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0306
2. Berlin-Reise / 2000

#2.26 | Wohnen ohne eigene Möbel

Sonntag, 9. Juli

Giuseppe trank Tee, aß Zwieback mit Pflaumenmus, packte seinen Koffer und fuhr über Schöneberg die Potsdamer Straße nach Steglitz und Zehlendorf, dann auf die Autobahn nach Leipzig, München, Innsbruck, Trient und fuhr durch die Valsugana nach Bassano.

Nach Giuseppes Auszug war es sehr still. Nur ein elektrisches Summen, das ich vorher nie wahrgenommen hatte, sirrte durch den Raum wie eine Mücke, die weder stechen noch fort will. Ich war allein. War ich frei? Freier? Hilfloser? Ungebundener?
Unentschlossener. Aber dann habe ich mir erst ein Hemd und dann ein Herz gefasst: Das wird durchgestanden! In Mitte, im Gegensatz zu Othmarschen, kann man solche Entscheidungen nicht nur treffen, sondern richtig fällen: im S-Bahn-Center die Monatskarte, im Food-Center echtes Obst für die Schale, im Blumen-Center langstielige Stängel für die Vase (natürlich extra solche, die es künstlich nicht gibt), bei Leysieffer ein paar Krümel ‚Weingebäck‘ für 13,44 DM – ausgewogen! (Den Wein allerdings beim Einkaufen schon vorher tapfer zugunsten von Stiller Quelle weggelassen), die Gardine zurechtgezupft, die Bücher auf die Tischchen verteilt – und schon ist klar: So wird von nun an mein Leben. Eine Zeit lang.
Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, dass sie in ihrer Kindheit mit ihrer Mutter ‚möbliert‘ gewohnt hat. Aus ‚Cabaret‘ wissen wir, dass der Schriftsteller Christopher Isherwood und seine fiktive Figur Sally Bowles in Fräulein Schneiders Pension lebten; nichts Ungewöhnliches in Berlin. – Millionäre im Penthouse des Grandhotels, Flüchtlinge in Barackenlagern. 1968 griffen die Fortschrittlichen das Thema auf: Eigentum ist Diebstahl am Volk; und die buddhistischen Bettelmönche hatten schon vorher erkannt: Eigentum macht unfrei. Merkwürdig, wie wenige Menschen diese beiden weisen Sätze auf ihre eigene Lebensführung beziehen, mich eingeschlossen. Aber zurzeit sitze ich bequem auf einem Sofa, das mir nicht gehört, und gewinne Abstand: In gemieteten Räumen mit gemieteten Möbeln warte ich darauf, dass die Früchte faulen, die Blumen welken und die Monatskarte abläuft.

Habgierigen Geizkragen wird auffallen, dass es ökonomischer gewesen wäre, wenn ich die Monatskarte am 30. Juni und nicht erst am 9. Juli erworben hätte. Aber der Kauf einer Monatskarte wäre mir vor zehn Tagen verschwenderisch vorgekommen: Welcher Bauchspeicheldrüsenkrebsling bestellt sich noch ein Jahresabonnement vom ‚Feinschmecker‘? Gleich nach Absolvierung meines Berliner Pflichtprogramms würde ich die Vorkehrungen für meine Hamburger Beerdigung in Angriff nehmen müssen, dachte ich. Und wenn nicht: Eine zu spät gekaufte Monatskarte für drei Wochen ist sparsamer als eine zu früh gekaufte für sieben Tage.
Alison rief an. Dorothee sage, unsere Verabredung am Hauptausgang des Bahnhofs Friedrichstraße sei nicht eindeutig genug. Ich seufzte und wiederholte: Nimm den in Fahrtrichtung des Zuges hinteren Ausgang, und wenn du unten auf der Straße stehst, müssen die Linden rechts sein. Und da trafen wir uns dann auch, beide fünf Minuten vor der verabredeten Zeit zur Stelle. Ich hatte mich extra bemüht, so langsam zu gehen, wie es sich für einen Sonntagnachmittagsspaziergänger schickt, aber: Wie zwingt man den Sturm zum Stillstand wie das Flammenmeer zum Erlöschen? Mein Schritttempo ist eine Naturgewalt. Ich hatte sogar noch Gelegenheit, das Schild an der Bahnhofsecke zu studieren, das die SED-Verwaltung Mitte der Sechzigerjahre hatte anbringen lassen. Da stand in Messing: ‚An dieser Stelle haben im April 1945 entmenschte Nazi-Schergen zwei junge Soldaten ermordet.‘
‚Deserteure und Partisanen wurden erschossen, das ist in jedem Krieg so‘, erklärte mein Vater ähnliche Vorgänge sachlich. (Er selbst ist ’45 lieber getürmt, noch vor April.) Alison hat mich auf ihr Drängen hin vor dem Schild geknipst. Zwar sehe ich auf dem Foto bestimmt eher aus wie ein Entlaufener als wie ein Endsieger, aber lieber wäre es mir, es gäbe das Foto nicht, und noch lieber hätte ich die Namen der Soldaten gelesen als Worte wie ‚entmenscht‘ von Textern, die ihre eigenen Soldaten auf ‚Grenzverletzer‘ schießen ließen, noch 44 Jahre später.

