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2. Berlin-Reise / 2000

#2.06 | Bedienstete beschummeln

Freitag, 30. Juni

Ich hatte am Vortag so diszipliniert gesoffen und so früh das Hotelzimmer aufgesucht, dass ich mich imstande fühlte, Aurehls als Fremdenführer für Giuseppe abzulösen. Vorher hatte ich allerdings noch einige Erledigungen zu verrichten, die vielleicht besser unbeschrieben blieben, was jedoch meiner zu Anfang aufgestellten Grundregel widerspräche, über bisher ungesagte Wahrheiten zu berichten. Die Wahrheit war, dass ich in der Nacht so etwas gespürt, dem aber keinerlei Bedeutung beigemessen hatte. – Dies ließ sich bei Licht besehen so nicht aufrechterhalten. Das, was mir nachts etwas feucht und farblos vorgekommen war, entpuppte sich am Morgen als zwei Hand breiter brauner Fleck. Schon seit längerer Zeit habe ich Magen-Darm-Probleme, ich mache sie aber nur ungern offenkundig.
Als Erstes versuchte ich das, was ich immer probiere, wenn etwas unerträglich ist: Aufwachen. In 90 Prozent der Fälle hilft das. Diesmal klappte es nicht. Ich lege wegen des von ägyptischer Erde trotz peinlicher Gesichtswaschungen stets braun befleckte Handtuch und meinen Schminkkasten zur Richtigstellung offen auf den Rand des Waschbeckens, wenn die Handtücher so weiß sind wie in den ‚Madison City Suites‘. In den wenigen Hotels, in denen ich braune Handtücher vorfinde, verstecke ich die weibische ägyptische Erde natürlich schamvoll unter Tuben in meinem Necessaire, bevor ich es mit seinem Reißverschluss verschließe und hinter dem Duschvorhang verberge. Jeder, der also mein gebräuntes weißes Handtuch sieht, weiß demnach gleich: Aha, hier hält jemand auf Körperpflege und achtet darauf, sich seinen Mitmenschen nur so zuzumuten, wie er meint, dass sie ihn ertragen können. Diese Methode ließ sich bei meinem Bettlaken nur in abgewandelter Form anwenden, während Giuseppe im Wohnzimmer die Morgenzeitung studierte, was nicht bedeutet, dass er sie regelrecht las.
Ich zerrte das riesige Laken von der Matratze und stopfte es mit vertauschtem Ober- und Unterende sorgfältig wieder zurück. Der braune Fleck befand sich nun nach einiger Manipulation oben rechts, und ich konnte listig das Zweitkopfkissen, das nicht benutzt war, weil ich links (vom Fenster weg) geschlafen hatte, über die inkriminierende Stelle legen. Auf den Nachttisch stellte ich ein halb volles Glas mit verdünntem Kamillosan, das farblich dem unter dem Kissen verborgenen Fleck durchaus nahekam. Das Problem war nur, dass auf der rechten, befleckten Seite kein Nachttisch stand. Ich hätte gerne den schweren Nachttisch ums Bett herum von der linken auf die rechte Seite gewuchtet, aber das wäre, schon wegen des dadurch entstehenden Lärms, Giuseppe aufgefallen, dem deutsche Zeitungen zweifellos geringeren Aufschluss gaben als prankengroße Flecken auf Bettlaken. Mir blieb also nichts weiter übrig, als zu hoffen, dass die Idee, ein Glas mit verdünntem Kamillenextrakt nicht links auf den Nachttisch zu stellen, sondern rechts neben sich auf die Matratze, wo es umgekippt war, aus Sicht des Stubenmädchens weniger befremdlich war, als die, ins Bett zu scheißen.

