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2. Berlin-Reise / 2000

#2.51 | Die Geschlechterrolle im 21. Jh.

Freitag, 28. Juli

Wenn es gar nichts mehr zu verträumen gibt, steht man eben auf. Gegen halb zwölf ist das kein Beinbruch: hochgehinkt! Der nächste Abend kommt bestimmt. Falls man noch nicht zu Eigenem aufgelegt oder -gestanden ist, dann kann man in der Zeitung blättern, die allmorgendlich im Plastikbeutel über dem Schild ‚Bitte nicht stören!‘ hängt und es verdeckt. Glücklicherweise muss ich gegen neun pinkeln (ohne Rasur) und nehme (nicht gleichzeitig) die Zeitung vom Knauf. Nur manchmal sieht mich dann ein Hotelgast nackt. In jedem Fall sieht das Mädchen dann anschließend wieder ‚Pst!‘. Einmal vergaß ich die Zeitung, da sah sie mich nackt. Gehen viele Gäste weg und lassen die Zeitung hängen?
Ich lese. Über die Generation nach mir. Gegenüber den Vorurteilen anderer bin ich sehr aufgeschlossen: Sie bestätigen mich in meinen eigenen.
Es gebe wohl so etwas wie ‚einmal Zehlendorfer, immer Zehlendorfer‘, meint Rufus Pichler. Allenfalls würden einige noch nach Charlottenburg ziehen. Bindungen aus der Teenagerzeit, mit Partys am nahen Wannsee oder Nikolassee, würden später durch die ‚Drähte der Eltern‘ ergänzt, die bei der Jobsuche hülfen.
Ich denke an meine Kindheit und an meine Haferflockensuppe. Hunger?
‚Leistung wird verlangt, die will ich bringen, auch Karriere machen‘, sagt Ulrike Schäfer, Wende-Abiturientin aus Ostberlin. Ihre Westberliner Altersgenossin Julia Bezzenberger klingt wie das Echo: ‚Kaum einer von uns studiert was Brotloses, fast alle etwas, womit man Geld verdienen kann.‘
‚Wenn sich die Kinder der Einheit als ein Volk fühlen‘, steht da, ‚dann vor allem als Mitglieder einer modernen Leistungsgesellschaft mit hoher Selbstanforderung.‘ – ‚Fleiß, Ordnung, Zuverlässigkeit sind mir wichtig‘, sagt der Ostberliner Oliver Abt. ‚Das sind Werte, die man auch anderswo mit Deutschland verbindet.‘ – ‚1990 oder 2000?‘, frage ich mich. ‚Viele junge Deutsche stoßen sich vor allem an der Unbeweglichkeit der heimischen Verhältnisse.‘
Ich lege die Zeitung auf den Glastisch und stoße mir den kleinsten meiner Zehen an dem vom gestrigen Abend verrückten Sessel. Wann werde ich Nicht-Achtundsechziger es endlich lernen, meine vorpreschenden Bewegungsstörungen ‚Forschheit‘ zu nennen? Halb wahnsinnig vor Aufgeschlossenheit renne ich die Friedrichstraße runter bis zu Dussmanns Kulturkaufhaus: Wer Gitte hat, hat für jeden etwas. Ich wühle in Bestsellern und Worstsellern. Jedes Buch empfinde ich schon durch seine Anwesenheit als Affront, sodass ich viel zum Ärgern habe. Nicht mal Kochbücher und Cartoons können mich besänftigen. Dussmann anzünden? – Der Herostrat in mir …
Meine Hassfluchten führen mich die Rolltreppe rauf – und niemand, den ich unterwegs anrempeln kann. Bei den CDs bin ich noch hilfloser. Oldies – hab’ ich alles; Newies – kenn’ ich nicht; Klassik – will ich nicht. Trotzdem grabble ich die Stapel pflichtschuldig durch und geh’ dann über zu den DVDs. Das macht Spaß. Von ‚Abendanzug‘ bis ‚Zwölf Uhr mittags‘ forste ich gründlich: Was lohnte es sich, digital zu besitzen? Ich kaufe nicht, ich werte. Dorothee wird stolz sein auf mich. Mit ihr und ihrer besten Freundin Mirella aus Milano bin ich um dreizehn Uhr in der Halle des ‚Hilton‘ am Gendarmenmarkt verabredet. Ich komme zwei Minuten zu spät, die beiden Damen vier; Dorothee ist dementsprechend zerknirscht. „Du musstest warten“, sagt sie.
„Das macht doch nichts“, antworte ich, in meiner Stimme schwingt das tapfere Ausharren von mindestens einer halben Stunde.
Wir gehen hinüber zu ‚Lutter & Wegner‘ und verweben dabei die Sprache wie Gayle Tufts, nur dass sie das mit Deutsch und Englisch macht, während wir Deutsch und Italienisch mischen. Mirella ist mit einem Deutschen verheiratet und hat lange Zeit in Stuttgart gelebt. Ich hatte, bevor ich bei Dussmann kramen ging, auf Dorothees Bitte einen Tisch für uns reserviert, auf der Straße, unter der Markise, die nur wenige Plätze schützt. So hoffte ich, die Vorzüge von Küche, Wetter und Ambiente zu vereinen. Die Damen lobten meine Umsicht und setzten sich.
