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2. Berlin-Reise / 2000

#2.10 | Abfahrt und Neustart

Samstag, 1. Juli

Bo und Ingrids letzter Tag. Wochenend und Sonnenschein. Wie von den Comedian Harmonists. Nachmittags die Fähre ab Rostock. Wir fahren zu viert in Giuseppes Auto. Erst Unter den Linden entlang, durchs Brandenburger Tor, an der Siegessäule vorbei; ich leite Giuseppe scheinheilig zum Kurfürstendamm. Was für ein schöner Abschluss, der Ost und West zusammenfasst! Ja, denkste! Die Koenigsallee runter und schwupp sind wir doch noch in meiner Kindheit gelandet. Ehrwürdige Stille am See, abgesehen von meinen Erklärungen. Für Giuseppe und Ingrid ist das alles ganz neu. Für Bo nicht, er war, auch an seinem letzten Tag, vor drei Jahren schon mal mit mir hier, während Ingrid mit geschwollenen Füßen im Bett gelegen hatte. Auch wer meine Ergriffenheit über Hasensprung und Schulweg nicht teilt, bemerkt doch im Grunewald, dass Berlin nicht nur aus Straßen mit und ohne Bedeutung besteht, sondern dass es darüber hinaus, wie fast zu erwarten, Villengegenden mit Baumbestand gibt. Aber so traumverloren stille Straßen, so tröstliche Trauerweiden am Wasser, so verschnörkelte Herrschaftshäuser in lauschigen Gärten, solch geheimnisklares Rauschen zwischen den Dächern gibt es nur hier. Nur hier sind die Zweige der Bäume so kunstvoll miteinander verknüpft, dass sie alle zusammen ein dichtes Netz bilden, durch das Tausende von Lichtern perlen, auf die flachen Wellen, auf die breiten Sträucher, nur hier duften die Blumenbeete und klingen die Vögel wie schon immer und immer weiter. Nur hier, nur hier.
Ich spielte mit dem Gedanken, das schönste Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Koenigssees, keine hundert Meter entfernt von unserem öffentlich zugänglichen Ausguck, als die Stätte meiner Kindheit auszugeben – niemand hätte etwas gemerkt, und alle hätten sich gefreut –, aber dann bekannte ich mich doch zu dem Nachbargrundstück, auf dem seit den Siebzigerjahren der Beton bis an die Böschung reicht.
Nach diesem Sieg des Wahren über das Schöne mussten wir dann auch schleunigst zurück ins Zentrum, damit Aurehls ihre Fähre nach Schweden nicht verpassen würden. Der Wagen stand gepackt, Bo ging noch mal aufs Klo. Giuseppe und ich traten von einem Fuß auf den anderen. „When will you be in Stockholm?“, fragte ich Ingrid. Sie sagte: „Yes“, wir küssten uns alle, Bo setzte sich ans Steuer, studierte ein letztes Mal die Karte und trank einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche; Ingrid begann schon mit Winken, bevor der Wagen sich in Bewegung setzte, dann fuhren sie fort, und Giuseppe und ich waren zu zweit.
Zu zweit ist man ein flexibles Team, das schnell einen freien Tisch erwischt und zuneigungsvoll Ernsthaftigkeiten und Albernheiten austauschen kann. Zu viert ist man eine sehr kleine Reisegruppe, in der irgendwer immer irgendetwas Unvorhergesehenes tut, was für alle gemeinsam die Pläne über den Haufen wirft und im ärgsten Fall schon mal zum Versäumen einer S-Bahn führen kann. Zu zweit ist man wendig genug, bei Rot über die Straße zu gehen, und kommt sich nicht ständig vor wie die wandelnde Stadtrundfahrt. Man ist auch nicht der Fremdenführer, der sich für jede Baustelle und erst recht für jede fertiggestellte Geschmacksentgleisung verantwortlich fühlt, von lauwarmen Spagetti und nasskalten Abenden ganz zu schweigen. Es war schön gewesen mit Bo und Ingrid, jede Stunde war es wert, aber Giuseppe läuft nun mal genauso schnell wie ich, und Bo genauso langsam wie sein Wagen. Beide haben sich ohne Frage von meiner Begeisterung für Grenzsituationen anstecken lassen, aber nur Giuseppe tippte unvermutet mit der Fußspitze auf den Asphalt und sagte: „Hier war die Mauer.“ Ich sah mich überrascht um. Er hatte, meiner Rekonstruktion nach, jedes Mal recht. So was bindet. Wir waren also nicht mehr zwei Paare, sondern zwei Freunde. Zwei Freunde mit einer Wohnung in Berlin. Für wie kurz oder wie lange auch immer. Was macht man da als Erstes? In San Francisco, auf Mykonos oder am Spree-Ufer? – Man geht einkaufen. Nicht ins Lafayette für Ardenner Hinterschinken und Halbsauerrahm-Weidelamm-Frischkäse, sondern in den Supermarkt. Dort ist es hässlich und günstig und vor allem unübersichtlich. Ich kenne den Laden, der am Thälmannplatz läge, wenn es den noch gäbe, noch aus meiner vorigen Berliner Zeit im verflossenen Jahrhundert: 1998.
Giuseppe und ich schleppten nach unseren jeweiligen Kräften. Wenn man erst Butter im Kühlschrank, Brot im Fach, Tee im Regal, Mineralwasser in der Kleiderkammer und Rum und Wein auf dem Bord stehen hat, dann weiß man: Hier bin ich zu Hause. Ob man Ofen, Herd und Geschirrspülmaschine je benutzen wird, ist zweifelhaft, umso sicherer ist, dass man erst mal ins Bett muss.

