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0209
2. Berlin-Reise / 2000

#2.58 | Die abgebrannte Kerze

Da waren also erst der Weg, dann das Haus und meine Eltern; Volker half mir bei der Wiedervereinigung meiner Wohnung mit meinen Habseligkeiten, und ich hämmerte mir ein: zu Hause.
Mecklenburgisches Abendessen. Ich liebe das Haus, das Schummeln, und ich liebe meine Eltern. ‚Gute Zeiten – schlechte Zeiten‘: die Daily Soap mit den höchsten Einschaltquoten. Ich habe sie noch nie gesehen, im Fernsehen, mein’ ich.

Den August über habe ich, meist im sonnigen Garten und strikt ohne Alkohol, die ‚Spiegel‘-Ausgaben seit April nachgelesen. Ich bin da sehr gründlich, weil man ja nie wissen kann, ob sich nicht im Gespräch oder im Geschreib’ ein Gedanke – umformuliert – verwenden lassen wird. Es war befriedigend, beschrieben zu sehen, was ich in Berlin mit Augen gesehen hatte: etwas Gedrucktes. Die neue englische Botschaft samt Queen, Loveparade, das ‚Trentasei‘, in dem der Kanzler mittags Nudeln isst, – alles fünf Minuten zu Fuß.
Seit ich à jour bin, befinde ich mich auf Schreibfluchten – nicht vom, sondern zum Schreiben. Vor der Wirklichkeit, deren Fenster mit Lähmung verkleistert sind. Jetzt anschließend werde ich die Überarbeitungen meiner anderen Schreibereien in Angriff nehmen, für die ich in Berlin nicht kämpfen mochte. Mein Arbeitszimmer ist so sehr Schauplatz von Vermüllung geworden, dass ich im Schlafzimmer an Rolands früherem Schreibtisch sitzen muss. Eigentlich hatte ich ‚Spaß‘ haben wollen in Berlin und ein paar Erfahrungen machen. Und wozu? Wo führen diese beiden Parallelen Lust und Erkenntnis zusammen, und wem nützen sie? Die Frage ist immer: Was kommt danach? Danach, danach. Ich studiere Fahrpläne um ihrer Endstation willen. Ich orientiere mich an ihnen, aber nie fahre ich dorthin. Danach. Die Rolltreppe runterrasen? Gelähmt sein? Weiterhetzen. Ich könnte aussteigen. Ich könnte weiterfahren. Stadtmitte/Endstation. Was macht’s?
Der Mann, der in der Bleibtreustraße meine achtzig Pfennig bekommen hat – wenn wir nun doch zusammen das Bier getrunken hätten? Er ist Pole. Biologe. Er hat eine Methode gefunden, die Befruchtung im Eileiter so zu regeln, dass die Liebenden vorbestimmen können, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen wird. Er hat ohne Genehmigung einen ersten Versuch gemacht. Er misslang. Ein zwittriges Wesen kam zur Welt. Ein Skandal. Er wurde fristlos entlassen. Es trieb ihn nach Berlin. Er schwört, seine Methode klappt. Ihm ist ein winziger Fehler unterlaufen. Wenn er genügend Geld hätte, um zu beweisen, dass er recht hat – man könnte Millionen verdienen …
Ein Mück hat sich bei mir eingenistet. Sein Surren stört mich nicht. Es klingt nicht mehr bedrohlich, weil ich mir inzwischen sicher bin, dass er mir nichts antun wird. Ich muss verrückt sein, eine gewisse Zuneigung zu diesem Haustier zu entwickeln. Wir beabsichtigen beide, in diesem Raum friedlich zu überwintern. Unsere Beziehung ist nicht sexuell, aber erotisch. Er umschwirrt mich immer in bestimmten Augenblicken. Wäre er weiblich, hätte ich ihn längst erschlagen, aber die Männchen stechen nicht, das ist so bei Mücken. Ich denke an die Ameisenprinzen und an vieles mehr.

