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2. Berlin-Reise / 2000

#2.04 | Mitte

Von der Straße auf die Autobahn.
Es ist mir unmöglich, das Wetter nicht auf meinen Gemütszustand zu beziehen, aber wenn ich Italienisch spreche, muss ich mich konzentrieren. Das lenkt ab. Bo im Wagen hinter uns fährt sehr viel bedächtiger als Giuseppe. Von Zeit zu Zeit sieht Giuseppe in den Rückspiegel, schüttelt den Kopf und stößt ein paar Worte hervor. Da kommt dann der Neapolitaner in ihm hoch. Wirklich bedrohlich wird Bos Fahrverhalten erst in Berlin. Ständig drängt jemand in die Lücke zwischen Bo und Giuseppe, auch rechtzeitiges Blinken veranlasst Bo nicht ohne Weiteres zum Spurwechsel; hinter mehreren Ampeln warten wir im Halteverbot: bangend, was etwas von dem Dauerregen ablenkt, für den ich mich auf Giuseppes erster Berlin-Reise schuldig fühle und schäme. Mehr noch grämt mich, dass ich Bo nicht den Namen unseres Apartmenthauses genannt habe: Wenn wir ihn verlieren, muss er gleich nach Stockholm weiterfahren. Charlottenburg, Siegessäule, Brandenburger Tor: Es ist nicht so, dass ich beim Anblick der Insignien meiner Geburtsstadt nichts fühle – ich fühle ein Loch.
Friedrichstraße, Mohrenstraße: da! Bo hat es auch geschafft. Ich kenne mich ja schon aus mit der Schlüsselkarte für die Garage und der für die Haustür und die Zimmertür. Bo und Ingrid sind zufrieden mit ihrer Suite, Giuseppe findet unsere auch schön. Ich bin wütend, dass ich mich nicht freue, und überlege, ob ich anstandshalber das Feldbett nehmen soll, das zu Füßen der schönen breiten Schlafstätte aufgeschlagen ist. Mein Zögern nutzt Giuseppe, seinen Schlafanzug auf die Zusatzliege zu breiten – ich lasse ihn gewähren.
Giuseppe hängt seine Sakkos akkurat im begehbaren Kleiderschrank auf, ich stapele mein Zeug in die Regale des Schlafzimmers. Die Flasche gerät mir zwischen die Finger, mehr hastig als heimlich nehme ich einen Hieb. Etwas besser geht es mir danach, sodass ich die Kraft finde, meine drei Reisegefährten auf den Gendarmenmarkt zu führen. Dafür müssen wir bloß die Friedrichstraße überqueren. Es hat aufgehört zu regnen. Sicher war es überflüssig, dass ich den Schirm mitgenommen habe. Von nun an wird das Wetter schön. Auf dem Platz herrscht reges Treiben. Die Open-Air-Veranstaltungen, von Schultheiß gesponsert, sind zu Ende, die Gerüste werden abgebaut; andere Arbeiter schaffen die Gerüste heran für die von Opel und Feldschlösschen unterstützten Events. Wir haben Glück; Bo und Ingrid waren ja schon mal hier, aber ich kann Giuseppe für einen Augenblick, in dem Schultheiß gerade schon weg und Feldschlösschen noch nicht ganz da ist, das herrliche schinkelsche Ensemble zeigen: Deutscher Dom, Schauspielhaus, Französischer Dom. Wir genießen den Anblick, bis Feldschlösschen seine sicher teuer bezahlten Tribünen vor uns aufbaut, davon hat die Senatskasse mehr als von unserer Andacht.

