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2. Berlin-Reise / 2000

#2.09 | Begleiter beschummeln

Nun, nach der Zäsur durch das Bett, sollte sich der alte Westen gegen den neuen Osten behaupten, und da Gediegenheit weder hier noch dort anzutreffen ist: Wo könnte der Westen besser zur Geltung kommen als in seinem Kaufhaus! Wertheim an der Leipziger Straße war damals baulich zukunftsweisender, dafür gibt es im KaDeWe Känguru-Salami und diverse Avocado-Sorten. Ernsthaftigkeit, wem Ernsthaftigkeit gebührt! Dasselbe gilt fürs Lächerliche.
Für Giuseppe war die größte Lebensmittel-Etage der Welt neu, für Bo und Ingrid nicht. Giuseppe wollte gucken, ich wollte zeigen, Bo fragte: „Vielleicht könnte man etwas essen?“, und Ingrid sagte: „Yes“.

Ich kenne mich inzwischen so gut aus, dass ich die Gänge dieser kulinarischen Kultstätte in Achter-Bögen durchmessen kann. Auf solche Weise gelingt es mir, alle zehn Minuten an denselben Stellen vorbeizukommen, ohne dass meine Begleiter etwas merken. Sie glauben, wir gingen immer noch weiter; dann müssten wir allerdings inzwischen am Savignyplatz sein. Natürlich droht mein raffiniertes Gespinst dauernd an Bos und Ingrids nicht eingeplantem Stehenbleiben zu zerreißen. Man muss warten, womöglich umkehren; meine ständige Angst, das Labyrinth könne durchschaubar werden. Eine mindestens so große Gefahr besteht darin, dass man sich bei solch verschlepptem Durchlauf die Vitrinen zu genau betrachtet und überlegt, wozu man den ganzen Quatsch eigentlich braucht.
An zehn Meter Käse muss man rasch vorbei, sonst kommt einem der Überfluss überflüssig vor. Dagegen hilft allenfalls ein bisschen gelebter Luxus. Zum Beispiel Austern und Chablis bestellen wie diese angezogenen Leute rechts und links von uns an der Theke. Was machen Lackaffen tagsüber? Halten die Maulaffen feil? Stehen die hier täglich und schlagen die Zeit tot? Also, wir nicht. Wir sind nur heute hier. Einmal ist kein Mal, also Ereignis. Für Giuseppe, für Bo, für Ingrid. Und für mich. Nicht im Separée bei Kerzenschein und Tafelsilber sitzen, sondern auf hohem Schemel mitten im Trubel – das ist zeitgemäß. Die Austern waren trotzdem gut, der Wein sowieso. Gehobenes Großstadtgefühl. Dazu gibt es nicht viel zu sagen, sondern Baguette und Papierservietten. Den Rest besorgt die Kreditkarte.

Bo und Ingrid bleiben sogar noch auf der Rolltreppe stehen, und das fünf Stockwerke lang abwärts. Aber das macht mich nicht nervös, das habe ich längst einkalkuliert. Ich sehe auf die Chopard-Uhr und rechne die verbleibende Zeit bis zum Abendessen-Termin durch: Wenn wir uns beeilen, besteht kein Grund zur Hetze.
Vom KaDeWe (auch wieder so eine Abkürzung! Kassandra Desdemona Weber?) vorbei an der (Kaiser-Wilhelm-)Gedächtnis-Kirche zum ‚Kempinski‘ (Kemma Pina Skirikowa). Nur Einheimische, die vor 1900 geboren sind, wissen, dass mit der Gedächtnis-Kirche Wilhelm Zwos Großvater gemeint ist, der erste Kaiser nach Barbarossa, der von sich Reden machte, wenn auch nur wegen der Reichsgründung. Alle Nachgeborenen ohne fundiertes Fachwissen glauben, die Ruine soll irgendeinen Weltkrieg unvergessen machen, womöglich gleich den, mit dem Wilhelms Enkel das neue Reich rasch wieder ziemlich grundlos in den Abgrund stürzte.
Von mir aus kann die ganze Strecke von der Weber bis zur Skirikowa für archäologische Untersuchungen, die dem preußischen Selbstverständnis dienen, wieder umgebuddelt werden. Europa Center, Breitscheidplatz, Kranzler-Eck – alles weg! Aber was dann? Als erste Adresse für Städtebau empfehle ich mich nicht, und anderen kann man das erst recht nicht überlassen: Eine zweite aus dem Boden gestampfte Friedrichstraße wäre auch im Westen nichts Neues.

