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2. Berlin-Reise / 2000

#2.21 | Unter- und überwegs

Donnerstag, 6. Juli

Gott, ging es mir dreckig! Nein, so ging es nicht weiter! Jetzt war Schluss mit Saufen! Noch wichtiger, als gute Vorsätze in die Tat umzusetzen, war es, Giuseppe durch den Tag zu lotsen und mich mit. Da halfen nur eiserne Disziplin und gnadenloses Kulturprogramm.
Der Gendarmenmarkt wurde vom ‚Feldschlösschen‘ befreit. Grund genug, die Ausstellung ‚Fragen an die deutsche Geschichte – Wege zur Demokratie‘ zu besuchen. Vom Keller wanden wir uns in die Kuppel. Erst wurde es immer demokratischer. Aber dann, im ersten Stock, kam Hitler; oben war es wieder recht manierlich. Ich konzentrierte mich auf jeden beleuchteten Stich, jedes noch so verschwommene Foto und jede Unterschrift. Allmählich wurde ich gelöster und gebildeter. Nach zwei Stunden hatten wir unsere Spirale beendet. Hedwigs-Kathedrale, Friedrichswerdersche Kirche, Schleusenbrücke, Marstall, Bushaltestellen-Häuschen (wegen Regen), Berliner Dom (wegen Giuseppe): war gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Touristen aus Minneapolis würden den Unterschied zu San Marco in Venedig kaum bemerken. Auf Giuseppes ausdrücklichen Wunsch hin sahen wir uns auch die Sarkophage im Keller an. Treppen machten meinem linken Fuß besonders zu schaffen, aber dafür sah ich dann Grabstätten von Kurfürstinnen aus dem sechzehnten Jahrhundert. ‚Was da wohl drin ist?‘, gruselte ich mich.

Um auch gar nichts auszulassen, machten wir mit einem ‚Original Amsterdamer Grachten-Boot‘ eine Spreefahrt. Der Mann am Lautsprecher meinte, seine Kundschaft mit übelsten Kalauern bei Laune halten zu müssen, und ich beneidete Giuseppe, dass er nichts verstand. Ich selbst war auch gut dran, weil ich nun Folgendes nicht mehr zu erlaufen brauchte: Museumsinsel, Bundespresseamt, Bundeskanzleramt, Kongresshalle, Nikolaiviertel. Zentral- und Landesbibliothek und die Außenstelle des Landesarchivs. Der Himmel klärte sich auf. Friedrich der Große sollte bis zum Mai 2000 wegen Renovierungsarbeiten nicht Unter den Linden stehen. Im Juli war er immer noch weg. Giuseppe musste etwas essen. Wir fanden in der Rosmarinstraße, die nicht viel länger ist als ihr Straßenschild, eine Sushi-Bar, setzten uns gemütlich in die Sonne und bestellten. Bevor der rohe Fisch kam, kam der Regen. Drinnen war es ungemütlich, ich trank tapfer grünen Tee. Der Regen hörte wieder auf. Wir gingen die Friedrichstraße runter, rauf ins Bett.
Als ich gegen halb sieben aufwachte, machte mir der Gedanke zu schaffen, dass wir noch nichts vorhatten für den Abend. Zum ersten Mal seit zehn Tagen. Ich überlegte, wie wir wohl am himmelstürmendsten Berlin erobern könnten. Giuseppe schlug Kino vor. Da bot sich der Potsdamer Platz an. Giuseppe wollte ‚Gods and Monsters‘ sehen, weil ihm jemand Kunstsinniges das empfohlen hatte. Das gab es aber nur im ‚Kant‘ in der Kantstraße. Ich regte an, den Besuch bis Samstag aufzuschieben. Da waren wir bei Dorothee eingeladen, zusammen mit Alison1, die bei Dorothee wohnen sollte. Die Spätvorstellung begann um elf. Vorher gab es einen anderen Film. Ich malte mir aus, wie Alison gucken würde, wenn wir ihr kurz vor elf sagten: „We want to go to the ‚Kant‘ now.“

