Montag, 3. Juli
Giuseppes leeres Bett zwang mich unweigerlich zum Aufstehen.
Als ich aus dem Bad kam, hatte Giuseppe schon den Zwieback für mich beschmiert: mit wenig Pflaumenmus und viel Idealismus. Er glaubt unbeirrt, dass ein Frühstück der Seele oder zumindest dem Magen mehr guttut, als mittags nüchtern, abends betrunken und nachts haltlos zu sein. Wer frühstückt, sündigt nicht.
Heute war unweigerlich, folgerichtig, spiegelverkehrt, der Ausflug in die westliche Umgebung dran, genauer gesagt: Südwesten. Ein Heimspiel. Köpenick habe ich erst mit dreißig Jahren kennengelernt, in Dahlem bin ich geboren, was ein mühseliger Vorgang gewesen sein soll. Meine Mutter hat sich nie wieder einer solchen Strapaze unterzogen, und ich befinde mich noch im Eingewöhnungsprozess. Das steht einer Entwöhnungskur erheblich im Wege.
Auch der Potsdamer Platz steht erheblich im Wege, denn was mal Verkehrsader war und wieder werden soll, ist zurzeit nur Hindernis. Irreführenderweise kann man vom Potsdamer Platz nicht einbiegen in die Potsdamer Straße, was man aber tun muss, wenn man nach Potsdam will. (Da stimmt der Name!) Dank Giuseppes Orientierungssinn und meiner Zähigkeit schafften wir es, uns auf verzwickten Umwegen zum Landwehrkanal durchzuschlagen und uns von dort aus doch noch zur Potsdamer Straße hinzukämpfen. Die Russen hatten es damals leichter.
Als das rote Stadtteilschild auf ‚Schöneberg‘ hinwies, machte ich Giuseppe auf Walter Kollos Schlager von 1913 (ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg) aufmerksam. Während meiner Kindheit hatte man diesen Gassenhauer noch gesungen. Nun lehrte ich ihn, Giuseppe, im Weiterfahren.
Ab Potsdamer Straße an wäre alles ganz einfach. Eigentlich. Die Strecke heißt zwar später mal Hauptstraße, mal Schloßstraße, mal Unter den Eichen, dann wieder Potsdamer Chaussee und zu guter Letzt noch Königstraße, aber sie führt schnurstracks über die Glienicker Brücke nach Potsdam, von wo an – auch folgerichtig – die Straße nun (man muss ja auch an den Gegenverkehr denken) Berliner Straße heißt, obwohl für alle, die sie befuhren, begangen und bewohnten, das Berlin jenseits der Brücke bis zum Mauerfall unerreichbar blieb.
So einfach war es aber nicht. Wir wollten ja gar nicht in die Mark Brandenburg. Wir wollten in die Vergangenheit. Genauer gesagt: Giuseppe musste, wie ich musste. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Tag wurde noch katastrophaler als die anderen. Ich fühlte mich lausig vom Trinken, und weil ich Giuseppe nicht im Stich lassen durfte, goss ich schnell vor dem Wegfahren einen kleinen, lauwarmen Leitungswassergrog in das Pflaumenmus, aber nicht genug, um zu betäuben, sondern nur zu viel, um meinen wunden Mageneingang zu besänftigen. Und ich konnte nicht mal die Zähne zusammenbeißen, weil ich permanent reden musste: „Da rechts, das war bis zur Luftbrücke das Kontrollratsgebäude der Alliierten, du weißt, mein Vater hat da die Kohlenlieferung mit britischen und amerikanischen Flugzeugen für Westberlin organisiert. Jetzt kommen wir zum Innsbrucker Platz, da haben meine Großeltern gewohnt, als die vier Söhne aus dem Haus waren. Vorher lebten sie in Lankwitz. Als das Gebäude im Krieg durch Bomben zerstört wurde, waren meine Großeltern schon bei meinem Onkel Hasso in Schmalkalden. Von da aus sind sie dann in das Haus, das jetzt nicht mehr steht, am Koenigssee gezogen, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Vater