Herbst. Die Tage fleddern dahin. Wie Altpapier, das aus dem Müllcontainer geweht kommt. Mal fährt ein Lastwagen darüber, mal schleift ein Windstoß es durch die Pfützen. Totes kann nicht sterben. Und es gibt sogar noch eine Hoffnung: morgen. Da wird die Zeitung von heute das Altpapier der Zukunft sein. – Mitteilungen, deren Wert nicht in ihrer Aktualität besteht, sondern in ihrer Allgemeingültigkeit: nicht mehr in den Schlagzeilen, nicht mehr in den Klatschspalten, aber noch in Berlin. Also nur das Wichtige wollen und alles andere abtun als Kleinkram? ‚Kinkerlitzchen‘ nannte Guntram es neulich. Er hatte mir den Vorwurf gemacht, ich würde mich nicht genügend für ihn interessieren (eine Unterstellung, die bei Unersättlichkeit immer berechtigt ist), aber ich hatte ihn – sind Kinder je gnädig? – daran erinnert, dass er sich von Anfang an nicht für mich interessiert hatte. Die Rollschuhe, in denen meine Stofftiere fuhren, hatte meine Mutter gekauft und die Schokoladenhasen auf meiner Kasperle-Bühne auch. Nicht eine einzige Tafel Schokolade, nicht einen Pullover, nicht ein einziges Reisegeschenk habe ich von ihm bekommen, und Irene, seine angebetete Frau, nicht einen einzigen Blumenstrauß außerhalb der obligatorischen Festtage. Dass ich ihm Matjes aus Amsterdam oder Obstwein aus Werder mitbrachte, weil ich wusste, dass sich darum Geschichten rankten – es hat ihn nie auf den Gedanken gebracht, dass man jemandem zeigen kann: Ich habe an dich gedacht, statt in Verzweiflung zu geraten, dass jemand Geburtstag hat und wohl irgendetwas fällig ist. Gewiss, Geld von seinem Konto hat er zur Verfügung gestellt: Einen Pelz für Irene, ein Klavier für mich, das will ich ihm hoch anrechnen. (Einen der Pelze meiner Mutter habe ich, als er ihr zu altmodisch wurde, in den verrückten 60er-Jahren aufgetragen; schade, dass Irene nie Klavierspielen gelernt hat.)
Er ging in sich und sagte nach einem Augenblick des Überlegens zu meiner als Vorwurf auslegbaren Erinnerungshilfe: „Ja, also um Kinkerlitzchen hab’ ich mich nie gekümmert.“
‚Kinkerlitzchen‘! Mit einer Benennung lässt sich leicht zertrampeln, was eine Blüte hätte werden können. Und wohin führt das? Meinen Vater hat es inzwischen in die Seniorenresidenz gebracht, also in ein Pflegeheim für Alte, die nicht mehr zurechnungsfähig, aber noch zahlungsfähig sind. Es blieb keine andere Wahl. Er muss nicht ertragen, sondern getragen werden, für jede Verrichtung. Da hilft keine dunkle Ecke in Ostberlin, sondern nur ein Heer ausgebildeter Pfleger. Vielleicht ist es anmaßend von mir zu glauben, dass es so nicht hätte kommen müssen, wenn er weiser gewesen wäre. Und wer kann von wem Weisheit einfordern? Seine wütige Uneinsichtigkeit hat seinen angegriffenen Körper vollkommen handlungsunfähig gemacht und zerstört nun auch sein Hirn. Jetzt hat das Schicksal ihm wirklich das angetan, was er ihm – viel zu früh – vorgeworfen hatte. Natürlich prallen solche nicht stattfindenden Einsichten am Schicksal ab wie an jedem Gott, vom Hadernden gar nicht zu reden. Ich empfinde Trauer über die Unfähigkeit meines Vaters, sich helfen zu lassen.
Er ist ohne jede Dankbarkeit für die Vergangenheit, ohne jeden Willen zur Gegenwart und ohne jede Hoffnung für die Zukunft. – Bitter. Alles Kinkerlitzchen. Irgendetwas, das einen daran hindert, anderen zu zeigen, dass man an sie gedacht hat, oder das zu nichtig ist, um dafür zu leben, findet sich immer. Dafür muss man nicht Philosoph sein. Aber vielleicht muss man sich auch gar nicht für etwas einsetzen wollen wie das Leben, sondern sich an etwas hingeben können wie den Tod.
Diese zwei Seiten – Preußen hatte sie, halb uneingestanden. Aber ich? – Kaum ist die Niederlage in Sicht – schon bin ich für Kampf. Gayle Tufts, die sich als Flucht nach vorn ‚Miss Amerika‘ nennt. Herostrat, der den Tempel abgefackelt hatte, weil er kein anderes Talent besaß, das ihn unsterblich gemacht hätte. – Ein kleiner Junge, der keine Schiffe zeichnen kann und aus der Reihe tanzt, um trotzdem auf sich aufmerksam zu machen: mit einer Benennung. Aufmerksamkeit als erzwungene Zur-Kenntnisnahme dort, wo Bewunderung nicht zu erzielen ist. Schreihals! Hanswurst! Egonna Amalia Pumpernickel: ein Wrack, aber kein namenloses. Benennungen schaffen Strukturen. Häuser, Straßen, Orte, Länder. Strukturen bilden: Gemeinschaften aus Menschen; aber auch Strukturen aus Bildern, aus Klängen, aus Worten. Worte. Worte. Worte wie Wachs, die sich dehnen, die wachsen und immer weiter wachsen – wie Berlin: in die Asche, aus der Asche. Verstümmelt und wuchernd: von der Mitte über Schmargendorf hinaus in die Welt – und wieder zurück: nicht verarmt, sondern bereichert.
Nur bisher Ungesagtes sagen … Und bisher Ungelebtes leben. Immer noch wachsen. Schaff es! Wachs! Das ist die Hoffnung. Ich werd’ wohl dran glauben müssen. Und ihr auch.