Wir umrunden den Platz, ich nutze die Gelegenheit, bei ‚Lutter & Wegner‘ einen Tisch für den Abend zu bestellen; es gibt nichts Schlimmeres, als irgendetwas dem Zufall zu überlassen, und so zeige ich auch gleich auf den Tisch, den ich haben möchte, und konzipiere die Sitzordnung, was bei vier Personen selbst in meinem desolaten Zustand keine große Anstrengung darstellt. Nun kommt Bos Satz, auf den ich schon gewartet habe, seit wir aus der Haustür getreten sind: „Vielleicht könne man eine Kleinigkeit essen“ … „oder etwas trinken“, fügt er immer hinzu, weil er denkt, dass, wenn ich schon ungern vor Dunkelwerden esse, gegen ein Getränk doch nichts einzuwenden sei. Diese Vermutung ist insofern richtig, als dass ich zwar Durst entweder nicht habe oder beizubehalten liebe, aber einem Glas Wein niemals abgeneigt bin. So geleite ich meine Gäste zum Lafayette, wo als Hinauszögerung des leiblichen Wohles der Innenhof zu bestaunen ist: Er ist umglast und läuft tief unten spitz zu – ein sehr unangenehmer Anblick. Ich habe diese Berliner Sehenswürdigkeit noch niemandem gezeigt, der mich nicht gefragt hätte: „Wie machen die das sauber?“ Viel interessanter finde ich die Frage: Wo kommt der Abfall her, der dort jedes Mal liegt, wenn ich da heruntergucke? – Irgendeine dieser unzähligen Glasscheiben muss sich öffnen lassen, aber welche?

Wir fuhren mit dem gläsernen Fahrstuhl in die Lebensmitteletage hinab, die neben all den französischen Spezialitäten – dem Trend folgend – auch eine Sushi-Bar beherbergt. Dort schlug ich vor, ein paar Fischhäppchen zu nehmen. Während mir alle Angebote der umliegenden Stände einen Schauder verursachten, hatte die Hotel-Rum-Ration auf meinen Magen bereits so weit eingewirkt, dass ein bisschen Thunfisch und ein bisschen Lachs durchaus in Betracht kamen. Wir zwängten uns auf die Hocker, tranken, bis auf Bo, der lieber Cola zu japanischen Spezialitäten nimmt, Sancerre, mein Magen war ganz begeistert. Die Sitze waren hart, Stehen war bequemer, es war lärmig, aber reden wollten wir ja sowieso nicht, das Licht war gnadenlos, aber ich hatte meiner schnapsroten Nase schon mit Beige und meinem bleichen Gesicht schon mit ägyptischer Erde aufgeholfen – es war eben so richtig urban. Über uns fuhren die Menschen mit der Rolltreppe rauf, unter uns fiel der Reis zwischen den Stäbchen runter.
Nach diesem erlebnisreichen Ausflug waren zu meiner Erleichterung auch Bo, Ingrid und Giuseppe an einer Schlafpause interessiert. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Giuseppes Bett im Wohnzimmer gerichtet wäre, aber ich hatte ja schon oft genug mit ihm den Schlafraum geteilt, schön, dass Bo und Ingrid separat ruhten.
Um 20.30 Uhr saßen wir am bestellten Tisch in der von mir vorgeschlagenen Sitzordnung. Ich log, dass hier E. T. A. Hoffmann vor 180 Jahren immer gesessen hätte. In Wirklichkeit stand das Gasthaus bis zu Ulbrichts Zeiten eine Ecke weiter, aber da ist ja nun mal das ‚Four Seasons‘ hingebaut worden. Da man in Schweden und in Italien E. T. A. Hoffmann sowieso nicht kennt, kam es mir zu kompliziert vor zu erklären, dass hier die Stelle sei, an der E. T. A. Hoffmann nicht gesessen hat. Wir bestellten Wiener Schnitzel, weil die berühmt sind, Giuseppe aß netterweise drei viertel von meinem Schnitzel mit, dafür trank ich dreimal soviel Wein wie er.
Was man vor zwanzig Jahren nach dem Abendessen mit Jobst Eberhardt als Tontechniker und Charly oder Craig als Bernstein-Angehörigen in einer Großstadt machte, entsinne ich mich noch deutlich. Die Lebenslinie verlief zwischen Barraum und Darkroom. Aber was macht man heutzutage nach der Jogurt-Mousse mit Bo und Ingrid? Einen kleinen Verdauungsspaziergang, bevor man Giuseppe mit aufs Zimmer nimmt. Man putzt sich zur Nacht, schlingt sich, weil man die Augenbinde vergessen hat, das einzig mitgeführte Halstuch ums Gesicht, stopft sich Ohropax in die seitlichen Kopflöcher und sagt: ‚Gute Nacht!‘ Dann betet man bis zum Einschlafen, dass der Morgen nie kommen möge.

