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2. Berlin-Reise / 2000

#2.02 | Einstein

Ein willkürlicher Sprung. Heute ist mein letzter Tag in Berlin. Ich sitze noch einmal im Garten des ‚Einstein‘. Der Himmel ist stark bewölkt, so wie an fast jedem Tag seit meiner Ankunft. Kein Blau schimmert durch das wenig aufgelichtete Dunkel. Nicht ein Mal war es strahlend blau in dieser ganzen Zeit, aber auch nur ein paarmal hat es wirklich gegossen. Ich habe diesen unergiebigen Wetterbericht nicht ‚in a Nutshell‘ und nicht ‚in a Teacup‘, aber im Kaffeeglas nachgestellt: Vor mir steht ein dunkles Gebräu mit unfreundlich schmutzig-hellen Wolken, die man mit dem Löffel wegrühren kann: eine ‚Fiaker‘ genannte Wiener Spezialität – Kaffee mit Slibowitz und (inzwischen untergemengter) Sahnehaube. Für meinen letzten Tag habe ich mein Alkoholverbot aufgehoben. In Hamburg kann ich dann noch sattsam genug Trauerklöße fressen und dazu Tränenwasser trinken. Mit über fünfzig ist einem eben klarer als mit unter zwanzig, dass für Unterlassenes die Wiederholungschancen knapp sind. Diese Einsicht als lasche Rechtfertigung im Sinn, habe ich einen winzig Kleinen schon gegen halb drei bei meinem Aufbruch aus Stadtmitte gekippt. Wahrscheinlich wegen der Entwöhnung war alles gleich viel intensiver: die Stimmen, das Lächeln der Hotelangestellten, das Geigenspiel der auf Münzen Hoffenden in der U-Bahn-Passage, das futuristische Gefühl von Stadt: Leben, Drängen, Da-sein.
Auf gnadenlose Weise demonstrieren das die Spatzen, die sich über die Reste meines Kaiserschmarrns hermachen. Ich habe ihn, um den Schreibblock wieder vor mir zu haben, auf den Nebentisch gestellt. Sie zerren die einzelnen Stücke vom Teller, balgen sich um die Fetzen, jeder versucht, einen möglichst großen Happen zu erwischen. Was zu groß ist, fällt runter, die anderen stürzen sich auf den Brocken; es ist Kapitalismus pur: So ist ungebändigtes Leben – triebhafte Gier und hemmungsloser Egoismus, jeder für sich und keiner für alle. Hier in Berlin braucht man nicht die Spatzen zu beobachten. Man hat überall die Hinterlassenschaft und die Neuversuche vor Augen, was Menschen anstellen, wenn sie Volksgemeinschaften errichten oder ihre Lust zum Prinzip erheben wollen: Gerüste, Bauten, Ruinen – Gerüste, Bauten, Ruinen. Hier nimmt man es als Kreislauf wahr. Plattenbauten werden abgetragen, Weggeschafftes wird rekonstruiert: Aus dem Neuen entsteht das Alte.

Sich treiben lassen? Sich disziplinieren? Ach, weg mit der Egomanie: Andere treiben, andere disziplinieren! Das hat allen Philosophen und Psychopathen, Demagogen und Despoten immer viel mehr Befriedigung verschafft, und das Berlin vom Großen Kurfürsten über den Soldatenkönig und Friedrich II., über Bismarck, Wilhelm II. bis zu Hitler und Andreas Baader – dieses immer weiterwachsende Berlin kann seine Nationalhymne davon singen: Uneinigkeit und Unrecht, aber wieder viel Freiheit. Von den einen blieben erschummelte Rekonstruktionen, von den anderen zu Symbolen gestempelte Ruinen, vom letzten bloß noch verwaschene Graffiti an Kreuzberger Brandt-Mauern. In den frühen Vierzigerjahren bastelten Speer und Hitler an ‚Germania‘, wie Berlin nach dem Endsieg heißen sollte. In den Neunzigerjahren unterschrieb Honecker Pläne, die verbliebenen Häuser an der Friedrichstraße abzureißen, um sie großspurig auszubauen. ‚Wer’s Glück hat, führt die Braut heim‘, weiß mein Vater aus dem Offizierscasino seines Vaters. – Honecker führte nicht mal seine Alte selber nach Chile.
Aber auch für Einheitskanzler Kohl hat’s sich nun ausgesessen, sogar der Ehrenvorsitz bei seiner CDU ist seit Januar futsch. Wer zu spät kommt, den beißen die Hunde. In Berlin wird immer schnell vom Tisch gefegt, die Spatzen balgen sich um die Krümel und die Kampfköter tragen neuerdings Maulkorb. Endlich traf die Zensur in Berlin mal die Richtigen.