Treppen sind nach wie vor schwierig für meinen linken Fuß, besonders runter. Viele Einrichtungen haben aber bloß Rolltreppen rauf, so auch der U-Bahnhof Mitte, gleich neben unserer Appartement-Haustür. Zum Potsdamer Platz sind es nur zwei Stationen, das geht schnell. Durch das Baustellengewirr zu einem Ort zu gelangen, der diesen Namen verdient, dauert lange. Es ist der Frankfurter Flughafen, in den Untergrund verlegt und nicht fertiggestellt. Kabel und Absperrungen begleiten einen auf Schritt und Tritt. Plötzlich sind wir mitten in einem Foyer: Velours, Deckenbeleuchtung und Garagentore, an denen ‚Cinema 10‘, ‚9‘, ‚8‘ bis ‚1‘ steht. Dann eine Bar. Eine Treppe aufwärts. Die Kassen. Wir haben uns das Terrain offenbar von rückwärts erlaufen.
Ich bin noch nie einfach ‚ins Kino‘ gegangen, sondern immer nur zu einer bestimmten Zeit in einen bestimmten Film. Das blieb auch so. Es gab zehn Kassen, über denen in Leuchtschrift informiert wurde, dass sie für alle Säle zuständig seien. Überflüssigerweise verschafften wir uns zunächst einen Überblick, was für Filme es gab, dann sahen wir uns die Anfangszeiten an. Alle Filme hatten um 19.30 Uhr begonnen. Um 22.00 Uhr war die nächste Vorstellung zu erwarten. Es war halb neun, selbst bei einer Dreiviertelstunde Werbung war das zu spät. Eine Stimmung herrschte in dem riesigen Vorraum wie in der Gepäckausgabe des Frankfurter Flughafens, wenn die Koffer nicht kommen. Wir verließen das, was wir im Rausgehen als Sony Center identifizierten, in Richtung ‚Arkaden‘ – eine blumige Bezeichnung für den Gang mit Billiganbietern. Da befindet sich der zweite Kino-Komplex, das eine heißt CinemaxX, das andere Cine-Sonstwas und gehört zum Mercedes-Bereich. Die beiden Häuser sind gut aufeinander abgestimmt: Sie zeigen die gleichen Filme zu denselben Anfangszeiten. Bei Sonstwas herrschte eine Stimmung, als ob drei Maschinen ausgefallen seien. Aber es gab noch den Filmkunstbereich, dort, wo Kunst hingehört: im Keller. Anfangszeit: 20.45 Uhr. Man gab einen französischen Stummfilm mit Original-Titeleien. Beinahe hätte ich mir noch lieber ‚Das war Berlin‘ im schließenden ‚Planet Hollywood‘ angeguckt.
Kino fiel somit aus, und zu Tchibo und Eduscho mochten wir uns auch nicht setzen. Wir wateten also zum U-Bahn-Eingang zurück, diesmal ebenerdig.

Aus einer Laune heraus schlug ich vor, mal so richtig in den Osten zu fahren, natürlich nicht nach Hellersdorf, aber über den Alexanderplatz hinaus zum Rosa-Luxemburg-Platz. Den Platz gibt es seit 1906: Erst als Babelsberger, dann als Bülow-, kurz als Liebknecht- und jetzt also als Platz von Rosa Luxemburg, aber eigentlich gibt es ihn gar nicht. Er ist mehr eine Kreuzung, an der vergessen wurde, zwei weitere Häuser zu bauen. Aber immerhin steht da die ‚Volksbühne‘, die im Düsterwerden des Himmels ziemlich finster aussah: eine ‚Metropolis‘-Kulisse. Wir liefen so rum, aber wir fanden nicht, was wir wollten, zumal ich nicht wusste, was ich wollte. Mir schwebte etwas Großstädtisches vor, wo die Bedienung Zauber hat und das Publikum Esprit. Man sollte schicke Kleinigkeiten essen können, kein dickes Menü, und die Umgebung sollte aufreizende Geborgenheit ausstrahlen. Da ich mir fest vorgenommen hatte, keinen Alkohol zu trinken, kam es mir so vor, als ob mir sowieso alles derart trostlos erscheinen würde, dass ich ebenso gut in der Behindertentoilette der Frankfurter Inlandsabfertigung sitzen könnte. Dabei gab es alles: elegant vietnamesisch (zu aufwendig), daneben eine verqualmte Bierkneipe (zu derb), ein paar Stufen aufwärts die ‚Gute Stube‘, wo Punker in Plüsch absaßen (zu originell). Wir studierten Eingänge und Speisekarten, so weit die Füße trugen, was zumindest meinem linken nicht recht zu passen schien. Im Weinbergsweg, wo ich vergeblich nach Reben Ausschau hielt, hatten sich die jungen Menschen wohl ausschließlich am Kalender orientiert und trotzten der Temperatur im Freien.
Ich hatte das Gefühl, die Stimmung sei umgeschlagen. Die Leute an den Tischen machten keinen friedlichen Eindruck. Wir sahen mehr nach ‚Café Huth‘ ohne Selbstbedienung aus als nach Kiez. Ich fing ablehnende Blicke auf. „Lass uns weggehen hier!“, sagte ich.
Wir kehrten um und waren gleich am Rosenthaler Platz: So stelle ich mir die South Bronx vor, nur weniger rund. Der Zug in Richtung Alexanderplatz ließ auf sich warten. Ein grölender Haufen kam die Treppe herunter. Wir wichen etwas zurück. Bis auf uns und die Skinheads war die Station leer. Ich vermied es, hinzusehen, aber hörte, dass sie mit einer Bierdose Fußball spielten. Plötzlich fand ich, dass Giuseppe sehr nach Ausland aussah und ich nach Grunewald. „Na, ihr Schwuchteln, Schbageddie-Fressa!“, hörte ich sie in meiner Einbildung schon rempeln. Warum kam der Zug nicht? Warum waren wir in diese Gegend gefahren? Warum hatten wir kein Taxi genommen? Wir schwiegen, die Horde wurde lauter, die Bierdose schepperte immer näher. Dann kam der Zug. Am Alexanderplatz stiegen wir um in die S-Bahn; zwei Stationen bis Friedrichstraße. Hinter dem ‚Berliner Ensemble‘ waren Lokale, erinnerte ich mich. Im Theater hätte es den ‚Tod des Marat‘ gegeben. Wäre das nicht vielleicht noch lustiger gewesen als das Leben am Potsdamer und gar am Rosenthaler Platz, wo kein Porzellan hergestellt, sondern nur zerschlagen wurde?

