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2. Berlin-Reise / 2000

#2.23 | Wassermelone

Nach dem obligatorischen Nachmittagsschlaf banden wir uns Krawatten um den Hals und traten die Fahrt nach Zehlendorf an. Mir fiel ein, dass wir es verabsäumt hatten, ein Gastgeschenk zu kaufen. Allerdings war unser Ausflug auch nicht sehr mitbringselfreudig gewesen. Buttercremetorte vom Tegeler See? Kornblumen aus Lübars? Ich sprang am Thälmannplatz aus dem Auto. Eigentlich wollte ich im Supermarkt einen Wein kaufen, aber die Freitagabendschlange an der Kasse schreckte mich ab. Blumen gab es nicht, dafür einen Gemüsestand. Ich griff eine riesige Wassermelone, ein wirklich blödes Geschenk, aber wir waren spät dran, es war heiß, Wassermelonen sind schön schwer und dekorativer als eine Tüte Pflaumen. Vom Potsdamer Platz ließen wir uns nicht in die Falle locken, sondern fuhren gleich zum Landwehrkanal. Als das entsprechende Stadtteilschild kam, repetierte Giuseppe unaufgefordert, wenn auch leicht fragend, was ich ihm beigebracht hatte: „Das war in Schöneberg, im Monat Mai?“ Steglitz kannten wir schon. Ich benutzte mein Handy zum dritten Mal in Berlin, um Marina zu fragen, ob wir rechts oder links in die Hochbaumstraße einbiegen sollten. Dann begann der erste Abend ohne Restaurant, sodass man nichts Giuseppe rüberschieben oder stehen lassen konnte. Und das ohne Wein!

Marina führte uns auf die Terrasse. Florian, ihr Mann und mein eine Cousin-Ecke weiter verwandter Cousin Hanno mit Frau tranken bereits Champagner. Ich kannte sie noch nicht. Personenbeschreibung: zierlich-zart, trotzdem sportlich-spontan, große Augen, kurzes Haar. Lebhaft-wach. Ihn hatte ich nur einmal in Hamburg gesehen, da waren wir jünger gewesen, viel jünger. Nach den Umarmungen mit Marina und Florian begrüßten wir uns etwas linkisch per Handschlag.
Der Garten ist schön strukturiert, üppige und flache Teile wechseln einander ab. Das Haus ist großbürgerlich eingerichtet: Die Ahnen hängen an der Wand, und die Sofas bleiben auf dem Teppich. Vom Typ her sind Marina und ich die schwatzhafteren, Florian und Giuseppe die stilleren. Man denkt dann automatisch, dass die Nachdenklichkeit dementsprechend verteilt sei: Wie seicht sind bewegte Wasser?
Die anderen tranken nach dem Champagner Weißwein und nach dem Essen Obstler aus ihrem Skidorf am Vorarlberg. Ich blieb bei Wasser. Es geht, aber Spaß macht es nicht.
Marina hatte einen großen Mittelmeerfisch im Ofen kunstvoll zubereitet. Ich genoss die – extra auf mich abgestellte – leichte Küche. Wenn ich mit meinen Eltern früher ins Restaurant mitdurfte oder wir, weil mein Vater dabei war, in einem besseren Hotel wohnten als jene, in denen meine Mutter mit mir die Schulferien absaß, dann kamen silbrige Schüsseln mit Deckeln auf den Tisch oder Beistelltisch; in ihnen befanden sich Gemüse und Kartoffeln. Auf einer Platte ruhte das Fleisch. So ging es hier auch zu. Diese Arbeit macht sich die Gastronomie schon lange nicht mehr. Alles wird auf einen Teller draufgelegt, bis er mäßig voll ist, und dann zu Tode dekoriert. Die alberne Sitte, eine Haube zu lüpfen, ist etwas aus der Mode gekommen, schlimm genug, dass etwas vor einem aufgebaut wird, wovon man mindestens die Hälfte nicht essen will. Ich brauche keine ungenießbaren Erdbeeren am Tellerrand und keine Füllsel, die willkürlich Prinzess-, Königin- oder Kaiserinnen-Tomaten heißen. Soße gehört in die Terrine, nicht als Lache auf den Teller, eine Tunke, in der alles untergeht, was ich eigentlich hatte essen wollen.
Marina teilte so viel aus, wie man wollte und nur von dem, was man wollte. Das nimmt den Speisen das Beklemmende. Aber da bin ich wohl die Ausnahme. Wenn ich Menschen an Büfetts beobachte, dann gilt der Oberbegriff ‚reichlich‘. Auch Vielfalt ist mir zuwider. Ich bin immer lieber mit einem nur flach bedeckten Teller voller Räucherlachs (wild und norwegisch) zu meinem Platz zwischen netten Leuten zurückgekehrt, als eine Scheibe Lachs einzukeilen zwischen Ruinen aus Waldorf-Salat, Hasenpastete und Lasagne. Wenn man den Mut hat, sich so bedeckt zu halten, dann kommt auch kein so schlechtes Gewissen auf, dass jenseits dieses Büfetts die Menschen hungern oder auf McDonald’s angewiesen sind. Im Übrigen hasse ich Büfetts und Zynismen.
Wir sprachen über alles, was in der Zeitung steht: Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur und natürlich Wetter. Klar, dass ich zu den einzelnen Rubriken unterschiedlich viel zu sagen hatte. Beim Austausch von Einzelheiten aus dem Grunewald und dem Kleist-Casino blieben Marina und ich überlegene Sieger. Dafür konnten wir weniger über Stadtrandbebauung und Betonmischverfahren beitragen. Es war also alles sehr ausgewogen. Die Bestecke waren alt, die Servietten gestärkt und die Gläser geschliffen. Dafür waren Giuseppe und ich mehr rumgekommen: Keiner sonst am Tisch war schon mal am Tegeler See gewesen. Auf dem Rückweg konnte Giuseppe sogar schon sagen: „Ein kleines Mädelchen war auch dabei. Das hat den Buben oft und gern geküsst …“ – Ruf an: 0711 45 – Sex! 45 – Sex! – „Wie das in Schöneberg so übich?“ – „Üblich!“ – „… So üblich ist.“