Aber so am ersten Tag zu zweit reicht eine halbe Stunde. Die Großstadt lockt. Von nun an wird Berlin rücksichts- und gnadenlos erobert. Zunächst begeben wir uns mit weit ausholenden Schritten die Mohrenstraße entlang. Jenseits der Wilhelmstraße sagt Giuseppe gelehrig: „La Comtessa Voss!“ Endlich kann man in Berlin mal auf der Straße Italienisch sprechen und nicht bloß beim Bestellen von Carpaccio. Na ja, ‚Straße‘ … Wir biegen bei Ebert ein in Richtung Brandenburger Tor. Die Sonne scheint, die Menschen nutzen den übergrasten, buckeligen Todesstreifen als Promenade. Rechts ungreifbar fern – die Häuserzeile aus Margots Glanzzeiten, davor die sogenannten Ministergärten, zurzeit versteppt. Links die nachgewachsenen Bäume des Tiergartens. Kinder und Hunde laufen frei herum, Drachen gehörten jetzt in die Luft! Stattdessen aufgedonnerter Ersatz: der quietschbunte riesige Heißluftballon von SAT.1. Die Leute im Korb gucken runter, wir gucken rauf und sehen einander nicht. Von dort oben muss die Aussicht noch niederschmetternder sein als von der Info-Box aus, vor allem bei klarem Wetter, wenn nicht mal der Nebel irgendwas versteckt, das man sich als sehenswert ausmalen könnte.
Wir gehen durchs Brandenburger Tor, hin und wieder zurück, nur um durchgegangen zu sein. Das hat Margot sicher nie getan. Sie wird mir mehr und mehr zum Maßstab. Ich muss sie einfach interviewen. Da wäre Chile eine Reise wert.
Selbst am Samstagnachmittag, oder vielleicht gerade dann, ist die Schlange derer, die in die Reichstagskuppel wollen, entmutigend lang – ein paar Hundert Meter, ist das ein erfreuliches Zeichen fürs politische Bewusstsein oder bloß die preiswerte Variante zum SAT.1-Ballon? Giuseppe legt keinen Wert auf die Kuppel. Gott sei Dank! Zum Anstehen bin ich zu verwöhnt. Obwohl fünf Uhr nachmittags außer in Polen (und Holland?) nicht die Zeit ist, ein umfängliches Essen einzunehmen, habe ich trotzdem bei ‚Dressler‘ bestellt.
Wir sind für unsere Verhältnisse gemächlich die Linden runtergeschlendert und bekommen den Tisch ganz am Ende, neben der Hauswand unter der Markise. Es ist der einzige Platz, an dem es etwas weniger zieht. Das ist mein Berlin! Dass ich nicht mehr am Ku’damm sitze wie früher, zeigt meine große Aufgeschlossenheit für Neues. Der breite Boulevard, Alleebäume, Busse, Wagen; gegenüber, auf der anderen Straßenseite, Cafés, riesige Schaufenster und