hat ihnen, als wir nach Hamburg zogen, dort einen noch zerbombten Teil ausbauen lassen. Da vorne siehst du jetzt den Steglitzer Kreisel, was war in den Siebzigerjahren ein Finanzskandal, die Architektin war mit irgendjemandem im Senat befreundet, und der hat sie immer gedeckt, als der Turm viel teurer als geplant wurde – scheußliches Ding! Hier rechts ist das Steglitzer Rathaus, und links die Straße rauf geht es zum Steglitzer Damm, da hat Roland gewohnt, als ich ihn kennenlernte. Er war gerade die Woche vorher eingezogen und sechs Wochen später zog er zu mir nach Hamburg. Das Bett, das er da hatte, in dem hast du immer geschlafen, wenn du uns in den Achtzigerjahren besuchen kamst, jetzt steht es in meinem Schlafzimmer. Hier rechts – der Botanische Garten mit einem riesigen Treibhaus, das kann man aber von hier aus nicht sehen. Diese Seite ist noch Steglitz, auf der anderen Seite vom Botanischen Garten liegt Dahlem. Fahr mal rechts rein, nein, nicht hier, die nächste, jetzt kommen wir nach Dahlem, jetzt sind wir auf der Thielallee; hier in der Nähe, in der Christuskirche, haben wir immer die Klavieraufnahmen für ‚Deutsche Grammophon‘ gemacht, da war ich viel. Das ist jetzt die Clayallee, da kommen gleich die ganzen amerikanischen Kasernen. Clay war der erste US-Kommandant von Berlin, glaub’ ich, also nur im amerikanischen Sektor. Sieh mal, die Häuser hier! Ich vergleiche immer Grunewald mit Othmarschen und Dahlem mit Nienstedten. Zehlendorf ist dann Blankenese. Da wohnt meine Cousine Marina, eine der beiden Töchter meines Onkels Hasso, den hast du in Meran kennengelernt. Ich hab’ schon mit Marina telefoniert, wir sind am Wochenende bei ihr und Florian, ihrem Mann, eingeladen. Jetzt links, ja, weiter geradeaus, rechts – und, siehst du, jetzt sind wir wieder auf der Potsdamer Straße, jetzt heißt sie schon Potsdamer Chaussee. Fahr mal hier rechts rein – wo sind wir denn hier?! –, nein, das ist verkehrt, warte mal, das geht hier auf dem Plan so blöd über die nächste Seite, ich find’ die Verbindung gar nicht – Matterhornstraße? Irgendwas ist hier falsch –, fahr mal, ach nein, Spanische Allee ist gut, da rein, so, o Gott, mein Magen, jetzt links, und dann sind wir wieder auf der Potsdamer Chaussee, über die Autobahn rüber, das ist gut, da kam jetzt gleich die Grenze, früher; guck mal, da kommt der Wannsee! Das ist eigentlich eine große Havel-Ausbuchtung, fahr ruhig hier rechts rein, da am S-Bahnhof kannst du parken, da in die Lücke, ja, das geht, Vorsicht, da kommt einer, wir gehen mal kurz rüber; hast du die Türen abgeschlossen? Hier runter geht es zum Lande-Steg, der Wannsee ist der größte See in Berlin, als es den Osten noch nicht gab, war das hier immer rammelvoll, Strandbad Wannsee, mein Vater und seine Brüder hatten hier ein Segelboot, mal sehen, wann die Schiffe fahren, mit Bo bin ich von hier aus runtergefahren über Potsdam nach Werder, aber das dauert drei Stunden, ich glaube, hier ist sonst nichts. An meinem Geburtstag 1987 sind wir hier mit meinen Eltern und Roland einmal rundumgefahren, aber damals kam man nur bis zur Glienicker Brücke, dann war Schluss, da musste man umkehren, jeder ein Würstchen aus der Dose, das war mein Geburtstagsessen, aber abends waren wir achtzehn Leute mit Pali und Arthur, Michael und Jürgen, Hildegard Heyse, Weissenberg, der Pianist, war noch dabei, na ja, also, ich glaube, das ist jetzt