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2. Berlin-Reise / 2000

#2.29 (C) | Weinprobe

Da es nichts mehr zu sagen gab, traf es sich gut, dass wir mit gewissem Nachdruck an die Tische gebeten wurden. Irene wollte neben dem prominenten Ivan Nagel und an Jeffs Tisch sitzen. So kam es also, dass ich neben Irene und Jeff saß, auf Irenes anderer Seite saß Ivan Nagel, Irene gegenüber eine lebendige junge Frau, mit der ich vorher schon bekannt gemacht worden war, und mir direkt gegenüber eine feine ältere Dame, die wie ein vollendetes Perlhuhn aussah: perlgraue Haare über einem jung gebliebenen Gesicht, perlgraue Augen, eine perlgraue Seidenbluse und ein perlgraues Leinenkostüm. Etwas übertrieben: außerdem eine Perlenkette.
„Sie ist eine Enkelin von Richard Wagner“, flüsterte Irene mir zu.
‚Sie wird wohl das ein oder andere Ur- vergessen haben‘, dachte ich bei mir und fragte das Perlhuhn, nachdem ich mich ihm artig vorgestellt hatte: „Sind Sie eine Schwester von Eva Wagner?“
„Nein“, beschied es mich, „eine Cousine.“
Na, immerhin.
Marie-Luise Scherer ging vorbei und sagte: „Olympia geht nach Australien, Gott sei Dank! Mir tun nur die armen Leute in Sydney leid.“
An unserem Tisch konnte sie mit dieser Aussage keinen Blumentopf gewinnen, da war man mehr aufs Kulturelle aus, und ich hielt mich mit meiner Meinung zurück, an diesem Abend jedenfalls.
Der Weingutsbesitzer stakste eine längliche Rede, in der sich zunächst bei mir – zum zweiten Mal an diesem Abend – dafür bedankt wurde, wie zahlreich ich doch erschienen sei, ein Kompliment, das ausschließlich dem Gastgeber schmeichelt, weil es seine vermeintliche Beliebtheit unterstreicht. Im weiteren Verlauf ließ er kokett wissen, dass er „im Nebenberuf“ noch „Banker“ sei, und durchblicken, dass er furchtbar reich ist. Dann gab er das Wort jovial an seinen Kellermeister ab, der hatte viel zu erzählen. „Wir auf Schloss Nierenstein sind Tiefstapler“, brüstete er sich. Bisher hätten wir einen Schaumwein getrunken, der so vollendet versetzt worden sei, dass er jeden Champagner aussteche, zumal er aus durchgegorenem schwäbischen Wein, einem Jungfernwein, verstehe sich, auf der Hefe gelagert und mit nur 0,4 Gramm Restzuckergehalt hergestellt sei.
Die stummen Diener von meinem Klogang waren mittlerweile damit bestraft, einzuschenken, sechsmal pro Gast. Vor jedem standen also am Ende sechs Weinsorten von unterschiedlichstem Gelb wie die Reagenzgläser in einem Urin-Laboratorium.
Ich hatte das Gefühl, dass keiner der Geladenen sich im Mindesten mit Weinen, dazu noch deutschen, auskannte, wir waren mehr oder (wie Irene) weniger interessierte Laien. Nun fingen alle an, an allem zu nippen, vor und wieder zurück, als spielten sie Tonleitern auf einer Glasharmonika.
Jeff, der sich für das Ganze irgendwie mitverantwortlich zu fühlen schien, verschwand gleich am Anfang, um nie mehr an seinen Platz zurückzukehren.
Dies brachte mich in eine etwas loriothafte Situation, denn Ivan Nagel plauderte auf Irene ein, während das Perlhuhn seine Nachbarin begackerte. So konnte ich mich voll auf die gute, aber ein wenig strenge Lachsterrine konzentrieren, auf den Forellenschwanz und natürlich auf all die Rebsäfte. Die Fluorzahnpasta entpuppte sich als Basilikumcreme und war das Beste vom ganzen Abend.
Ivan Nagel mäkelte derweil an Madrid herum, indem er es mit London und Paris verglich. Irene, bemüht, mich aus meiner Isolationshaft zu befreien (sie hatte ja schon für Honecker ein gutes Wort eingelegt), fragte mich: „Kennst du Madrid?“
„Ein bisschen“, antwortete ich, „nicht gut.“ Diese Aussage erschien mir aber doch zu schorledünn und so ergänzte ich: „Der Sohn einer Freundin von mir hat gerade ein Jahr in Madrid gelebt, er ist vierundzwanzig. Der war ganz begeistert.“ Diese Aussage freute mich, denn sie ließ Ivan Nagel wissen: „Die Begeisterung dieses Jungen steht dir altem Knacker natürlich nicht mehr zu Gebote.“

(Jetzt folgen im Originalbrief zehn Seiten über ‚mein‘ Madrid, die ich hier natürlich weglasse.)