Alison nahm nichts vom Weingebäck, wohl aber vom Rest Wein. Es gibt Menschen, mit denen nach drei Sätzen Schluss ist. Man muss von vorne grübeln, wie man das Gespräch entfachen kann: das Stochern in einem Kamin mit feuchtem Holz. Oder man sitzt neben jemandem, von dem man beim Auseinandergehen denkt, man habe noch nicht genug gesprochen, genug zugehört, genug Einsichten miteinander gewonnen. Da muss man gar nicht über Kant, Götter und Monster reden. Gemeinsamkeiten teilen sich auch über Kleinigkeiten mit wie über die Art eines Lächelns, wenn man im Bahnhofslokal sitzt, weil man einen Zug versäumt hat, und jemandem zuhört, der erzählt, dass seine Mutter in einer Einkaufspassage eine Brosche verloren hat, die sie von ihrem Großvater bekam, dessen Bruder mit einer Serbin verheiratet war, die zuvor die Verlobte eines Mannes gewesen war, der in Sarajewo den österreichischen Kronprinzen erschossen hatte, wodurch der Erste Weltkrieg ausgelöst worden war. Leider. Ich sah auf die Uhr. Es war gleich halb neun. Zu acht Uhr hatte ich bei ‚Lutter & Wegner‘ einen Tisch für uns bestellt. Mein Magen war wie zugenagelt. Es half alles nichts. Giuseppe war weg, und wenn ich meinen Teller nicht unangerührt zurückgehen lassen wollte, musste ich rasch handeln. Entschlossen trank ich ein Glas Rotwein und gleich noch eins hinterher. Dann brachen wir auf.
Von Alison durfte ich annehmen, dass ihr E. T. A. Hoffmann ein Begriff war und Offenbach schon allemal, und so konnte ich ihr gleich die Geschichte des Gasthauses verkaufen, in dem der dämonisierte Dichter sich betrank, während seine Stella nebenan in der Oper (die in Wirklichkeit Schauspielhaus war) die Koloraturen rauf- und runterglitt.
Vom vorigen Male gewarnt, bestellte ich ein einziges Wiener Schnitzel für uns beide zusammen. Als Vorspeise konnte ich, weinbeflügelt, Gänseleber nehmen, weil ich wusste, der Koch rückte da nur eine dünne Scheibe raus, und die Gans war sowieso gestopft, das Kalb geschlachtet, die Kartoffel geschält.
Miteinander nicht nur ein Schnitzel, sondern auch die Ansicht zu teilen, dass das Leben schwierig zu gestalten und zu ertragen sei, bildet eine sportlich-solide Grundlage, um einander zu erzählen, welche Eigentore man in letzter Zeit geschossen hat und über welche Hürde man gesprungen ist.
Vor zehn Jahren war Alison Vice President der ‚Deutschen Grammophon‘/USA, jetzt, mit Mitte fünfzig, ist sie Lehrling im Geigenbau. Ich war vor zehn Jahren Vice President der ‚Deutschen Grammophon‘/International – und heute? Zum Nachtisch teilten wir uns einen Kaiserschmarrn, die Beilage zum Zwetschgenröster.

