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2. Berlin-Reise / 2000

#2.24 | Von den Göttern getrieben

Sonnabend, 8. Juli

Giuseppe eröffnete mir überraschend, dass er am Sonntag abreisen wolle. Zunächst hatte ich mich etwas gewundert, dass er so lange blieb, jetzt war mir etwas seltsam zumute, dass ich nun wirklich so allein sein würde, wie ich meinen Berlin-Aufenthalt geplant hatte.
Der Tag wurde dementsprechend minutiös durchorganisiert. Die Planung war unabhängig vom Wetter gemacht worden, allerdings war sie nicht unabhängig vom Wetter. So konnte noch das ein oder andere ins Wasser fallen.
Schon auf der Friedrichstraße begegneten uns struppig-bunte Boys und Girls. Am Gendarmenmarkt wurden wir gar wegen unserer gesitteten Kleidung aufgezogen, oder besser: angemacht. „Wollt ihr auch zur Loveparade?“ – „Nein, ins Museum, wo wir hingehören“, hörte ich mich sagen. Ich war zufrieden: gut pariert und wahr. Das Wetter spielte uns auch keinen Streich durch spaßverderberische Sommerlichkeit: kein Tag für die Pfauen-, sondern für die Museumsinsel. Zum Besuch des (nur im Vergleich zum älteren) Neuen Museums mit seiner Ausstellung ‚Stadt-Architektur‘ war keine Zeit. Da hätten wir vorher schon auf Köpenick oder Glienicke verzichten müssen. Das Bode-Museum war eh geschlossen, blieb also als Wichtigstes das Pergamon-Museum in der Mitte, vom Besucherstrom her betrachtet: eine japanische Enklave. Es spricht für die Aufgeschlossenheit der heutigen Jugend, dass sich fünf augenscheinlich zur Loveparade angereiste Personen unter den Museumsbesuchern befanden. Man sah ihren ratlosen Mienen an, dass sie sich verirrt hatten, aber so sind ja schon viele zur Kultur gekommen, und – missionarisch durchdrungen – die Kultur zu ihnen. Darum spielt seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ‚Cosi fan tutte‘ in Manhattan und die Walküren sitzen auf Harley Davidsons. Modern ist, was genügend Menschen dafür halten. Was zeitgemäß ist, erörtern Philosophen. ‚Nietzsche hat uns nichts mehr zu sagen‘, proklamierte die Frankfurter Schule. Im Jahr 2000 hat uns die Frankfurter Schule nichts mehr zu sagen. Da ist die Mode zuverlässiger. Wenn sie herrscht, herrscht sie. Man kann sie wieder vorkramen oder es sein lassen, aber ihren Platz in der (Mode-)Geschichte kann ihr keiner streitig machen, auch wenn niemand mehr breite Schlipse tragen will.

Der Pergamon-Altar ist erhaben über solche Reflexionen und erhebt sich über das Tagesgeschehen: Er spiegelt selbst Hochkultur wider. Man läuft mit Kopfhörern über die ehrwürdigen Stufen und hört sich vom umgehängten Rekorder an, was das Ganze soll: Die gewaltigen Reliefs zu beiden Seiten der Treppe zeigen, wie die Götter die urtümlichen Monstren nach oben treiben, um selber die Herrschaft anzutreten. Interessant, dass sie ihre Vorgänger und Gegner in die Luft scheuchen und nicht in den Orkus. Oberhalb der Treppe befindet sich der Altarplatz. Dort wurden die garstigen Urgestalten vielleicht verbrannt. Den Göttern konnten sie ja leider nicht dargebracht werden, denn die Götter waren ja die Darbringer. Mein Kopfhörer mutmaßt Menschenopfer auf dem Altar, aber wem und was opfern Götter? Sich selbst für die gute Sache? So waren die damals nicht. Das gab es erst ab Jesus. Zyniker würden nicht ausschließen, dass die Kreuzigung ein PR-Effekt war. Immerhin hatte schon 386 Jahre früher (nach üblicher Zeitrechnung) Herostratos den Artemis-Tempel von Ephesos planvoll angesteckt: um berühmt zu werden, auch ohne Talent. Mit Erfolg – er wurde hingerichtet und trotz des Verbotes, ihn zu erwähnen, ging sein Name in die Geschichte ein. Ideologiefreie Ruhmsucht findet man inzwischen viel in Berlin und auf der ganzen Welt. Aber noch mehr Brandstifter gibt es, die im Verborgenen zündeln. Vermutlich kennen heute mehr Schüler (auch nicht viele) van der Lubbes als Herostratos’ Namen, weil er (vermutlich) den Reichstag angezündet hatte. Hingerichtet wurden beide, aber die Motive waren sicher unterschiedlich. Der Reichstag hat inzwischen eine neue Kuppel, vor der die Touristen Schlange stehen.
Mir hätte ja der Tempel gereicht. Noch lieber wäre mir ein vervollständigtes Modell gewesen, meinetwegen aus Pappe: Disney-Pergamon; aber Giuseppe wollte auch alle Altäre und Figuren der übrigen Räume sehen, und so schleppte ich mich hinterdrein, um Frauen ohne Nasen und Männer – ohne Geschlechtsteile, aber aus unvergänglichem Marmor – zu betrachten.