Das ‚Ganymed‘ ist ein piekfeines Lokal geworden, das seine Speisekarte in den Neunzigerjahren von Soljanka auf Fasanen-Consommé umgestellt hat. Es schloss gerade. Die ‚Ständige Vertretung‘ war gerammelt voll und lärmig. Zwischen beiden lag das ‚Brokers‘, wo, wie der Name sagt, Jungbörsianer als Gäste erwartet wurden. Gestern war Sushi, heute war wieder Tatar dran.
„Noch essen?“, fragte die Bedienung erschrocken, „da muss ich mal fragen.“
Die Jungbörsianer saßen mit ihren Freundinnen und Freunden bei Bier und Wein. Falls Teller vor ihnen standen, so waren die leer gegessen. Meine Hoffnung sank von Minute zu Minute. Giuseppe bekam ein zünftiges Bier, ich hatte mich zu einem alkoholfreien durchgerungen. Und: Tatar gab es noch. Ich machte es fachkundig an und überließ es nach drei Bissen Giuseppe.
Was für ein krönender Abschluss eines eindrucksvollen Abends! Was wir nicht alles gemacht hatten! Und jetzt noch der imposante Blick über Schiffbauerdamm und Spree hinweg auf den feierlich erleuchteten Bahnhof Friedrichstraße! Vom Wetter abgeschirmt hinter Glas, unter Menschen, die aussehen, als wollten sie einen nicht gleich totschlagen, sondern höchstens mit Aktienpaketen übers Ohr hauen. Tatar gewürzt, dem Dämon Alkohol entsagt. Nach zwanzig Minuten Marsch würde auch mein linker Fuß ausruhen dürfen, der rechte hätte noch die ganze Nacht durchtanzen können. So schön kann das Leben sein! Hoffentlich war der Mann von der Dame aus dem Fernsehen zurück, damit sie nicht mehr darauf angewiesen war, fremden Leuten ihre Telefonnummer durchzusagen. – Nein, sie informierte immer noch: „Mein Mann ist verreist …“ Na ja, es kann nicht jeder so gut haben wie wir.

Who ist who

1 – Alison Ames

[ˈæləsən] [ˈeɪmz]

Eine typische WASP, nicht mit ‚Wespe‘ zu übersetzen, sondern Abkürzung für ‚White Anglo-Saxon Protestant‘: ein amerikanisches Upperclass-Girl. Alison war ein paar Jahre in Hamburg meine Marketing-Kollegin gewesen und dann von New York aus für ‚Grammophon‘-Aufnahmen in den USA zuständig.

Hanno Rinke Rundbrief

40 Kommentare zu “#2.21 | Unter- und überwegs

  1. Was ist das eigentlich für eine Eigenart Rolltreppen nur aufwärts einzubauen? Am BER soll das ja ähnlich sein. Mir bleibt es ein Rätsel.