Als Vierer-Trupp gingen wir die Wilhelmstraße entlang. Bei jedem Plattenbau auf der linken Seite wies ich nicht nur auf Margot hin, sondern auch auf Ministerien, die Reichskanzlei und den Führerbunker. Jeder Hausnummer wies ich eine bestimmte Funktion zu; ich fand, das wirkte entschlossener, als wenn ich vage nur gesagt hätte: Irgendwo hier waren zahlreiche Ministerien und andere öffentliche Gebäude, bevor sie zerstört, abgetragen und durch Wohnblocks ersetzt wurden.
Wer Geschichte machen will, räumt oft Geschichte weg. Das war schon bei Alexander dem Großen und Caesar so. Statt eines überflüssigen Artemis-Tempels baute man dann eben ein Mausoleum für den Be-Herrscher. Auf das Areal, das die Machtzentrale der Nazi-Herrschaft darstellte, Sozialwohnungen für verdiente Genossen mit Blick auf die Mauer und den Tiergarten zu setzen, passt genauso gut ins Verständnis der DDR, wie das barocke Schloss des ersten preußischen Königs abzureißen, um Platz für Aufmärsche zu schaffen: nicht ein Schloss für den Adel, sondern einen Ort für die Massen, ‚[…] auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden können‘1. Aus der hehren Idee wurde aber nix. Bloß an jedem 1. Mai fanden Volks-‚Kundgebungen‘ statt. Dann winkten die Elite-Genossen den vorbeimarschierenden Werktätigen und Panzern von ihrer Ehrentribüne aus zu. Das war’s. Mit zunehmendem Wohlstand, auch der DDR-Bevölkerung, wurden auf der freien Fläche Trabis geparkt. Als Wohlstand und die Anzahl der Trabis noch weiterwuchsen, wurde die Parkfläche teilweise beschnitten, zugunsten des Asbestpalastes der Republik.
Ein paar Schritte nach Westen, und man ist im amerikanischen Sektor. Dort ist man geschichtsbewusster vorgegangen und hat die zur Gestapo gehörenden Keller, in denen, als Ausweitung der Macht von der Wilhelmstraße her, gefoltert wurde, offengelegt und als ‚Topographie des Terrors‘ zur Besichtigung freigegeben. Die meisten Besucher haben denselben freudigen Grusel im Gesicht wie Touristen in den Folterkammern mittelalterlicher Schlösser – sie sind in solchen Burgen immer die bestbesuchten Räume. Rechtwinklig dazu verläuft im Osten die Wilhelmstraße, die in dem von uns soeben abgeschrittenen DDR-Teil bis zur Wiedervereinigung der Stadt Otto-Grotewohl-Straße hieß. Grotewohl hat zweifellos weniger Schaden angerichtet als Wilhelm, insofern steht ihm keine eigene Straße mehr zu. Außerdem gehört es sich nicht für eine Hauptstadt Berlin, dass die Wilhelmstraße – direkt an der ehemaligen Mauer! – plötzlich nach einem SED-Funktionär benannt wird, bevor sie, vorbei an den Plattenbauten als Ersatz für die Reichskanzlei, 800 Meter weiter in den Pariser Platz mündet. Blamabel?

Die Gestapo-Keller laufen auf das in den frühen Vierzigerjahren ähnlichen Zwecken unterworfene Prinz-Albrecht-Palais zu, das schon seit geraumer Zeit unter dem Namen ‚Martin-Gropius-Bau‘ firmiert und seit es 1979 mit einer Preußen-Ausstellung wiedereröffnet wurde, als Vielzweck-Museum dient. Früher musste man das Gebäude über die Hintertreppe betreten, weil unmittelbar an der Vorderfront die Mauer verlief. Das war nun für einen Eingeweihten – unter uns vieren also nur mich – ein erhebendes Gefühl, erstmals die repräsentative Fronttreppe emporzuschreiten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht mauerlos der kunstsinnig restaurierte Preußische Landtag, der viel deutsche Geschichte spiegelt: erst eben Preußischer Landtag beider Kammern, 1918: Gründungsveranstaltung der KPD. 1933: NSDAP wird nach Landtagswahlen stärkste Partei; im Mai: letzte Tagung des Preußischen Abgeordnetenhauses. 1937: von Göring zum ‚Haus der Flieger‘ umgebaut. Wegen Standort im Sperrgebiet der DDR keine Nutzung bis zum Mauerfall, jetzt Abgeordnetenhaus von Berlin. All das hat ja inzwischen im vorigen Jahrhundert stattgefunden, was der Sache so was bedeutsam Historisches gibt. Ich konnte mich gar nicht losreißen von dem Anblick. Dann verschlug es uns ins Düster der ‚Sieben Hügel‘. Ein ungeheurer Mummenschanz. Was da alles, spärlich beleuchtet, zusammengekramt worden ist! Nichts Chrono- oder sonst wie Logisches, aber Freitreppen wetteifern mit gläsernen Fahrstühlen, alles ein bisschen wie Inventur im Lafayette bei Stromsperre. Der Verzicht auf pädagogische Gewichtung ist ein Trick der Veranstalter. Wäre zum Beispiel (was nicht der Fall ist) eines der sieben Themen ‚Heldentum‘, so würde in den Räumen unter diesem Oberbegriff Folgendes zu finden sein: ein zerfetztes T-Shirt mit der Aufschrift: ‚I Love Foreigners‘, ein Gesteinsbrocken von Troja, eine Nickelbrille aus Stalingrad, Delacroix’ ‚Floß der Medusa‘, eine Partiturseite der ‚Eroica‘, Siegfrieds Sandalen von der Uraufführung der ‚Götterdämmerung‘, die Endlosschleife einer Filmszene aus ‚Helden‘ mit Liselotte Pulver und O. W. Fischer auf Video und die Taschenbuchausgabe von Thomas Brussigs DDR-Bestseller, alles punktstrahlermäßig effektvoll angeleuchtet. Ist das nicht modern? Wie Gitte 1967.