Hanno Rinke Rundbrief

37 Kommentare zu “#2.04 | Mitte

  1. Hat man im Laufe der Jahre denn herausfinden können wie der Glaskegel im Lafayette gereinigt wird? Seilt sich da eine Reinigungsfirma ab?

  2. Den Morgen fürchte ich nur, wenn die Augenbinde nicht richtig sitzt oder ich mein Ohropax vergessen habe. Dann wird der Morgen meistens eher grummelig.

  3. Spaziergänge nach dem Essen bieten sich ja wirklich an. Ein Besuch im Darkroom gelingt ja eher besser wenn die Verdauung bereits abgeschlossen ist.

  4. Sie mögen es wirklich wenn sie Durst verspüren? Bei Hunger (oder zumindest Appetit) würde ich mich anschließen. Durst kann ich aber nicht so gut ertragen. Das drängt mich immer…

      1. Hierzulande schon. Die wenigsten müssen hier ja wirklich gegen das Verhungern oder Verdursten kämpfen. Wer hier mit seinem Appetit oder der Lust auf ein Glas Wein hadert, der spielt. Das Wort passt schon ganz gut.

      2. Meine Definition von ‚Glück‘ war immer: auf einer warmen Terrasse, ein mit kühlem Wein gefülltes Glas vor Augen: das Versprechen, nicht die Erfüllung.

      3. Das klingt gar nicht so schlecht. Wenn dann noch die richtige Person, oder ein paar Freunde dabei sind…

    1. Über solche Abende und die damit verbundenen Vorgänge gab es in der Beelzebub- und in der Eremiten-Geschichte neulich doch schon sehr Ausführliches zu lesen.

      1. Dass diese Geschichten wirklich autobiografisch waren, ist ja nich eindeutig belegt. Aber sie geben sicher genügend Anhaltspunkte.

      2. Ah ja. Der Voyeur ist sicher auch ein besserer Schreiber als derjenige, der mitten im Getümmel steckt.

  5. E.T.A. Hoffmann kennt man doch nicht zuletzt wegen des Nussknackers. Der müsste doch weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt sein. Das würde mich überraschen, wenn er in Schweden oder Italien völlig unbekannt wäre.

    1. Ich erinnere mich, dass ich während meiner Schulzeit die Lebensansichten des Katers Murr gelesen habe. Ich fand das damals wahnsinnig zäh. Danach habe ich keinen ernsthaften Versuch mehr unternommen.

      1. Den ‚Taugenichts‘ habe ich damals mit Begeisterung gelesen. Inzwischen beschränke ich mich bei Eichendorff auch auf die Gedichte.

  6. Ich bete schon, dass noch ein paar weitere Morgen kommen werden. Aber ich bete auch, dass ich nicht wach liege und Stunden vor dem Wecker aufwache. Das passiert mir leider viel zu oft.

      1. Magnesium kommt ab dem nächsten Kapitel. Autogenes Training bereitet darauf von, immer wieder rückwärts von zehn bis null zu zählen, bis es klappt. Um die self-fulfilling prophecy der Einschlafstörung zu durchbrechen, ist auch mal was Pharmazeutisches erlaubt.

      2. Oh, das heißt autogenes Training ersetzt das Schäfchenzählen? Das war mir gar nicht klar.

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