Mirella ist nicht nur Signora, sondern auch im deutschen, (Lil) Dagover’schen Wortsinn Dame, aber eine moderne Dame, falls es das gibt. Bei Mirella bekommt man jedenfalls Lust, sie kennenzulernen, ohne die Lüsternheit zu verspüren, ihr nach den biografischen Kittstellen oder den kosmetischen Raffungen zu trachten. ‚Damen-Dekuvrieren‘, ein Gesellschaftsspiel des vorigen Jahrhunderts: The Lady is a Tramp. Als die Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau noch konsequenter als zuvor auf Rundungen zu verzichten begann, schaffte die Gesellschaft nach und nach das Leitbild der Dame, die nie aneckt, ab. Die deutsche Teilung war daran nicht schuld, zeigte aber Konsequenzen: Im Westen machte sich das aus den USA importierte Pin-up-Girl breit, seine Brüste wurden ‚Kurven‘ genannt. Es war kein Ideal, aber ein Phänomen. Im Osten war die Frau weder Hure noch Dame, sondern Genossin, ein lustloses Ideal wie die Ufa ohne Zarah Leander. Die Geburtenrate ging nachweislich von Jahr zu Jahr zurück.
Margot Honecker verbot es sich aus taktischen Gründen, als Dame bezeichnet werden zu wollen; Loki Schmidt (gewollt) und Hannelore Kohl (ungewollt) hatten das, was eine Dame ausmacht, nicht auf der Palette. In anderen europäischen Ländern strotzt es immer noch von Mesdames, Senoras und Ladys. Die deutsche Dame hatte es immer schwerer. Es gab ja nie Dame Meier, sondern nur Frau Meier, so wie ‚Mensch Meier‘; wohl aber gab es Herrn Meier. ‚Mann!‘ lässt sich ausrufen, ‚Frau!‘ nicht.
Die Marktfrauen am Halensee nannten meine Mutter noch ‚Meine Dame‘, was ich als Sechsjähriger sehr interessant fand, wenn ich mit ihr vormittags Mohrrüben (oft) oder Bücklinge (selten) kaufen ging: MEINE Mutter war DEREN Dame! Für den Ober im ‚Kempinski‘ war sie bloß eine Frau, wenn auch eine gnädige. Das, fand ich, war sie bei mir eher nicht, sie ließ doch meist Recht vor Gnade ergehen, wenn sie meine Schränke oder Hausaufgaben inspizierte. Aber sie war gut zu mir. Gute Frau, gnädige Frau – alles weg. Neandertaler – Raubritter – Dame: ausgestorbene Existenzformen. Selbst die Dame ohne Unterleib gibt es nur noch im Zitat, streng genommen war sie auch zu ihren Glanzzeiten allenfalls eine Frau. Sogar die Transvestiten imitieren längst lieber den schlampigen Typus – die Typa? – als die Damen mit Föhnfrisuren und riesigen Hüten. Eine Dame wurde geachtet, weil sie eine Dame war. Eine Frau bekommt Anerkennung, wenn sie etwas geleistet hat. Die Dame zog wirkungsvoll die Fäden. Die Frau hat kämpferisch ihre Gleichberechtigung durchgesetzt. Die Brokerin aus dem Westen und die Kombinatsleiterin aus dem Osten haben sich und ihre Tugenden vereint: verantwortungsbewusst, karrierebewusst, selbstbewusst – das Weib von Welt, die gnadenlose Frau. Gut so! Und gut, dass es, außer in der Wirklichkeit, das Frauchen nicht mehr gibt. Fräuleins gibt es ja erst recht nicht mehr, nicht mal beim denkmalgeschützten ‚Kranzler‘ am Ku’damm. Die Victoria-Versicherung ist dazu verdonnert, den verspielten Bau in ihren neuen Großklotz mit einzubeziehen: Petticoat-Pietät. Ursprünglich war ‚Kranzler‘ der Abschluss eines gestuften Dreier-Ensembles, das nicht nach meinem Geschmack war, warum auch, aber es ergab Sinn. Dass nun noch dieses verlorene Servierfräulein im Aktionärsgiganten als Feigenblatt-Rüschenhäubchen stehen zu bleiben hat, ist nicht nur halbherzig, sondern herzlos, aber bitte! Aber bitte mit Sahne! So können Spätrentner im unangetasteten Fünfziger-Jahre-Schick immer noch ‚Hallo, Fräulein!‘ rufen oder ‚Heil Hitler‘ denken. Ich dürfte auch schon die Narrenfreiheit derer, die nicht mehr zählen, genießen und tue es zum Teil. Da versenden die Medienberater für die 14-bis-49-Jährigen unablässig den Werbespot – www.berlin.de: total hip, ein unbeirrbares Hier-is-wat-los-Event –, und ich sentimentale Ziellosgruppe verplempere jede Menge Herzblut an unbeworbene Emotionsträger: Sacrow, Köpenick, Glienicke – nicht der Schreibe wert. Aber meinen Stolz beziehungsweise meine Angepasstheit hab’ ich doch: Nach schmächtigen Zwanzigjährigen mit Tablett rufe ich, ohne mit dem Stimmband zu zucken: ‚Herr Ober!‘ Aber ‚Fräulein, die Karte!‘? – Bei einer Serviererin, die nicht serviert, kann man nur ‚Entschuldigung!!‘ brüllen, warten oder gehen. Manchmal fuchtele ich auch mit erhobener Hand in der Luft rum, als müsse ich rasch Nagellack trocknen, dieser undeutsche Gruß wird aber nur selten wahrgenommen.