Flaneure, deren zu nahe Pendants sich auf unserer Straßenseite wie fürchterliche Fußgänger ausnehmen, vor deren garstiger Aufmachung man lieber die Augen verschließt oder mit Blicken in die Speisekarte flüchtet. Die liebenswürdige Bedienung bringt blass-blonden Wein und Stoffservietten. So stelle ich mir Leben vor, egal ob ich nun Giuseppe vor mir habe, meinen Schreibblock oder die letzten Jahre, in denen ich mir noch nicht alt vorkomme.
Ich mag das Rosa der Tischdecken und der Stimmung. Spätnachmittag in ferner Nähe der Großstadt. Ein pulsierendes Drängen ohne Hast. Niemand isst schnell, trinkt schnell, redet schnell. Niemand lacht laut, niemand weint leise. Am Nebentisch raucht ein Mann, so alt wie ich, gelassen seine Zigarre. Der Geruch stört ein wenig, aber auch das wird vorübergehen.
Das Vorübergehende ist das Kennzeichnende dieser Stunden: Die Menschen ‚bummeln‘ die Gehwege rechts und links und den Mittelstreifen Unter den Linden aufwärts, abwärts. Die Sonne neigt sich dem Tor mit der Quadriga zu. Der Tag verliert an Schärfe, die Karaffe an Wein, ich an Nüchternheit.
Trotzdem reicht die Beflügelung meines Redeflusses länger als die meines Appetits. Nach der Vorspeise stürzt mein Magen ab wie ein schrotgetroffener Vogel. Bei Giuseppe geht meine halbe Kalbsleber Berliner Art noch rein, ich gehe rein auf die Toilette. In den vergangenen Jahren sind die Klos in Kneipen immer gemütlicher geworden: weiche Musik, weiches Papier, gerahmte Fotografien. Ich weiß das von Aufenthalt zu Aufenthalt mehr zu schätzen, und immer öfter.
Besinnlicherweise schritten wir die Linden hinab. Ich dachte flüchtig an all die Leutnants, die hier mal paradiert haben, mal spaziert sind – unter anderem mein Großvater – und die an Gott und Vaterland glaubten, an Kaiser oder Führer und sich ihrer Sache so sicher waren, wie kein intelligenter Mensch jemals sein darf. Wehe, wenn der Intellektuelle die ihm gemäße Position des Zweiflers aufgibt, dann kommt es zu Erscheinungen wie Robespierre, Lenin und Goebbels. Auch Frauen neigen, wenn sie die Mutter in sich aufgegeben haben und die Geliebte nicht erwünscht ist, zu geballtem Fanatismus, in KZ und RAF. Die Mitmarschierer, die Mitläufer schwenken die Fahnen und präsentieren das Gewehr, und das Heer der Zeitzeugen jubelt ihnen vom Straßenrand her zu. Fahnenflüchtige aller Länder, vereinigt euch! Aber rechnet nicht mit mir!