Ivan Nagel erläuterte Irene inzwischen, dass der Prado nun mal, trotz aller anderen Einwände gegen Madrid, sein Lieblingsmuseum unter den Großen sei, wobei er den Louvre, die Eremitage und das Metropolitan Museum zum Vergleich heranzog. Um mich nicht wieder gänzlich aus der Unterhaltung auszuklinken, hätte ich sagen können: Mir ist die Accademia in Venedig am liebsten, weil dort das Drinnen und das Draußen zu zeitloser Harmonie verschmilzt. Aber erstens ist ja die Accademia kein großes Museum und zweitens hätte ich diese Mitteilung über die Maßen unerheblich gefunden.
Um also etwas Erheblicheres zu tun, verschmierte ich die Reste der Basilikumcreme auf meinem Teller, aber dann wurde er mir weggenommen und es gab Rosé. Ohne was zu essen. Das war auch besser so, denn dadurch konnte man sich voll auf die Aussagen des Kellermeisters über Spätlese, Auslese, in Drahtrahmen eingestreifte Rebstöcke und die Maßnahmen gegen Verpilzung konzentrieren. Die trockene Rede wurde durch den lieblichen Wein ausgeglichen, „gefällig“ wäre vielleicht ein passender Ausdruck für die blassrosa Flüssigkeit gewesen.
Irene unternahm einen zweiten Anlauf. „Hanno ist ein enger Freund von Pali. Du kennst doch Pali?“
„Ja natürlich“, sagte Ivan Nagel, „wie geht es Pali?“
„Danke“, antwortete ich, „er ist erkältet.“
Ivan Nagel sah sinnend in die Verlängerung der Weite. „Irgendwann haben sich unsere Wege verloren“, merkte er an, dann gab es wieder volle Teller und volle Gläser. Roten, dieses Mal. Auf den Tellern lag allerlei Aufschnitt vom Schwein:
Schinken, Salami, Mortadella und ein bisschen Käse. – Alles sehr gut. Deutschland stellt zwar nur 1 Prozent des Weltjahresaufkommens an Wein, hat aber die größte Riesling-Anbaufläche der Welt, erfuhren wir vom Kellermeister. Da ich Riesling nicht ausstehen kann, fragte ich mich, ob ich wohl lieber in einem Land mit der größten Anbaufläche von Honigmelonen leben würde.
Wir wurden nun ersucht, den ersten der drei Rotweine zu verkosten und dabei die Traubenvollernte, alles handverlesen, herauszuschmecken.
Als die Teller wieder leer waren und auch der dritte Wein – ein abgepresster Trollinger – alle, fand Irene, dass es allmählich Zeit würde zu gehen. Ich stimmte zu, umso mehr, als ich sicher war, dass die Veranstalter bald anfangen würden, uns ihre Flaschen kistenweise aufzuschwatzen. So gingen wir in die Nacht hinaus und in unsere gegenüberliegenden Wohnungen. Es war kurz nach zwölf. Irene Rinke hatte mich ermahnt, einen ‚hübschen Schlafanzug‘ mitzunehmen, folgsam und folgerichtig stieg ich in den besten von Palis ererbten Pyjamas. Außer mir sah es zwar keiner, aber gerade das nicht zum Maßstab zu machen, sondern formvollendet auch dann zu sein, wenn es niemand merkt – das zeichnet den Mann von Welt aus, der ich ja leider nicht bin.

Hanno Rinke Rundbrief

25 Kommentare zu “#2.29 (C) | Weinprobe

    1. Inzwischen weiß ich ihn auch zu schätzen. In meiner Jugend taten wir alle deutschen Weine mit ihren blumigen Namen als ‚Rieslinger Loch‘ ab. Es musste halt französisch sein. Weil ich doch den Rheinwein zu Weihnachten bei meinen Eltern, seit ich ihn probieren durfte, nie gemocht hatte.

      1. Bei dden Roten bleibe ich meistens in Frankreich. Weise darf gerne aus Deutschland kommen. Oder vielleicht ein Gavi di Gavi aus Italien.

      2. Ach man darf das alles nicht so engstirnig sehen. Es gibt immer wieder schöne Überraschungen, wenn man offen für Neues bleibt.

      1. Man merkt es bei Interviews: Wer reden kann, antwortet knapp; wer es nicht kann, dem fällt keine Endfloskel ein und er spricht weiter, weil ihm/r der Schlusspunkt fehlt.

      2. Ah ja, das ist ein schlüssiger Gedanke. Das passt in der Tat zu vielen solchen nicht enden wollenden Momenten.

  1. Ach was, am Ende war die Fluorzahnpasta also sogar das Highlight. Man muss ja wirklich immer aufpassen, dass man nicht zu schnell urteilt.

      1. Scholz enttäuscht mich wirklich. Da war Frau Merkel ja geradezu übereilt und vorschnell im Vergleich.

      2. Das verunsichert mich in der Tat auch. Bei einer ’straken‘ Führung hätte man wenigstens das Gefühl, dass alles daran getan wird, dass der Krieg nicht weiter nach Europa hinein schwappt. So zögerlich, wie die Regierung momentan agiert, ahnt man nichts Gutes.

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