Wir verließen die Museumsinsel über die Fußgängerbrücke, anders wäre es auch nicht gegangen. Am Bahndamm entlang liefen wir zur Station Friedrichstraße. Unter den Bögen haben sich Lokale etabliert. Die bogenförmige Decke gibt den Gewölben mehr Charakter als deren Speisekarte bietet. Eines allerdings ist originell: eine Lounge im herkömmlichen Sinne, mit extravaganten Getränken und ganz ohne Stampf-Musik – einfach zum Ausruhen, also nichts für Loveparadiener, -herrscher und andere Rhythmus-Titanen. Wir fuhren die Rolltreppe herunter zum U-Bahnsteig. Wenn man den Bahnhof Friedrichstraße 150 Meter weiter nördlich gebaut hätte, hätte man drei Spree-Brücken gespart, ersah ich aus dem Stadtplan. Hätte man dafür nicht in Kauf nehmen können, 150 Meter weiter weg von den Linden zu sein? Stadtplanung ist eine Leidenschaft von mir: Es gibt da so viel Banales und so viel Rätselhaftes zu entdecken.
Wir fuhren zum Potsdamer Platz, zum letzten Mal für Giuseppe. Letzte Male sind eine andere Leidenschaft von mir, erste natürlich auch, aber letzte sind ergreifender. Der letzte Tag in einer Gefängniszelle hat dabei einen anderen Stellenwert, je nachdem, ob man in die Freiheit oder zur Hinrichtung schreitet. Wir schritten zum Kulturforum, das leider banal und misslungen ist. Bei gutem Wetter hat es noch ein bisschen was Futuristisches, bei schlechtem will man nur weg. Das wollte besonders Giuseppe. Die Philharmonie war sowieso geschlossen. Für mich bedeutete sie ohnehin mehr Arbeitsplatz, aber Giuseppe hätte vielleicht der Zuschauerraum interessiert. Ich wollte in die Gemäldegalerie, am liebsten die Romantiker betrachten – so herrlich aus der Mode! – aber, huch!, Giuseppe weigerte sich. Zum ersten Mal! Er wollte einfach keine Bilder sehen. Verstockt! Also kamen wir gleich zum nächsten Programmpunkt, dem ‚Café Einstein‘. Aber wie gelangten wir dahin? – Mit dem Bus bis Kurfürstenstraße, fand ich raus. Aber dann wusste ich nicht, in welche Richtung. Da macht Technik Spaß: Ich habe die Nummer auf meinem Handy gespeichert. Knopfdruck genügt, und der Kellner sagt einem, ob man die Kurfürsten- von der Potsdamer Straße aus rauf oder runter muss. – Rauf; der Weg ist weit genug, da will man Fehlläufe nicht riskieren. Es gab noch Frühstück, da vermisst man den Wein nicht so. Ich wurde nicht müde, Giuseppe vorzuschwärmen, wie schön es gewesen wäre, wenn wir bei besserem Wetter draußen gesessen hätten. Drinnen ist alles ein bisschen zu wienerisch, was aber den Vorteil hatte, dass Zeitungen an langen Bügeln aushingen und Giuseppe sich hinter einem ‚Corriere della Sera‘ verschanzen konnte, beim Frühstück eine zeitlich unpassende Lektüre. Immerhin konnte er mich über die Gay-Pride-Parade unterrichten, die heute zeitgleich mit der Berliner Loveparade zum Entsetzen des Vatikans in Rom stattfand. Ich versteh’ den Vatikan nicht. War ich gestern in Lübars über die Heten-Hochzeit empört? ‚Toleranz ja, Ehe nein‘, formuliert die unselige CDU über die mannmännliche Ehe. – Unverschämt! Ich will nicht mit Toleranz abgespeist werden, ich verlange Akzeptanz!
Giuseppe, aufgestachelt von der heimischen Schrift, verlangte, die italienische Botschaft zu sehen, und wir fanden sie auch gleich neben der japanischen. Die Achsenmächte im Pomp vereint. Eröffnung nächstes Jahr. In einem Müllcontainer vor der Baustelle entdeckte Giuseppe Kacheln mit Motiven von Südtirol bis Sizilien. Er brach sie alle aus dem Mörtel und wir schleppten sie in zwei bereitliegenden Tüten, aus denen wir bloß etwas fauliges Gemüse rausschütteln mussten, davon. Schwer wie Blei, aber – stolzes Gefühl – vor dem Untergang bewahrt. Ich bin gespannt, wo in Mason sie landen werden. Auf der Müllkippe?
Je näher wir dem Tiergarten kamen, desto bunter das Völkchen. Polen, Bayern und andere Ausländer hatten offenbar in ihren Autos übernachtet und putzten sich mit Dosenbier zu den sehr ähnlichen Klängen aus ganz unterschiedlichen Kofferradios die Zähne, während wir unsere Kacheln vorbeischleppten. Wäre ich nachtragend, dann hätte ich, auf die weggelassenen Romantiker hin, Giuseppe die Loveparade verweigert. Aber so behandelt man einen Gast nicht, mit dem man das Bett teilt. Wir brauchten keinen Stadtplan, sondern orientierten uns am Krach.
Inzwischen waren die Menschen gegenüber den Bäumen weit in der Überzahl, was sich verheerend auf den Rasen auswirkte. Zum Schluss brauchten wir uns nur noch mit den Göttern abgeguckter Gewalt durch die Mauer (aus Menschen) zu boxen und standen am Rande des Geschehens: auf der Straße des 17. Juni, die ihren Namen einer noch viel folgenschwereren Massenbewegung verdankt.