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “#2.10 | Abfahrt und Neustart

  1. Vergangenes Wochenende erst war ich zu Besuch in Berlin und bin genauso aus der Stadt gefahren wie Sie. Wie prächtig es doch ist die Hauptstadt an so zahlreichen sehenswerten und erinnerungswürdigen Denkmälern und Prachtstraßen zu verlassen. Ich bin etwas wehmütig, aber freue mich schon auf den nächsten Besuch. Schöne Erzählung übrigens; ich glaub ich sollte besser von Anfang an lesen, als in der Mitte zu starten.

      1. Ich merke gerade erst, dass der Kommentar überhaupt nicht dort gepostet wurde, wo ich dachte. Anfänge sind super. Ich meinte mit meiner Frage den Erststop im Café.

    1. Mittlerweile ist der Rinke-Blog ja tatsächlich zu einer reichen Fundgrube geworden. Die Texte sind so unterschiedlich in ihrer Form und ihrer Art, dass da eigentlich für jeden Geschmack etwas dabei sein müsste. Jedenfalls ‚Willkommen‘ von einem Stammleser.

      1. Ich bedanke mich und fühle mich ermuntert. Dieser Berlin-Bericht wird mit ein paar typischen Abschweifungen bis weit in den Sommer hineinreichen. Ich hoffe, es bleibt interessant für die Mitlesenden.

    1. Ich muss als allererstes immer etwas auspacken. Nicht den ganzen Koffer, aber genug damit sich die Wohnung belebt und nicht mehr leer anfühlt. Danach kommt dann der Einkauf.

      1. Das ist mir auch oft eine schöne Alternative. Wenn der Kaffee dann noch entsprechend gut ist, bleibe ich auch gerne eine ganze Weile alleine dort sitzen.

      2. Lauwarmer Eiskaffee wird möglicherweise noch zum nächsten Trend-Getränk. Espresso mit einem Stück Butter gab es ja auch schon.

      3. Wenn der Sushi-Espresso nicht bald kommt, ist die Japan-Welle vorbei. Ich warte schon auf Chicken Kiev auf deutschen Speisekarten.

  2. Mich fragen immer wieder Freunde ob wir auf der westlichen oder östlichen Seite der Mauer seien. Mindestens 50% der Fälle kann ich es nicht sagen.

    1. An vielen Stellen kann man ja tatsächlich noch sehen, wo die Mauer verlief. Das sollte es einem eigentlich etwas einfacher machen.

  3. Nicht zuletzt diese Aufgeschlossenheit für Neues ist es doch, die einen jung hält. Oder zumindest zeigt sie einem, ob man noch jung ist. Was auch immer dieses jung eigentlich heißen mag.

      1. Na das ist aber doch genau das Geheimnis. Jung heißt ja auch nicht, dass die Interessen ein Leben lang auf dem Stand eines 16-Jährigen bleiben müssen, sondern dass man Dinge findet, die einen weiterhin begeistern.

  4. Den Geschirrspüler benutze ich eigentlich immer. Der ist ja selbst im Airbnb bei nur wenigen Übernachtungen hilfreich, damit beim Check-out alles sauber aussieht.

  5. Untern Linden, untern Linden … diesen Chanson kannte ich noch gar nicht. Marlene war tatsächlich eine einzigartige Künstlerin.

      1. Aus Walter Kollos Operette ‚Wie einst im Mai‘. Marlene Dietrich singt die Berliner Lieder lässig und etwas frivol. Das bekommt diesen Gassenhauern gut.

  6. Mir reicht es ja schon wenn die Klos nicht völlig verdreckt sind. Gemütlichkeit kommt da erst an zweiter Stelle.

      1. Da schließe ich mich an. Besonders schlimm ist immer, wenn vor der Tür Reinigungskräfte sitzen und die Toiletten trotzdem widerlich sind.

      2. Die werden allerdings auch echt mies bezahlt. Aber eine Entschuldigung dafür seine Arbeit nicht zu machen darf das selbstverständlich auch nicht sein.

  7. Unübersichtlichkeit scheint das Hauptziel der meisten Supermärkte zu sein. Auch wenn sie zugegebener Maßen immer schicker werden. Kauft der Kunde deswegen tatsächliche mehr? Mich nervt es meistens nur, wenn es scheinbar keine Logik gibt, wo was zu finden ist.

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