Das Telefon klingelte. In meinem ganzen Leben habe ich Dorothee noch nie so kreischen gehört. Unter den Linden war es nicht trockener gewesen als in Neukölln, nur waren Dorothee, Mirella und ihr Mann ohne Schirm aufgebrochen. Zwanzig Minuten hätten sie an der Zeughaus-Schlossbrücke gestanden (überdacht, nehme ich an, nicht in der Spree). Dann sei der Kavalier zu einer Telefonzelle gerannt, und danach hätten sie noch eine Viertelstunde auf ein Taxi warten müssen. Sie hätte gar nicht gewusst, was sie hätte machen sollen.
Noch nie in ihrem Leben sei Dorothee so hilflos gewesen. Nachdem sie keuchend hervorgepresst hatte, dass der Innenhof ihres Hauses ein See sei, den sie mit Plastiktüten an den Füßen durchwatet habe, brach das Gespräch ab. Ich wählte Dorothees Nummer.
„Ich kann nicht mehr telefonieren“, sagte sie, ihre Stimme hatte sich abgenutzt, „bestellst du mir ein Taxi? Zu Viertel nach sieben?“
„Nimm ein Bad!“, schlug ich vor, obwohl ich wusste, wie nass sie war.
„Nein, dazu bin ich zu nervös. Vielleicht nehm’ ich was.“ Sie ließ offen, welche Droge sie im Sinn hatte. Ich hatte ausgiebig Zeit, darüber nachzudenken, während ich von der Taxi-Zentrale zehn Minuten lang gebeten wurde: ‚Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld! Wir sind gleich für Sie da.‘ Das fand ich noch menschlicher als die Telekom, die ich wegen des Internetanschlusses hatte konsultieren wollen und die mich folgendermaßen bediente: ‚Herzlich willkommen bei der Telekom! Wir freuen uns über Ihren Anruf. Im Augenblick sind alle Plätze belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal! Diese Durchsage ist gebührenfrei.‘
Als ich schon so zurechtgemacht war, wie ich fand, dass man für die Komische Oper aussehen müsste, wollte ich mir zu guter Letzt die Finger säubern. Es war vorgestern noch ein Cracker mit rotem Kaviar übrig geblieben. Ich hatte ihn aus dem Kühlschrank genommen und verzehrt. Zweifellos hatte meine Hand dabei mehr abbekommen als mein Gaumen. Im Waschbecken quollen meine Socken ihrer Reinigung entgegen, so beugte ich mich über die Badewanne, und zum ersten Mal funktionierte die Dusche einwandfrei. Innerhalb einer Sekunde sah ich aus, als käme ich gerade von der Sonnenallee. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Kleidung zu wechseln. Für eine kurze Zeit wirkte ich wahrscheinlich so, als wolle ich in die ernste Oper gehen, aber ich denke, als ich im Foyer ankam – Riesenschirm und trotzdem nass – war ich schon wieder komisch.
‚Die Liebe zu den drei Orangen‘ war zauberhaft. Eine Märchenoper, eigentlich ohne Bühnenbild, aber mit grotesken, überdimensionalen Requisiten, ständig wechselnden Beleuchtungen und fantastischen, effektvollen Kostümen. Fantastisch effektvoll ist auch Prokofjews Musik. Für mich war es von besonderem Reiz, dass ich 1984 die Suite produziert hatte und damals den düsteren Abschnitt in schnellen Schnitten zu horrenden Bildern in meinem Jahresfilm zur Geltung brachte. Es war fremd und fesselnd, nun zu diesen martialischen Klängen nicht mehr wie bei mir die Berliner Mauer, die Golanhöhen, finstere Gänge, offene Gräber zu sehen, sondern den ursprünglichen Zusammenhang: ein Kartenspiel zwischen Gut und Böse, bei dem das Böse siegt.