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “#2.24 | Von den Göttern getrieben

  1. Das ist mal ein Satz: „Modern ist, was genügend Menschen dafür halten“. Man kann eigentlich nichts erwidern.

    1. Sobald die große Mehrheit sich geeinigt hat was modern ist, kommen dann natürlich wieder ein paar noch-Modernere und machen dem ganzen einen Strich durch die Rechnung. So gehen ja Trends.

      1. Es muss doch immer wieder Strömungen geben, die Neues bringen. Das mag dann gut oder schlecht sein, aber Bewegung ist doch immer etwas positives.

      2. Dazu gehört dann wohl auch, dass sich die Avantgarde immer wieder neu definiert. Passt doch alles.

      3. Ich finde immer, dass es aber überhaupt erstmal den Impuls zur Bewegung braucht, damit sich etwas verbessern kann. Da muss man dann schon auch die Ausschläge in die falsche Richtung in Kauf nehmen. Man kann dann ja immer nachjustieren und umsteuern. Wenn sich aber von Beginn an gar nichts tut, dann kann auch nichts besser werden.

    1. Nun gut, Picasso war auch kein Berliner. Da müssten die städtischen Museen ihre Sammlung ja grundsätzlich ordentlich zusammenstreichen.

  2. Was die Mode angeht, ziehen dann ja zumindest die Geschäfte alle an einem Strang. Da kann man entweder nachgeben und mitmachen oder den Trend stur aussitzen. Viel mehr Möglihckeiten hat man ja nicht.

    1. Da sind Menschen im Vorteil, die sich sowieso lieber nach ihrem eigenen Stil als nach schnellen Modetrends richten.

      1. Man fragt sich ob man besser dran ist wenn man von den Göttern getrieben ist oder von der Mode…

      2. Oh ja, manche Menschen macht das ja richtig fertig. Das habe ich im Bekanntenkreis während COVID noch mitbekommen. Da gab es zwei Fälle auf die das genau gepasst hätte.

      3. In Bezug auf die Pandemie kann ich da nichts zu sagen, aber ich kenne auch ein paar, die sich vin ihrem Perfektionismus fertig machen lassen. Das können einige wohl einfach nicht abstellen.

  3. Unter den Bahnbögen gibt es in der Tat viele Lokale, aber etablieren tun sich nur die wenigsten davon. Die meisten sind so beliebig, dass sie nach ein paar Monaten wieder verschwinden und es keiner wirklich merkt.

  4. Auf der Berliner Museumsinsel gibt es so viel zu sehen … ich habe trotz einigen Besuchen immer noch nicht alle Museen durch.

  5. Die Berliner Loveparade gibt es ja leider nicht mehr, zumindest nicht so, wie sie einmal war. Ich mochte die immer viel lieber als die vielen Gay-Parades.

    1. Der Tiergarten freut sich immerhin darüber, dass ein paar hunderttausend Menschen weniger auf ihm herumtrampeln.

      1. Die können alternativ ja immerhin noch in einen Club gehen. Raves gibt es ja immer.

      2. Und auch auf dem Katholikentag in Stuttgart waren weit weniger als die Hälfte von Besuchern gegenüber der vorigen Veranstaltung. Kirchen gibt es eben auch immer (noch).

      3. Das noch passt hier wohl tatsächlich. Langfrisitg gesehen werden das doch wirklich auch weniger.

    2. Die schreckliche Duisburger Version hat dem ganzen Event wohl den Rest gegeben, aber so richtig dasselbe war es ja auch vorher schon nicht mehr.

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