      1. Für Gehbehinderte ist abwärts viel schwieriger als aufwärts. Das zu bedenken wäre ein genauso relevanter Beitrag zum Gemeinwohl wie Klos für ein unbestimmtes Geschlecht.

      2. Ohne Frage! Am Berliner Flughafen ist mir das neulich auch gleich aufgefallen. Klar, es gibt als Alternative Aufzüge. Aber die sind in geschäftigen Phasen natürlich völlig überlastet und überfüllt. Wer sich das ausgedacht hat, muss wirklich einen Denkfehler oder kein Verständnis für ältere Menschen haben.

  2. Das erinnert mich immer an diejenigen, die mit Freude ihr Tartar (oder ja nach Typ ihr Mettbrötchen) genießen, aber über rohen Fisch die Nase rümpfen.

    1. Sushi gibt es mittlerweile aber doch in jeder Kleinstadt. Die Zeiten wo so etwas exotisch war sind dich langsam vorbei.

      1. Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Es dauert eben, bis man sich an neues gewöhnt. Es gibt ja immer wieder neue Food Trends, die herüber schwappen – also auch immer wieder Neues zu entdecken. Mir macht das Spaß, anderen weniger. Macht doch nichts.

  3. Beim Frankfurter Flughafen denke ich auch immer nur an ewiges Herumgerenne. Es gibt kaum einen Flughafen, den ich weniger mag.

    1. Ich war da neulich noch für einen Anschlussflug und war innerhalb von 5 Minuten dort wo ich sein sollte. Alles easy.

      1. Na da ist doch quasi diese immer wieder erwähnte Spaltung der Gesellschaft ‚in a nutshell‘. Die Erfahrungen und Sichtweisen sind eben oft völlig gegenläufig. Da sollte man wirklich öfters zuhören und schauen woher andere Meinungen kommen. An Fakten kann man nicht rütteln, aber unterschiedliche, eigene Wahrheiten gibt es trotzdem.

      2. Sie haben ganz recht. Das sollte man wirklich viel öfter im Hinterkopf behalten.

      3. Das wäre in der Tat noch besser. Oft hat man ja die guten Ideen, Gedanken und Vorsätze alle abgespeichert, aber greift trotzdem auf die über Jahre antrainierten Reflexe zurück.

  4. Wie ist denn das Amsterdamer Grachten-Boot auf der Spree gelandet? Und war es wirklich, wie angepriesen, ein Original?

  5. CinemaxX und CineStar haben sich tatsächlich immer toll ergänzt. Vor allem nämlich, weil das CineStar die Filme im Original zeigte, während das CinemaxX hauptsächlich auf synchronisierte Fassungen setzt. Mittlerweile ist das riesige CineStar tatsächlich pleite und das Sony-Center noch trostloser als ohnehin schon.

      1. Die Filiale am Potsdamer Platz inkl. IMAX-Kino hat aber vor ein paar Jahren aufgegeben, weil die Mieten dort zu teuer geworden sind. Anscheinend hat sich das trotz regelmäßig voller Kinos nicht mehr rentiert.

      2. Früher war ein Kino-Erlebnis für mich genauso schön wie einTheater-Besuch. Hinterher gingen wir zu viert essen und redeten uns die weinroten Köpfe heiß. Jetzt sitze ich vor meiner 3-Meter-breiten Leinwand und esse Schnittchen. Eigentlich habe ich es gut.

      3. Oh das klingt aber tatsächlich nicht schlecht. Ich wollte immer ein ‚Kinozimmer‘ zuhause haben.

      4. Das Glück einer Altbau-Mansarden-Wohnung: Der Projektor verschwindet hinten in der Abseite. Aber für Anne Will und Markus Lanz reicht auch mein Computer-Bildschirm.

      5. Nachrichten und Kommentare zur aktuellen Situation lese ich eh lieber, als dass ich sie schaue. Da spart man sich Herrn Lanz auch gleich.

    1. Viele finden ihn nicht weniger nachgemacht als das neue Schloss. Asiatische und amerikanische Besucher sehen vermutlich keinen Unterschied zur italienischen Hochrenaissance.

      1. Noch mehr als das Baujahr hat mich ehrlich gesagt verwundert, dass es eine evangelische Kirche ist.

      2. Wo ordnet man ihn dann in etwa ein? Ist das Neobarock? Ich fand den Dom eigentlich ganz hübsch.

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