Menschen, die man nicht ansprechen kann, stellen ein Problem für die eigene Autorität dar. Wenn ich dagegen sagen kann: ‚Herr Stationsvorsteher‘ oder ‚Mutter Oberin‘, dann mache ich mich selbst auch souverän. ‚Herr Generaldirektor‘, ‚Genosse Staatsratsvorsitzender‘ – wem das glatt über die Lippen ging, der war fein raus. Ganz unerträglich sind solche Personen, die zwar einen Namen haben, man weiß ihn bloß nicht, müsste ihn aber wissen und soll sie womöglich jemandem vorstellen. Da hilft nicht einmal ‚Darf ich bekannt machen, das ist die gnädige Frau.‘ Ich habe einmal fluchtartig Bernsteins Garderobe verlassen, weil einer der Pekinel-Zwillinge, mit denen ich schon mehrere Klavieraufnahmen produziert hatte, mit dem Maestro bekannt gemacht werden sollte, und ich wusste nicht, ob es sich bei der jungen Dame um Güher oder um Süher handelte; ich traute mich schlappschwänzigerweise nicht, sie zu fragen: Welche von euch beiden Mädels bist du denn eigentlich?

Namen sind wichtig. Sie begleiten uns durchs Leben. Manche fürchten das Omen des Nomen so sehr, dass sie sich ins Pseudonym alias ‚Anonym‘ flüchten. Ich habe Namen als Liebkosung benutzt und als Waffe eingesetzt, um Gegner lächerlich zu machen. So taufte ich Schwächling fünf Jahre nach Egonna Amalia Pumpernickel den prügelstarken Hartwig Hensel in ‚Hartwig Gretel‘ um. Er war beschädigt. Und Herr Doktor Holthusen, der es wagte, mir eine Fünf in Biologie zukommen zu lassen, weil ich über die Feuerleiter am Schulgebäude besser Bescheid wusste als über – von ihm nach untenrum befragt – ‚die Eierleiter‘, wie ich sie nannte, am Gebärmutterkörper; dieser Herr Doktor Holthusen musste es ertragen, den Rest seiner Studienratslaufbahn – von Klasse zu Klasse überliefert – als ‚Doktor Holzbusen‘ fortzusetzen. Sein Physik-Lehrkörperkollege (auch ein Horror-Fach) hatte ein Holzbein, und er sah nicht so aus, als ob er oberhalb dessen Eier hätte, die etwas leiteten, um irgendwelche erotischen Stromkreise zu schließen. Als meine kaskadeartigen Gedankenfluten angesichts von Mirellas Mailänder Damenhaftigkeit bis zu diesem Komma gesprudelt waren, kamen drei Speisekarten in der Hand eines blassblonden Mannes, den ich ohne mit der Wimper zu zucken ‚Herr Ober‘ nennen würde, ahnend, dass seine Freunde noch ganz andere Bezeichnungen für diesen mädchenhaften Lutter-&-Wegner-Kellner parat hätten: ‚Schwester Martin‘ vielleicht, oder ‚die Wegnersche‘. Tunten sind auch altmodisch, sonst nennt man sie anders.
Mirella wollte nur ‚una Piccolezza‘ essen, die sicher noch weniger zu sein brauchte als Bos ‚Kleinigkeiten‘. Es bot sich an, ein Schnitzel mit ihr zu teilen, und so bot ich ihr das an.
„Ja“, sagte Dorothee für Mirella zu, „das muss man hier essen.“ Dorothee offenbar nicht. Sie nahm Fisch.