Die Grenze zwischen Ost und West hatte haargenau in mein holzschnitthaftes Weltbild gepasst. Das finstere Schattenreich und der selbst nachts noch helle Gegenentwurf: düsterer Marx-Engels-Platz, erleuchteter Ku’damm. Ideologischer: heilshungriger Marx-Engels-Platz, konsumsatter Ku’damm. Merkwürdig nur, dass nicht das Paradies streng bewacht wurde, vom Engel mit dem Flammenschwert, sondern die Hölle, von Grenzsoldaten mit der Schusswaffe. Die Wirklichkeit war weniger romantisch, gewiss. Nie hält die Wirklichkeit der Fantasie stand, und doch bleibt die Wirklichkeit am Ende die Siegerin. Oder nicht? Unentschieden?
Die Oper geht gut aus, aber mehr aus Versehen. Die Handlung ist ein Nichts, wenn auch ein sozialistisches: Der König ist hilflos, der Prinz dümmlich, seine Braut kurz vor Schluss bereits tot dank böser Hexe – macht aber nichts. Das Chorvolk besteht per Diktatur der Untertanen auf Happy End, und das heißt in diesem Fall nicht: Kopf ab, sondern Hochzeit. In der Staatsoper hätte die Sache brenzliger werden können, aber hier, in der Komischen Oper, soll man sich nicht grämen, sondern amüsieren.
Zu ‚Dressler‘ brauchten wir nur um zwei Ecken zu gehen. Der Rest des Publikums hatte es auch nicht weiter. Großer Andrang, aber wir stolzierten wie in der alten Arche-Noah-Werbung für Telefonreservierung an allen vorbei an unseren Filet-Tisch.
Ich würgte an einem Tatar und spülte den Rindermatsch mit einem Bier runter. Mirella und ihr Mann aßen recht interessant dekorierte, gedünstete Lebensmittel und tranken deutschen Wein dazu. Wir redeten alle etwa gleich viel, was ich sehr ausgewogen fand. Die Menschen, die jenseits der dunklen Glasscheibe die Linden entlangliefen, klappten die Schirme zu, blieben aber eilig. Dem Leben davon … dem Leben entgegen … – Um elf Uhr waren die mehr oder weniger leer gegessenen Teller abgetragen, und ich schielte mehr nach der Uhr und weniger nach der Abrechnung.
Auf der Friedrichstraße musste ich meinen ohnehin nicht gemächlichen Schritt noch beflügeln, um rechtzeitig vor dem nächsten Guss mit Müh und Not den Hof erreichen und für ‚Väter und Söhne‘ meine Fernbedienung betätigen zu können. Ich war abgehetzt, aber ich mag die Raserei ja. Die beiden Lampen spiegelten sich im schwarzen Fenster. ‚Ach, meine Sonnen seid ihr nicht‘, singt der Wanderer in der ‚Winterreise‘. Es forderte gegen die Scheibe. Rauschhaftes Trommeln, Samstagnacht. Ach nein, mein Regen bist du nicht, kein einziger Tropfen. Was habe ich nicht alles getan, um ein bisschen Lust, ein bisschen Rausch, ein bisschen Unendlichkeit zu erzwingen! Es ist mir gelungen, manchmal. War der Preis zu hoch? Das Äußerste ist nicht genug. Das Alleräußerste ist noch zu wenig. Auf der Schwelle war ich immer betreten. Und nie bin ich weitergegangen. Was ich jetzt tue, tue ich, weil selbst der Tod mir noch zu wenig war. Das Lodern. Ratlos starre ich in meinen Vater und versuche zu begreifen, wieso er nicht lodern kann. Ich weiß, viele Menschen sind Asche – aber er … Wieso lodert er nicht? Ausgebrannt? Wann wurde er angezündet? Wenn einem schon Bücherverbrennungen egal waren, bleibt einem dann später nur noch die Sorge um die richtige Temperatur im eigenen Zimmer? Dass ihm in seinem Alter jedwede Verrichtung seines Leibes wichtiger sein soll als das Heil oder Unheil des Lebens oder des Sterbens – ich will es nicht glauben. Ich glaube an die Kraft des Umdenkens und des Denkens. Die Kraft des Denkens braucht keine Beine, sie hat Flügel.