(Im Lied ‚Aber heimlich‘ bei 2:06)

Video: Gitte (Henning): ‚Aber heimlich‘, EMI Columbia, lizenziert an YouTube durch UMG (im Auftrag von Electrola); Polaris Hub AB und 2 musikalische Verwertungsgesellschaften | Titelgrafik mit Material von: Bundesarchiv, Bild 183-V04744 / CC BY-SA 3.0 (Garten der zerstörten Reichskanzlei), Marco van Oel/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0 (Gedenkstätte Topographie des Terrors), Jean-Pierre Dalbéra/Wikimedia Commons, CC BY 2.0 (Wohnblock Wilhelmstraße), Jensens/Wikimedia Commons/gemeinfrei (Martin-Gropius-Bau), artcasta (Schminkdose)

Hanno Rinke Rundbrief

33 Kommentare zu “#2.06 | Bedienstete beschummeln

    1. Das ist nur in Amerika und auch nur unter leicht zu beeinflussenden Q-Anhängern so. Dass eine davon aber tatsächlich im Repräsentantenhaus sitzt und einen Wahlkreis vertritt ist allerdings nach wie vor unglaublich. Man sollte ja meinen, dass der großen alten republikanischen Partei so etwas peinlich ist.

  1. Oh diese ägyptische Erde hatte in den 90ern ja einen massiven Boom. Ob das Zeug heute noch jemand benutzt?

    1. Diese Antwort bezog sich auf „Gazpacho“, nicht auf Clara Bernauer. Ich fand Ägyptische Erde damals sehr schmückend. Und sehr (Wäsche) färbend! Heute stehe ich zu meiner Blässe.

  2. Nein! 😱 Ich hatte schon einige unangenehme Momente mit dem Service in Hotelzimmern. Magen-Darm-Leiden waren noch nicht dabei.

      1. Ein kleines Tabu und manchmal eine große Scham. Aber warum soll man über solche Sachen eigentlich nicht sprechen? Passieren kann das jedem.

  3. Die Topographie des Terrors müsste ich mir eigentlich auch einmal anschauen. Ich war bisher nur nebenan im Martin Gropius Bau.

      1. So geht es einem ja auch manchmal in den KZ-Gesenkstätten. Ich finde das immer eine sehr schmalen Gratwanderung.

  4. Eine Aufnahme von Bowies Heroes fehlt in der Heldentum-Sammlung noch. Schließlich sind wir in Berlin und Bowie ist doch ein Kind der Stadt.

      1. Aber nicht Flashback genug. Der Clip ist von 1974. Das dumme Lied ist von 1968. ‚Die steht da und sagt das, was sie fühlt und denkt.‘ Das war schon damals unerträglich altmodisch. Außerdem fehlt bei dem Video der erste Ton im Bass. Das geht nun gar nicht!

      2. Ich habe auch kurz reingeschaut und fand sie wahnsinnig steif. Dabei waren die Siebziger doch genau das Gegenteil davon.

      1. So weit ich mich erinnere, wurde dauernd frisch bezogen. Handtücher wurden ausgetauscht, wenn man sie auf den Boden warf. (Umweltfreundlich und personalsparend)

  5. Die neue Geschichte räumt die alte weg, klar, Neues ersetzt eben Altes. Manchmal ändert natürlich auch einfach die Sicht auf die Dinge und ‚alte‘ Zusammenhänge werden in neuem Licht betrachtet.

    1. Seit dem vorigen Jahrhundert versuchen wir doch eher das Alte zu bewahren: ausgraben oder restaurieren und ins Museum zu stellen. Die Taliban und Putin sehen das natürlich anders.

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