Hanno
15.10.2000

20 Kommentare zu “#2.58 | Die abgebrannte Kerze

  1. Ahh ja, irgendetwas, das einen daran hindert, anderen zu zeigen, dass man an sie gedacht hat, findet sich immer. Man sollte ja wirklich viel öfters versuchen, diese Dinge aus dem Weg zu schaffen.

      1. Wichtig ist nicht, dass das Geschenk mir gefällt. Der oder die Beschenkte soll sich gemeint fühlen. Da muss man sich in den Bereichen Blumen und Pralinen schon etwas anstrengen. Spargelkraut und Ingerstäbchen sind nicht jederfraus Sache.

      2. Ich mag aber trotzdem immer, wenn das beides zusammen kommt. Wenn ich Zeit habe versuche ich immer etwas zu finden, über das sich die Person wirklich freut, ich mich beim Kauf aber ebenso freuen kann.

    1. Laut BILD-Zeitung gab es Weihnachten vietnamesische Pho Bo bei Scholzens. Ich hätte was langweiligeres erwartet.

      1. Interessant! In Vietnam isst man das zum Frühstück, aber da gab’s bei Kanzlers doch hoffentlich einheimischen Stollen. Das Ehepaar Scholz saß hier in Meran mal neben mir im ‚Laubenkeller‘. Ich darf ausplaudern: Er verlangte nicht nach Asiatischem, sondern wählte aus der Karte.

  2. Vielen Dank für diesen Einblick in Ihre Berlin-Reise! Ich habe mich wie immer amüsiert. Und dran glauben müssen wir wohl alle. Das ist keine Frage.

      1. Oh wunderbar! Ich schließe mich an und warte mit Vorfreude auf die nächsten Erlebnisse!

  3. Jetzt ist es zwar noch nicht Herbst, aber mir rennen die Tage trotzdem schon wieder davon. Ich könnte ein paar extra Tage im Monat gebrauchen.

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