Als es zu gießen anfing, dankte ich Gott in aller Demut dafür, dass er nicht nur dem Asphalt den fruchtfördernden Regen heruntersandte, sondern mir schon vorher die Eingebung geschickt hatte, einen geschützten Tisch auszusuchen, und ich empfand bei aller Selbstgefälligkeit keinerlei Schadenfreude über die halb durchgeweichten Menschen von den Tischen ringsum, die nun, den Teller vor der Brust, ratlos im Eingang der voll besetzten Arche Lutter standen, während wir ins Schnitzel bissen, ohne allzu nass zu werden.
Nichts als ein Schauer. Einer, der an uns vorbeigezogen war. Als ich zurückging zu meinem Bett, wurden nur noch meine Sohlen feucht, und ich achtete nicht auf das, was sich in den Pfützen spiegelte.

25 Kommentare zu “#2.51 | Die Geschlechterrolle im 21. Jh.

    1. „Meine Dame“ ist die Übersetzung aus dem Französischen, das im Englischen „Madame“ bleibt. Außer von Marktfrauen habe ich es nie gehört. „Sigora“ im Italienischen kommt ohne Pronomen aus und ist nach wie vor üblich. „Gnädige Frau“ sage ich nur noch in Wien.

      1. Beim fertig panierten denke ich immer da soll altes Fleisch aufgehübscht werden. Aber wenn der Metzger das Vertrauen hat, dann hat er es.

  1. Ah, beim Bitte-nicht-stören Schildchen habe ich schon so oft gedacht, dass mich gleich ein anderer Gast erwischen würde. Bisher ist es immer gut gegangen.

      1. Das frage ich mich auch. Man läuft in der Regel ja eh nicht nackt bis ganz in den Flur hinein, sondern öffnet die Tür, hängt das Schild dran, fertig.

  2. Mittlerweile wird das Kranzler-Café doch eh durch eine dieser Berliner Ketten betrieben. Innen ist nichts mehr vom 50er-Jahre Charme zu spüren.

    1. Ach ich finde das eigentlich ganz gelungen. Man versucht das Café eben in eine neue Zeit zu holen. Ich finde das besser als einfach zu konservieren.

      1. „Lässiger und nicht mehr so steif“ wollte es der neue Chef. Und ich sitze nicht so gern unbequem im Treppenhaus vor einer Tasse Kaffe.

      2. Das habe ich auch gedacht, als ich dort war. Es gibt eigentlich keine Ecke, in der es auch nur annähernd gemütlich wäre. Am Fenster zu sitzen und auf die Straßen zu schauen ist nett, aber nicht wenn die Hocker so unbequem sind.

  3. Auf den nächsten fruchtfördernden Regen freue ich mich schon. Es ist ja seit Tagen schon so drückend und schwül.

      1. Bei uns hat es bis eben geregnet. Aber das Etsch-Wasser fließt ja nun mal nicht in den Po. Jetzt scheint wieder die abendliche Aperol-Spritz-Sonne auf Südtirol.

      2. Bei mir ist es mittlerweile auch ein bisschen herbstlicher als noch vor einer Woche. Ich finde das gar nicht so schlimm. Die etwas niedrigeren Temperaturen machen mich umso aktiver.

  4. Bestseller sind ja nicht unbedingt immer auch die Best Books. Aber man kann ja schon froh sein, dass Leute überhaupt noch Bücher kaufen.

  5. Es ist ja immer auch löblich wenn man Vorurteile vermeiden oder zumindest korrigieren kann. Aber ich glaube, dass sie etwas ganz normales sind. Leuten, die sagen, sie wären da völlig frei, traue ich meistens nicht.

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