit Harald bis Mantua durchbretterte, oft schon die Hinfahrt, über Iphofen. Da genossen wir im ‚Zehntkeller‘ ‚fränkische Gastlichkeit‘. Seit 1962 kehrten wir dort ein. Meinen allerersten Schwips hatte ich abends in der Gaststube: von zwei Kelchen Bocksbeutel. Guntrams Chauffeur und meine Mutter waren Zeugen. Oder zumindest anwesend. Achtundzwanzig Jahre später, als ich Roland nochmal Bayreuth bieten wollte, war Iphofen Station auf unserer letzten Reise. Da war der ‚Zehntkeller‘ schon kein uriger Gasthof mehr, sondern ein feudales Romantik-Hotel.

Den ‚Zehntkeller‘ hatte wie immer meine findige Mutter in der ‚Welt‘ entdeckt. Damals, als es noch keine Autobahn zwischen Würzburg und München gab, lag Iphofen an der Landstraße, und so lag es nahe, dort zu übernachten. Unser Chauffeur hieß Charly von Steinsdörfer, und ich war ein bisschen beleidigt, dass nicht ich mir diesen Namen ausgedacht hatte. Guntram schätzte keine plumpen Vertraulichkeiten, aber seinen Fahrer ‚Herr von Steinsdörfer‘ zu nennen, fand er auch etwas komisch. Charly erzählte im ‚Zehntkeller‘ bei Rostbratwürstchen und Wein etwas von vergrabenen Schätzen in einem geheimnisvollen Bergsee. Irene und ich kicherten angetrunken und erfuhren erst viele Jahre später, dass er womöglich Recht hatte. Er hatte vielleicht wirklich gegen Kriegsende auf Befehl der SS Wertgegenstände im Toplitzsee vergraben. Man muss sich hüten, das Nächstliegende für wahr zu halten und das Verrückteste für unwahrscheinlich.

Foto: Privatarchiv H. R.

Iphofen war also nicht neu genug für unsere Rückfahrt, aber einfach losfahren und sehen, wo man bleibt, das widerspricht nicht nur meiner Planungswut, es wäre auch für Kristina unzumutbar gewesen.

Einige Kristina-Vorschläge hatte ich überprüft, sie hätten sicher vorzügliches Essen geboten, aber einen zweistündigen Umweg bedeutet, der schon deshalb nicht infrage kam, weil das glanzvolle Abschiedsdinner der Reise erst am Abend stattfinden sollte. Nach einigem Rumgoogeln hatte ich die ‚Waldwirtschaft am Mittersee‘ entdeckt. Die schien mir passend: Wald und See und Schweinekrustenbraten, das klingt doch vielversprechend, und was zu viel ist, lässt man liegen.

7 Kommentare zu “Wohnen und Sein | #96

  1. Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, das Naheliegende für ziemlich unwahrscheinlich und das Verrückte für wahr zu halten. Mit sehr wenigen Ausnahmen liege ich mit meiner Einschätzung richtig. Die Menschen sind halt eher verrückt als normal.

    1. Das Verrückte wird zwar in der Tat immer normaler, aber gewöhnen mag ich mich an Dschungelcamp, RTL2’s Nackt-Datingshow Naked Attraction und die fast schon minütlichen Trumptweets trotzdem nicht. Ob die Flucht in Richtung Spießertum dem etwas entgegenzusetzen hat, mag ich allerdings auch bezweifeln. Ich bin aber für jeden Versuch zu haben.

    2. Gibt es mittlerweile wirklich ’ne Nackt-Datingshow? Wo? Hab‘ ich etwas verpasst? Oh mann, die Privaten werden wirklich immer bekloppter und bekloppter…

  2. Wir sind immer Kinder unserer Zeit. Und unser Sein macht für uns nur innerhalb unseres eigenen Dunstkreises Sinn. Kinder verstehen ihre Eltern nicht, Eltern verstehen ihre Kinder nicht. Was nochmal eine Generation weiter reicht, ist völlig abwegig. Ich bin mit den Unweiten des Internets (abgesehen vom ein oder anderen Blog und meiner Nachrichtenportale) genauso überfordert, wie Donald Trump mit seinen 70 Jahren den eigentlichen Sinn von Twitter missverstanden hat. Piercings verstehe ich ebenso wenig wie meine Kinder Minipli und Schlaghose. Man kann nicht mehr tun, als versuchen sich gegenseitig zu verstehen. Scheitern selbstverständlich vorprogrammiert.

    1. Überhaupt kommunizieren, dann auch noch einander verstehen und miteinander auskommen ist ja schon ein überaus ambitioniertes Projekt. Aber die Kluft zwischen den Generationen bleibt wahrscheinlich immer. Irgendwie ist’s auch gut so. Es muss ja weitergehen. Ob wir mit der Richtung gerade zufrieden sind oder nicht. Hauptsache es kommt nicht zum Stillstand, das wäre mir die traurigste Variante.

  3. Beeidruckende Sentenzen am Anfang zum Hochmut der Nachgeborenen gegenüber der Vergangenheit und zu Umwegen! Und Kristinas Jugendphoto ist so ein schlagendes Beispiel für Veränderung…

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