Video (‚Das war in Schöneberg‘, Gesang: Marlene Dietrich, Musik: Walter Kollo, Text: Rudolph Schanzer): MarleneXtreme2 | Titelbild mit Material von Shutterstock: Heide Pinkall (Haus, li.), ArTono (Haus, re.), Superheang168 (Wassermelone) und Fridolin freudenfett (Peter Kuley)/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 (Straße)

Hanno Rinke Rundbrief

40 Kommentare zu “#2.23 | Wassermelone

  1. Auf McDonald’s angewiesen zu sein … bzw. ganz allgemein hungern zu müssen … es muss ganz schrecklich sein.

    1. Ich denke bei den Nachrichten aus der Ukraine immer wieder wie gut es uns hier geht. Unglaublich wie schnell viele Menschen dort alles verloren haben.

      1. Wenn sie den Angriff überhaupt überlebt haben! Es ist doch schlicht unglaublich wie viele Zivilisten schon ihr Leben lassen mussten.

      2. Und genau darauf scheint es Putin anzulegen. Die Ukrainer langsam aber sicher mürbe zu machen.

      3. Und Scholz macht einen so wahnsinnig unentschlossenen Eindruck. Im Gegensatz zu Merkel beunruhigt mich die Zögerlichkeit.

      4. Ich beneide die Politiker nicht um die Entscheidungen, die da getroffen werden müssen. Aber einfach abzuwarten bringt sicher keine Lösung. Putin scheint zumindest auf zeit zu setzen.

      1. Mein letzter McDonald’s-Besuch hat mich geekelt. Aber es kann auch einfach sein, dass ich für sowas mittlerweile zu alt bin.

      2. Wie war das noch? Ein Paar aus Illinois hat neulich eine Schachtel Pommes aus den 50ern gefunden?! Immer noch knackig. Na dann…

      3. Uralte Fritten sind wohlschmeckender als drei Tage altes Hack, zumal es in den Wintern ab 1950 in Illinois oft unter 10 Grad minus hatte (Celsius).

  2. Marlene geht ja immer 😉 Unglaublich wie sehr sich Berlin in letzter Zeit verändert hat. Ob Marlene die Stadt noch als die ihre wiedererkennen würde?

  3. Büffets sind in den meisten Fällen recht geschmacklos. Zumindest was die Atmosphäre angeht. Überfluss ist eben nicht immer sexy.

      1. Eine Verallgemeinerung scheint mir unmöglich. Ich kenne üppige und popelige Buffets, appetitanregende und appetitverschlagende Schanktische. Ich selbst lasse mir allerdings lieber servieren.

      2. Es kommt wohl auch ein wenig darauf an, ob wir vom All u can eat Restaurant reden oder von einer gediegenen Feier.

      3. Ich habe schon sehr tolle Buffets erlebt. Was mir eine größere Problematik zu sein scheint, ist dass bei solchen Anlässen oft viel zu viel Essen übrig bleibt und im Müll landet.

      4. Auf meiner einzigen Kreuzfahrt (als Unterhaltungsprogramm, nicht als Tourist) war ich entsetzt, was auf den Tellern liegen blieb. Gier siegt über Anstand.

  4. Die Haube mag in der Tat ein wenig albern sein, aber seit dieser Trend von ‚lauwarmen‘ Gerichten in vielen ‚angesagten‘ Lokalen in zu sein scheint, sehne ich mich ein bisschen danach zurück.

    1. Ich weiss nicht. Moderner muss weder besser noch schlechter heißen. Aber die Küche entwickelt sich, wie alles andere, natürlich immer weiter. Verschiedene Stile, wo eigentlich jeder etwas finden sollte, das ihm schmeckt, wird es doch trotzdem immer geben.

      1. Die Wassermelone sollte auch eiskalt sein. Aber sie verdirbt immerhin etwas langsamer als die Austern.

  5. Mittlerweile geht der Trend (zum Glück!) ja wieder dahin deutlich weniger zu dekorieren und auch Gerichte anzubieten, bei denen man die Zutaten noch erkennen und erschmecken kann. Den Eindruck hatte ich zuletzt jedenfalls in einigen guten Restaurants.

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