Die Selbstverständlichkeit, mit der wir einander hingenommen haben – wie selbstverständlich war sie eigentlich? Aus dir habe ich mein Berlin-Gefühl geschöpft – und du hast es gar nicht mehr. Erst hast du das Geld verdient und mich mit Irene in den Ferien nach Wenningstedt geschickt. Dann hast du noch mehr Geld verdient und mich mit Irene nach Hawaii fliegen und ohne sie die Salatsoße anmachen lassen. Ein paarmal waren wir auch zusammen im Urlaub. Von Spiekeroog bist du wegen Durchfall abgereist. Du Glücklicher! In Riccione haben wir vor dem Krankenhaus auf dich gewartet, während deine Mandeln bepinselt wurden und die andern Kinder am Strand spielten. In Kärnten war es zu kalt zum Baden, in Bad Ragaz setzten die heißen Thermalbäder dir zu. In Bad Bertrich hattest du es mit dem Magen, auf Ischia mit dem kleinen Zeh. So durften Irene und ich anschließend noch in Florenz ohne dich ins Museum gehen. Als ‚meine Abteilung Kunst & Wissenschaft‘ bezeichnetest du uns jovial Vierten gegenüber. Du hast dich lieber um das Praktische gekümmert, auch wenn wir ‚der Einkauf‘ waren. Firmenchef warst fraglos du. Unter deiner, ja, war es Obhut?, blieb ich unerwachsen. Meine Angst war immer die vor dem Immateriellen. Denn du hast dafür gesorgt, dass ich vor dem Materiellen keine Furcht zu haben brauchte. Den Defiziten konnte ich entfliehen, du kannst es nicht. Selbst wenn wir jetzt von morgens bis nachts an deinem Bett säßen – wir würden nur zu Zeugen deiner Unerlöstheit werden, dir nicht helfen, uns schaden.
Ich stelle mir vor, dass man in deiner Situation Weissagungen und Utopien im Kopf hat, aber wie komme ich darauf? Der Urinbeutel ist immer noch mehrere Zentimeter näher als die Ewigkeit. Man sucht sich etwas. Klar, ich habe mir auch etwas gesucht. Vielleicht das Verkehrte, aber – solange es hilft …
Du hast etwas aus dir gemacht, bestimmt das für dich Richtige. Wahrscheinlich war ich älter als du, als ich meine Richtung festgelegt habe. Im Gegensatz zu dir habe ich nie aufgehört, mich zu fragen, ob die Richtung stimmt. Vielleicht konnte ich mir diesen Luxus auch eher erlauben, aber dieses Argument ist doch fadenscheinig. Du hast mehr erreicht als ich: viel Geld beruflich und privat eine Kleinstfamilie, die immer für dich da ist. Glücklich habe ich dich nie erlebt. Höchstens in Erinnerung an eine verklärte Vergangenheit. Eine unserer vielen Gemeinsamkeiten. Aber dein Jetzt war immer gestörter als meines. Schuld daran war eben mal dein Magen, mal waren es die Mandeln, die Vorgesetzten oder die Mitarbeiter, die Müllabfuhr oder ich. Ich war zu wenig an Sport, Mädchen und Geldverdienen interessiert. Du hast mir geholfen, wie du konntest. Eine obskure Plattenfirma namens ‚Travietta‘ und ein verwirrter Musikologe namens Fritsch bürgen dafür. Für beide hast du gezahlt. Ich habe keinen Grund zur Klage, sondern nur Grund zur Dankbarkeit. Hättest du die Flamme, die mich zerbrutzelt, dann würde dir auf deine alten Tage vielleicht noch ein Lichtlein leuchten. Väter und Söhne. Und danach die Telefon-Sex-Werbung per TV. Disziplin bringt es nicht, Ekstase bringt es auch nicht. Ruf mich an: null–null–null. Null–null, null–null.
