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1908
2. Berlin-Reise / 2000

#2.52 | Kurze Beschreibung eines langen Abends

Hanno und Christine leben fünfzig Schritte von Dorothee entfernt. Man hat also dasselbe Problem: S-Bahn Friedrichstraße bis Savignyplatz oder U-Bahn bis Wittenbergplatz und dann laufen oder auf Bus hoffen. Ein geringes Problem: Entweder man kann laufen oder man muss sowieso ein Taxi nehmen. Ich war überwältigt von ihrer Wohnung. Riesige Räume, perfekt eingerichtet: große, spannungsreiche Flächen, wenige, gezielt eingesetzte Möbel. Balkone mit Blick in Innenhöfe, an die pittoreske Häuser grenzen. Die verschwenderische Menge von Quadratmetern und die edle Kargheit der Ausstattung waren für mich ganz unerwartet. Ich wurde schwach, ich nahm den Champagner.

Wir gingen in ein französisches Lokal jenseits des Olivaer Platzes. Ich war noch einmal überrascht: Christine ist fünf Jahre älter als Hanno. Als es noch Damen gab, hätte man sie ‚burschikos‘ genannt, das Wort ‚hübsch‘ trifft nicht richtig, sie sieht gut aus. Große Lebendigkeit und größere Ungezwungenheit als Männer das zustande bringen. Nicht, dass mein Vetter auch nur ansatzweise verklemmt wäre, aber so ein Hauch rinkescher Sprödigkeit umweht ihn doch. Sein Großvater war reich und lebenslustig. Dessen Bruder, mein Großvater, war arm und gottesfürchtig. In der vorigen Generation waren diese Unterschiede noch zu spüren, jetzt nicht mehr. Hannos Vater hat sein Auskommen und ist lebenslustig. Mein Vater ist reich und lebensverdrossen. Die Gemeinsamkeiten zwischen meinem Vetter und mir mögen rar sein, aber er ist aufgeschlossen und ich habe meine Neugier wieder ausgebuddelt – das reicht für einen Abend, und vielleicht für mehr.
Zum karibischen Ausklang des Abends gingen wir ins ‚Oba‘. Ich trank was mit Ananas und log mir vor, dass kein Bacardi dran sei. Ich war ohne Fehl am Platze: Menschen über dreißig unterhielten sich angeregt in exotisierter Atmosphäre. Die Musik: etwas zu laut. Die Beleuchtung: etwas zu dunkel. Schnelle Jungs mit Drinks, schnelle Stimmen mit Überzeugung. Frauen mit viel Haar und wenig Lippenstift. Männer mit Sakko ohne Schlips. Einige waren wohl doch unter dreißig. Aber wie viele über fünfzig?
Eine Großstadt-Ballung. Hier könnte ich auch mit Esther und Walter stehen oder mit Susi und Maxim. Schauplatz und Menschen sind ein bisschen austauschbar, aber das stört nicht. Das Unverwechselbare muss man selber schaffen, falls es einem wichtig ist. Bei Lutter & Wegner isst man sein Schnitzel wie alle; bei Regen stellt man sich unter, bei Sonne unterstellt man Stau in Richtung Wannsee; bei günstigem Kurs investiert man, und bei Katastrophen versucht man, die Fassung zu bewahren, von der man nicht ganz sicher ist, ob man sie je hatte. Ich lud Hanno und Christine für Montag ein. Sie würden gut zu Volker passen. Leichthin winkten sie mir nach, dann überquerten sie den Kurfürstendamm, während ich ihn entlangfuhr, meinem menschenleeren Zentrum entgegen.

Titelbild mit Material von joyfull/Shutterstock

17 Kommentare zu “#2.52 | Kurze Beschreibung eines langen Abends

      1. Oh ja, das kann in der falschen Kombination auch schwer nach hinten losgehen. Dann hat z.B. man eine überladene Einzimmerwohnung. Aber die Wohnung aus dem Text klingt tatsächlich toll. Ich finde es immer interessant zu sehen, wie neue Freunde wohnen.

  1. Ist der Wannsee nicht immer so voll? Jetzt im Sommer wenn es in der Stadt zu heiß wird, fährt doch bestimmt halb Berlin nach darußen.

      1. Da sind wirklich so viele Seen und Wälder rund um Berlin … Man muss es sich nur aussuchen. Das ist einer der Gründe warum ich Berlin so mag. Man hat zwar die Großstadt, aber ist auch in kürzester Zeit in der Natur.

  2. Manchmal bleibt so eine Beschreibung kurz und knapp, weil es einfach nicht viel zu sagen gibt, manchmal bleibt sie es aber auch, weil man das Erlebte gar nicht richtig in Worte fassen kann. Das zweite, das sind tolle Abende.

    1. Im anderen Extrem gibt es auch Leute, die sind wiederum so unbegabt (hinsichtlich ihrer Sprach, aber auch im Erspüren des Interesses ihrer Zuhörer), dass einfach geredet wird. Ob es etwas zu erzählen gibt oder nicht.

  3. Dass in der Großstadt-Ballung die Menschen zumindest teilweise austauschbar erscheinen bleibt ja gar nicht aus. Umso spannender ist es dann ja, wenn man von Orten überrascht wird, wo doch auf einmal alles einzigartig erscheint.

      1. Ja das stimmt bestimmt. Man unterschätzt sicher oft wie sehr das eigenen Befinden in seine Empfindungen der Außenwelt hineinspielt.

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