eine ungünstige Zeit, das nächste Schiff fährt erst in einer Stunde, lass uns zurückgehen, Achtung, der Bus; ganz schön heiß im Auto, wir fahren jetzt am See entlang, so, weiter, nee, hier müssen wir weiter geradeaus, wir kommen nachher wieder an den See, da rechts rein, oh, nein, stopp, das geht nicht weiter, das ist nur für Busse, geradeaus, immer geradeaus durch den Wald, hier geht es, hier rein, Nikolskoer Weg, immer lang da, bis zum Schluss, Forsthaus Nikolskoe, das ist nach dem Zaren benannt, so, hier ist die Welt zu Ende, park da neben dem Golf, das da drüben ist die Pfaueninsel, ich glaube, da gibt es eine Fähre für Fußgänger, ich guck mal, komisch, da war immer eine Fähre, ach ja, da drüben ist sie, auf der Insel, die kommt sicher gleich wieder zurück, lass uns hier einen Augenblick warten, hier auf der Bank!“
Das war eine ungefähre Übersetzung meines aufgekratzten Italienisch. Ich hätte mich ja erschlagen, aber Giuseppe ist sanftmütig, auch wenn er gestern nicht die Bergpredigt gehört hat. Außerdem ist Berlin ein Thema, das Giuseppe außerordentlich interessiert, er ist fasziniert von Berlin, oder von mir, jedenfalls hat er mich gestern zwischen Köpenick und Hackeschem Markt auf einen Film im ‚Planet Hollywood‘ aufmerksam gemacht. Das Kino liegt zwischen ‚Madison City‘ und Gendarmenmarkt. Die Vorstellung begann um zwei. Wir mussten durch das ganze finstere Lokal durch, das offenbar als hipper Jugendtreff nicht mehr gefragt ist, jedenfalls schließt es im August. Wir tasteten uns die Kellertreppe runter, hinten an der Wand war ein Eingang, dahinter lief ‚Das war Berlin‘. Wir waren die einzigen Gäste, oben hatten wenigstens noch zwei Teenager, die wohl unter einer Sonnenallergie litten, an zwei Cola-Dosen gezutscht. Eine Stunde lang flimmerten zusammengeschusterte, oft gesehene Schwarz-weiß-Ausschnitte über die Leinwand, danach torkelten wir, betäubt von dem Getöse der Paul-Lincke-Melodien, durchs fensterlose Hollywood wieder ins Freie.
Titelgrafik mit Material von Shutterstock: ArTono (Rathaus Steglitz), PHLD Luca (Zwieback), Ken StockPhoto (Bäume), Dagmar Breu (Würste) sowie mit Material von: Muns/Wikimedia Commons, CC BY 3.0 (Kreisel in Steglitz), H.Helmlechner/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0 (Strandbad Wannsee)
#2.12 | Am Nabel, drüber und drunter#2.14 | Der Sprung ins Diesseits
Ach was, Planet Hollywood habe ich im Zusammenhang mit Berlin noch nie gehört. Gibt es das denn noch?
Planet Hollywood war doch die Fast Food Kette von Sly Stallone, Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis. Gab es darin ein Kino? Die Berliner Filiale ist auf alle Fälle schon v or Jahren geschlossen worden.
Es steht doch sogar schon im Text, dass der Besuch kurz vor Schließung stattfand…
Der Autor liebt aufmerksame Leser.
*innen!
Ich habe mich angesprochen gefühlt 😉
Zwieback verbinde ich immer mit Magenproblemen. Ich kann den mittlerweile nicht mehr mit Lust essen.
Das liegt aber dann an Ihren eigenen Erinnerungen. Der arme Zwieback kann nichts dafür 😉
Nein, aber mir geht es genauso. Und viele Russen leiden jetzt unschuldig daran, dass man sie mit Putin in einen Topf wirft. Gegen Gefühle kommt der Verstand schlecht an. Ob es hilft, wochenlang Zwieback mit Kaviar zu essen?
Hmmm… Es wird glaube ich weder den Ukrainern noch den Russen helfen. Vielleicht schafft der Kaviar wenigstens wieder eine erneuerte Lust auf zwieback.