Auf einem minutiös gezeichneten Stadtplan aus den Fünfzigerjahren habe ich gesehen, dass vom Wittenbergplatz bis zur Joachimsthaler Straße fast alles leer war, zumindest auf der rechten Seite. Vertane Chancen. Und nicht mal Margots Schuld. Während der Sechzigerjahre war schlechter Stil im Bauwesen international. Bevor wir ins ‚Kempinski‘ traten, machten wir noch einen Schlenker auf die andere Seite der Fasanenstraße, vom Ku’damm aus. Das eleganteste Stück Berlin. In den Sechzigerjahren bestand tatsächlich die Planung, alle Häuser zugunsten einer autogerechten Zufahrt zur Lietzenburger Straße abzureißen. – So dachte man damals. Heute steht der Kiosk mit Telefonhäuschen an der Ecke Joachimsthaler Straße als Merkwürdigkeit der Sechziger unter Denkmalschutz. – So denkt man heute.
Alles andere hat sich verändert, auch die Halle des ‚Kempinski‘ ist moderner, also anonymer geworden. Immerhin waren die Sofas komfortabler als die Sitzgelegenheiten an der Austern-Bar. Meine lauferprobten Freunde wussten es zu schätzen und tranken bereitwillig mit mir Champagner auf das himmlische Wohl der Hildegard Heyse1, die man vierzig Jahre lang häufiger hier als in ihrem ‚Deutsche Grammophon‘-Büro schräg gegenüber hatte antreffen können. Selbst Bo hatte sich zu diesem Anlass einen Schlips umgebunden, und Ingrid trug Hosen bis zum Knöchel. – Wen man nicht kennt, auf den lässt es sich trefflich trinken, gerade auch nach längerem Fußmarsch. Kein Kellner und kein Taxifahrer zwischen Salzburg und Charlottenburg hätte mit mir auf Hildegard angestoßen, fürchte ich. Ich, allein mit mir, schon.

Wir verließen Berlins ehemaliges Renommierhotel durch den Hinterausgang und erreichten über die ehemaligen Parkplätze, die jetzt einem Boutiquen-Gewirr Raum geben, die Uhlandstraße. Die Boutiquen sind unnütz und harmlos hübsch. Der große Parkplatz war hässlich und praktisch. Die ‚Paris Bar‘ gleich um die Ecke. Die ist so typisches Berlin wie der Pariser Platz. Hier wie dort befindet sich in unterschiedlichem Sinne die Botschaft von ‚Frankreich‘; seit Napoleon durchs Brandenburger Tor marschierte, ‚der Erbfeind‘. Die ‚Paris Bar‘ ist studentisch, bürgerlich und intellektuell. Sie ist zeitlos und so laut wie die Anzahl ihrer Gäste, also ohrenbetäubend ab acht Uhr abends. Wir erschienen pünktlich um halb neun.
Wem habe ich hier nicht schon gegenübergesessen! Von Argerich2 bis Zimerman2. Freunde, Partner, Eltern. Flüchtige Bekanntschaft und heiße Liebe. Langweiler und Kurzweiler. Mit wem habe ich hier nicht schon gegessen! – Mit allen. Mit jedem an jedem Tisch. Meistens waren die Kellner nett und die Speisen mäßig. Richtig gut waren sie eigentlich nie. Die Gruppe vor uns hat nicht reserviert. Höchst naiv! Natürlich wird sie hinauskomplimentiert. Wir bekommen unseren Tisch zugewiesen. ‚Paris Bar‘, Mitte. Nicht mein Geschmack. Ich lächle entzückt, meiner Gäste wegen. Eng. Neue Bilder, schade. Dunkles Holz, weiße Tücher wie immer, gut. Aus Geckenhaftigkeit bestelle ich den Wein auf Französisch. Kommt schnell. Wenn ich die Speisekarte sehe, muss ich zur Karaffe greifen. Meine Hand umklammert das Glas. Die Kehle giert, die Seele lauert. So geht es nicht weiter! Aber anders auch nicht. Was soll man machen, wenn man alle Straßen und alle Plätze und die städtischen Anlagen tagsüber abgegrast hat? Wiederkäuen und essen gehen, was sonst! Reden – worüber? Denken – ach, Gott!
Wenn der Zwang zu essen wegfällt, wird auch der Zwang zu trinken nachlassen. Bestimmt. Jemand auf Palis Geburtstagsfeier hat Giuseppe einen deutschen Trinkspruch beigebracht. Aus Giuseppes Mund klingt er wie ‚Salute, cari amici‘: „Hau weg den Scheiß!“ Bo grinst breit, ohne zu verstehen. Ingrid hebt wortlos ihr Glas, ich setze meins an. Aus Gleichgültigkeit wird allmählich Erinnerungsschmerz.
Aber allmählich wird auch aus Schmerz Lebenslust. Mein Magen dehnt sich bis in die Fingerspitzen. Endlich, ich kann lachen und kurz darauf Brocken schlucken. Den Speiserest übernimmt Giuseppe. Dafür gießt er mir nachher wie immer den letzten Schluck ins Glas. Ich trinke aus. Eigentlich hätte ich Dorothee mit einladen können. Sie wohnt doch gleich um die Ecke. Ach nein, heute hat sie ja Gäste. Oder ist sie eingeladen? Irgendwas war jedenfalls. Irgendwas ist doch immer.
Meine Begleiter freuen sich, erleichtert, dass ich für den Rückweg ein Taxi vorschlage. Zurück in den Osten. Eine letzte Sensation am ausgelöschten Kontrollpunkt, im betäubten Magen – dann wird aus Lebenslust wieder Gleichgültigkeit.