Sehr bald nachdem wir das Lokal verlassen hatten, musste ich meiner Natur folgen: ins Dunkle. Das macht Hitlers Hinterlassenschaft sowie Ulbrichts und Honeckers Unvermögen, etwas an ihr zu ändern, so sympathisch: Man findet im Osten überall noch Ruinen und ungewisse Pfade, wo man im Westen nur an zentraler Stelle eine City-Toilette findet; ringsum ist alles zugebaut, umzäunt und beleuchtet. Alison wähnte mich wohl pinkeln, während sie weiterging und, ohne Genaueres zu wissen, den Linden entgegenschlenderte.
Vor der Oper gab sie einem Geiger ein paar Mark in den Hut, dann drehte sie sich noch mal um und blieb stehen. Als er sein Stück beendet hatte, sprach sie ihn an. Er kam aus Bonn und studierte in Berlin. Alison nahm seine Geige und prüfte sie. Er erzählte ihr etwas über das Instrument. Eine Gruppe Japaner ging vorbei. Vielleicht hätten sie ihm etwas gegeben, wenn er gespielt hätte. Wir verabschiedeten uns. Ich lenkte Alison über die Monbijoustraße, am Bode-Museum vorbei, eine dunkle, unbelebte Ecke, und war erleichtert, als mein Orientierungssinn sich als tauglich erwiesen hatte, uns über die Oranienburger Straße zu den Hackeschen Höfen zu führen. Wir setzten uns ins ummauerte Freie. Die Luft war nicht sehr warm, der Wein war nicht sehr gut, der Hof war nicht sehr voll. Ich fuhr mit Alison vom Hackeschen Markt bis Friedrichstraße; sie fuhr weiter in den Westen, ich winkte noch, aber sie sah zur anderen Seite. Die Straßen waren leer. Sonntag Nacht schwingt das Pendel aus, bevor es am Montag früh wieder in Gang kommt. Keine Telefonsex-Angebote heute: Ich war allein.

Titelbild mit Material von Lukasz Czeladzinski/Unsplash

Hanno Rinke Rundbrief

21 Kommentare zu “#2.26 | Wohnen ohne eigene Möbel

  1. Es gibt aber auch Menschen, mit denen lässt sich leicht reden, und man denkt nachher trotzdem, dass eigentlich über so gut wie nichts gesprochen wurde.

    1. Mir ist das aber trotzdem angenehmer, als ein interessantes aber stockendes Gespräch. Eine Art von Fluss ist durchaus wichtig, sonst wird eine Begegnung ziemlich schnell anstrengend. Gerade wenn man sich nicht gut kennt.

      1. Ambitioniert! Das weiteste, dass ich mal alleine gefahren bin, waren glaube ich irgendwas um die 6 Stunden. Das war aber auch schon erschöpfend genug.

  2. Monatskarten machen ja eigentlich am meisten Sinn, wenn sie einfach für 30 Tage gültig wären. Also ab Kauf. Aber das ist wohl selten der Fall.

  3. Ohne eigene Möbel zu wohnen könnte ich mir nicht vorstellen. Ich finde das ja schon in Airbnbs immer sehr ungemütlich und unpersönlich.

      1. Michael Jackson lebte doch auch jahrelang im Four Seasons. Man gewöhnt sich bestimmt auch daran. Gerade bei denen, die eh viel reisen müssen, macht es vielleicht gar keinen Unterschied.

      2. Nee, das Argument überzeugt mich nicht. Bei mir ist es eher so, dass ich, gerade weil ich so viel beruflich reisen muss, zwischendurch das Zuhausesein sehr genieße. Dazu gehören auch meine eigenen Möbel und die Dinge, an denen ich hänge.

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