Titelgrafik mit Material von Adam Vradenburg/Unsplash (Berlin-Skyline), Engin Akyurt/Unsplash (Wolke) und von Shutterstock: pirtuss (Maulkorb), photomaster (Vogel, li.), Bachkova Natalia (Vogel, re.), Dora Zett (Hund)

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “#2.02 | Einstein

    1. „Fiaker – großer Mokka im Glas mit viel Zucker und einem Stamperl Sliwowitz“ schreibt Wikipedia. Was soll an der Wiener Spezialität schlechter sein als an Hamburger Aalsuppe mit Backpflaumen oder Berliner Eisbein mit Borsten?

      1. Ich glaube man kann sowohl Rum als auch verschiedene Schnäpse benutzen. Da gibt es je nach Café viele Variationen.

  1. Ah ich muss unbedingt mal wieder einen richtig guten Kaiserschmarrn haben. Das ist viel zu langer her 🙂

      1. Ich bin wahrscheinlich der einzige, aber ich kann Rosinen ja auf den Tod nicht ausstehen.

      2. Mir geht es leider ebenso. Da gehen einem viele Süßspeisen verloren.

      3. Bei einer engen Freundin von mir ist es genauso. Ich verstehen gar nicht, was an Rosinen so bedeutsam ist, dass man sich die Mühe macht, sie nicht zu mögen. Bei Oliven und Sardellen verstehe ich das eher, obwohl ich beides liebe.

      4. Anders als bei Oliven oder Sardellen geht es mir bei den Rosinen nicht um den Geschmack, sondern die Konsistenz. Etwas, das ich nicht besonders mag, kann ich trotzdem ab und an essen. Lebensmittel mit einer für mich fiesen Konsistenz kriege ich einfach nicht runter 😉

  2. Die Wiederholungschancen werden geringer, aber bei vielem kümmert es mich auch weniger als früher. Es gibt aber natürlich Ausnahmen.

  3. Manchmal entsteht au dem Alten Neues und dann stellt man fest, dass das Neue gar nicht so toll ist wie gedacht. Dann entsteht aus dem Neuen auf einmal wieder das Alte. Ich finde das nicht besonders schlüssig um ehrlich zu sein.

      1. Meine Frage wäre eher ob bei der Stadtplanung Ästhetik überhaupt eine so große Rolle spielt. Es scheint mir oft so, als ob man diesen Punkt einfach vergisst.

  4. Dass Honecker seine Baupläne nicht zu Ende gebracht hat ist sicher gut so. Es gibt ja wirklich genügend scheußliche Berliner Bauten.

    1. Da werden auch noch einige dazukommen. Am Alexanderplatz wird ja gerade wieder gebaut. Wirklich schön oder wirklich innovativ waren in letzter Zeit wenige Projekte.

      1. Ach was, das kann man so auch nicht sagen. Chipperfield hat doch z.B. einige interessante Bauprojekte hingelegt. Das Neue Museum zum Beispiel. Brandlhuber ebenfalls.

      2. Zum Schluss zählt der Gesamteindruck. Wenn es ganz schlimm kommt, hilft immer noch Begrünung. Ein Baum ist nie so hässlich, wie ein Haus sein kann.

      3. An der einen Seite stehen doch ein paar Bäumchen. Ansonsten muss es die Weltzeituhr richten, und der Brunnen der Völkerfreundschaft ist ja hochaktuell.

      4. Es wird ja gerade wieder viel gebaut am Alex. Vielleicht bekommt eines der neuen Hochhäuser eine schöne grüne Dachterrasse.

  5. Zur letzten Zeile des Artikels müsste man vielleicht ergänzen: Eigentlich sollten Die Kampfherrchen einen Maulkorb kriegen. Oder noch besser ein Hundehalteverbot. Solche ‚Kampfköter‘ werden nämlich nur aggressiv, wenn man sie zu ebensolchen ‚Kampfkötern‘ erzieht.

    1. Helmut Kohl schert sich um gar nichts mehr. Seine Erben tun das schon eher. Es wird ja sogar immer noch über seine Grabstelle gestritten.

      1. Man weiss gar nicht was peinlicher ist. Die Streitigkeiten der Familie Kohl oder die Russland-Affinität von Schröder.

      1. Um den Hauch des Unbändigen muss man sich mehr bemühen, als man denken würde. Unser Alltag hier in Deutschland ist weit entfernt davon wild zu sein. Das gilt bestimmt sogar für die meisten Party-Hedonisten.

      2. Man muss im Moment nur die Nachrichten schauen und schon freut man sich, dass das eigene Leben relativ unaufgeregt ist :/

      3. Hoffentlich bleibt das so. Ich fürchte, an einem bestimmten Punkt dreht Putin durch. Dann ist zu wenig Gas unser geringstes Problem.

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