Lieber träumen. Träumen, dass die Fantasie die Wirklichkeit wäre. Ich bin nun mal, auch im Traum, unbeirrbar der Wanderer mit dem Hinkefuß: zwischen den Welten, zwischen Zeit und Ort, zwischen allen Stühlen. Kreuzberg – KaDeWe; Preußen – Postmoderne; Treptow – Neukölln. Sonnenallee und Mondpfad. Der Wanderer. Alles berühre ich und bin berührt: vorüber-gehend.
Titelbild mit Material von Monika Rittershaus/Komische Oper Berlin
„Für eine kurze Zeit wirkte ich wahrscheinlich so, als wolle ich in die ernste Oper gehen, aber ich denke, als ich im Foyer ankam – Riesenschirm und trotzdem nass – war ich schon wieder komisch.“ 😂
Wunderbar!
Viel netter zu erzählen als zu erleben.
Das glaube ich. Vor allem will man anschließend ja nicht 2,5 Stunden durchnässt im Zuschauerraum sitzen.
Im Zweifelsfall amüsiert es zumindest die anderen Gäste. Wenn sie nicht selbst nass geworden sind. Dann schauen sie nur wissend rüber und teilen das Leid bzw. den Ärger.
Haha, ein ausgewogenes Gespräch ist sehr löblich. Ob das aber immer auch die interessanteste Version ist? Es liegt wahrscheinlich sehr an den anwesenden Gesprächspartnern.
In der Wortwahl liegt ja bereits der Kommentar.
Ich mag es auch überhaupt nicht vom Regen überrascht zu werden. Da kann ich Dorothee schon verstehen. Ja klar, es gibt kein schlechte Wetter, etc… Aber man ärgert sich doch trotzdem immer.
Vom Regen überrascht wird man in diesem Sommer ja selten.
Die Kraft des Denkens ist ja so unglaublich wertvoll. Ohne sie können wir ja nichts begreifen und auch nichts Neues erleben. Weil man ja gar keine Vorstellung davon hätte was alles sein könnte. Dass einem das irgendwann mal abhanden kommen könnte, beunruhigt.
„Wer nicht denken will, fliegt raus.“
An Beuys sollte man sich viel öfters orientieren.
Wer dement wird, fliegt auch raus.
Wie denkt man eigentlich wenn man dement wird? Das klingt vielleicht blöd, ist aber gar nicht so gemeint. Man vergisst natürlich vieles, aber kann das Gehirn weiterhin relativ ’normal‘ denken?
Gestern sah ich „The Father“. Anthony Hopkins spielt einen Mann, bei dem Realität und Zuordung im Hirn durcheinander geraten. Es ist wohl sehr verstörend.
Oh, den Film wollte ich unbedingt sehen, als Hopkins den Oscar bekam. Mittlerweile war mir das völlig entfallen. Ich bedanke mich für die Erinnerung.
Wieder so ein Satz, der einen nachdenklich macht: Die Selbstverständlichkeit, mit der wir einander hingenommen haben…
Über Dinge nachzudenken, an denen man nichts ändern kann, macht selten glücklich.
Ja, da haben sie wohl Recht. Da hilft nur Akzeptanz und Toleranz. Verlorene Kämpfe braucht man nicht zu kämpfen.
Man weiss ja gar nicht immer, wann so ein Kampf verloren ist und wann man noch etwas gewinnen oder verändern kann.
Hoffung belebt natürlich mehr als Einsicht.
Diese Warteschleifen können unerträglich sein. Ich frage mich immer, wer diese Musik aussucht. Meistens macht sie einen in Kombination mit der Wartezeit nur aggressiv.
Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass man sich da wahnsinnig viele Gedanken macht.
Ich denke, man bemüht sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner mit dem Ergebnis, dass es dann keinem mehr gefällt.