Who is who (Akkordeon)

1 – Hildegard Heyse

[ˈhɪldəgaʁd] [ˈhaɪ̯zə]

Hildegard Heyse war die Repräsentantin der ‚Deutschen Grammophon‘ in Berlin gewesen. Sie fürchtete sich vor niemandem und behandelte gefeierte Dirigenten und gefeuerte Aushilfskellner gleich schlecht. Ansonsten war sie allerdings nicht besonders sozial eingestellt, stattdessen gut befreundet mit mir und streng verfeindet mit Dorothee. Beides selbstverständlich.

2 – Martha Argerich | Krystian Zimerman

[Maʁta] [ˈaʁɡɐʁɪç] | [ˈKʁɪsti̯an] [ˈt͡sɪmɐˌman]

... brauche ich nicht zu erklären. Kann man googeln.

Hanno Rinke Rundbrief

37 Kommentare zu “#2.09 | Begleiter beschummeln

  1. Hat das KaDeWe wirklich die größte Lebensmitteletage? Ich war vor Jahren einmal dort und es schien mir gar nicht so riesig zu sein.

    1. Es gibt vieles, dass man nicht unbedingt braucht, aber auch eine große Reihe an Dingen, die man trotzdem gerne mitnimmt.

      1. Tokyo würde mich ja mal reizen. Was ich von Freunden gehört habe, klingt immer total gut. Aber bis man dort wieder unbesorgt einreisen kann wird es sicher noch eine Weile dauern.

      2. Ich war in den 90ern einmal dort. Ich fand es vor allem wahnsinnig groß … aber natürlich schon auch beeindruckend. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass man sich so einer Riesenstadt deutlich besser zurecht finden würde, wenn man ein paar Tipps aus erster Hand bekommt. Das ging mir leider ab.

      1. Finde ich auch. Harmlos wird niemanden zum Jubeln bringen, aber manchmal ist ein kleineres Übel trotzdem etwas, über das man sich freuen kann. Solange man nicht mit der Erwartung auf etwas Außerordentliches kommt, ist man auch nicht enttäuscht.

  2. Wird aus dieser Lebenslust denn sofort wieder Gleichgültigkeit – oder schiebt sich da nicht oft erstmal die Gemütlichkeit dazwischen?

  3. Auf das Treffen mit Frau Argerich bin ich ja ein wenig neidisch. Sie scheint mir immer eine sehr spannende Person zu sein.

    1. Spannend, aber anscheinend auch nicht ganz einfach. Wie war denn Ihre Erfahrung, Herr Rinke? Man ist ja doch gespannt auf das Nähkästchen.

    2. Frau Hildegard Heyse klingt aber auch sympathisch und interessant. Immer wieder interessant wer in Ihren Berichten so alles auftaucht.

  4. Oh Gott, wenn Europa Center, Breitscheidplatz und Kranzler-Eck weichen müssten, dann kämen da noch mehr charakterlose Neubauten hin. Nichts gegen Neubauten generell, aber was da meistens geplant und gebaut wird, ist ja doch sehr nüchtern und ernüchternd.

      1. Neulich las ich, dass er seine Soldaten gar nicht instruiert. Sondern, dass ein Teil der Armee gar nicht zu wissen scheint, warum man da eigentlich kämpft bzw. dass eine Gruppe Soldaten glaubte, sie seien in einer militärischen Übung. Ist so etwas wirklich möglich?

      2. Dummheit (Blindheit) scheint mir auch deutlich gefährlicher werden zu können als Intelligenz.

  5. Die zehn Meter Käse im KaDeWe sind meine liebste Ecke 😅 Das erinnert mich tatsächlich an die vielen französischen Markthallen. Da kommen mir z.B. die verschiedenen Schokoladen- oder Pralinenhersteller, die ja letztendlich ziemlich dieselben Produkte anbieten, überflüssiger vor.

    1. Die scheint auf alle Fälle unterhaltsam zu sein. Wer die Wiederholungsschleifen wirklich nicht merkt, dem ist bestimmt auch nicht langweilig.

      1. Vor allem ja auch auf die teilweise endlosen Netflix-Serien, die bei Erfolg bis Staffel 24 fortgesetzt werden.

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