Ich fürchte, eher umgekehrt. Wobei das Komissbrot, das in Moskau früher zum Kaviar serviert wurde, nicht besser war als Zwieback. Heute ist das im Café Puschkin natürlich anders. Noch.
Was wird eigentlich im Berliner Café Moskau momentan serviert? Ich fand es immer schade, dass es nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war.
Das Café Moskau entspricht überhaupt nicht meinem Geschmack. Genauso wenig wie das Lindencorso, das glücklicherweise abgerissen wurde, was dem denkmalgeschützten Café Moskau wohl nicht passieren wird. Zu essen gibt es nur Catering auf den spärlichen Veranstaltungen. Wer würde es bei seinem Namen jetzt noch buchen?
Ich mochte es immer, weil es so eine charakteristische Architektur hat. Aber die Fotos von den Tagungsräumen, die man dort hineingebaut hat, machen nicht wirklich Lust auf ein Event dort.
Oh, Reisen in die eigene Vergangenheit sind toll!
Die können auch sehr unangenhem werden. Das kommt sehr auf die eigene Geschichte an.
Und ob es freiwillig geschieht oder notgedrungen.
Ist das denn noch eine Reise, wenn man gegen den Willen dorthin geschleppt wird?
Auf die Psychiater-Couch womöglich.
Die sind immer dann toll, wenn man sie bewusst unternimmt um sich an schöne Momente zu erinnern. Es gibt ja auch den Fall, wo man mit Unschönem aus der Vergangenheit konfrontiert wird. Das macht viel weniger Spaß und kann sogar ziemlich schmerzhaft sein.
Das Glück des ersten Males stellt sich selten ein. Das Trauma eines schlimmen Erlebnisses kann aber vielleicht überwunden werden.
Sehr selten! Umso bemerkenswerter ist es ja, dass so viele Menschen einer guten alten Zeit oder ihrer Jugend oder ihrem ersten Rausch hinterherlaufen.
Die meisten Menschen streben eine Wiederbegegnung doch nicht an, um ein Trauma zu überwinden, sondern um einen Wunschtraum weiter zu träumen. Das geht im Allgemeinen schief.
Das ist das Schicksal jedes Ravers 😉
Je abgestumpfter desto geringer die Enttäuschung bei den Wiederholungen.
Sie meinen den Eingewöhnungsprozess ins Leben?
Es soll ja durchaus Menschen geben, die sich nie so richtig eingewöhnen können. Den Eindruck hat man bei Hanno Rinke allerdings gar nicht.
Vielleicht ist das etwas hochtrabend ausgedrückt, aber ich möchte, dass die Eingewöhnungsphase erst mit dem Tod endet: Das wird die letzte neue Erfahrung und dazu eine, bei der Anpassung statt Auflehnung unumgänglich ist.
Oh wow. Das ist ein toller Gedanke. Das heißt dann ja quasi, dass alles nur solange lebendig bleibt, wie man sich nicht eingewöhnt und angepasst hat. Da ist definitiv etwas dran.
Selbst bei Anpassung gibt es ein Leben vor dem Tod. So richtig angepasst fühlen sich viele ganz kuschelig.
Diese Tage mit wundem Magen und überanstrengter Leber … da können Sie einem schon Leid tun. Auch wenn es das ja um ein selbst zugefügtes Leiden geht. Wer das freiwillig auf sich nimmt, der muss schon gute Gründe haben.
oder schlechte …
Das ist sogar wahrscheinlicher.
Berlin kann einen auch wirklich faszinieren. Ich würde zwar selbst nicht in einer so großen Stadt leben wollen, aber als Besucher bin ich immer begeistert gewesen. Berlin ist ja doch sehr anders als die anderen deutschen Städte.
Und, wie ich immer finde, überraschend grün. In ‚meinem‘ Grunewald sowieso, aber selbst in Neukölln, im Ortsteil Britz.
Stimmt Selbst innerhalb der Stadt gibt es ja so viele Bäume und kleine Parks. Und rund um die Stadt Wald und Seen. Die Lebensqualität ist ohne Frage hoch.
Mund-Diarrhö! Hahaha
Klingt gebildeter als Scheiße-Quatschen
…und trotzdem irgendwie noch einmal fieser