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2. Berlin-Reise / 2000

#2.05 (D) | Geld wegzaubern

Aufbruch, Aufbau, Ausbau erleben. Im Alter wird alles immer schlechter: Die Jugend hat kein Benehmen mehr, und die Hotelzimmer kosten das Dreifache von früher. Irene schwärmt von den Zeiten, als sie bei ‚Aben‘ ein fabelhaftes Essen für dreißig Mark bekam. Jetzt heißt es ‚Le Boubou‘, sieht nicht mehr nobel, sondern studentisch aus und ist bei bistromäßiger Karte genauso teuer, also für viele erschwinglich. Der zusätzliche Vorteil früher war, dass damals der Pöbel sich so was nicht leisten konnte. – Elite sein, schmückt.
Hier wird alles immer besser. Das mag im Fall der ein oder anderen Fassade Geschmackssache sein, aber nicht, wenn die Alternative Ruine oder Platte ist. Da stehen wir auf dem klassizistischen Weltstadtbalkon des Palais am Festungsgraben und warten darauf, uns verzaubern zu lassen. In der Vorstellung.

Wieder ein klein bisschen verliebt ins Leben? Eine Spur von Leichtsinn, die nicht trotzig, sondern beschwingt ist? – Ach, ich würde es mir so gönnen, nach allem, was ich schließlich durchgemacht habe. Überhaupt: Missgünstig bin ich sowieso nicht. Dass ich auch nicht geizig bin, bewies ich spontan, als der Zauberer um einen Hundert-Mark-Schein bat. Zugegeben, ein bisschen war es auch der Druck, wie wenn der Lehrer eine Frage stellt und niemand sich meldet, denn beschämenderweise interessierten sich in der Millionenstadt Berlin außer uns nur etwa zwanzig weitere Menschen für Wunder. Eigentlich hatte ich damit rechnen müssen: Auf mein freundliches Angebot hin, die Börse zu zücken, wurde ich auf die Bühne komplimentiert, was ich auch lieber habe, wenn ich voraussehbar der Star als voraussehbar der Idiot bin.
Mein Hundert-Mark-Schein wurde sofort zerrissen; den kleineren Teil bekam ich zurück, den größeren verbrannte der Zauberer schnurstracks. Dann bat er „einen Herren aus dem Publikum“ um eine Zigarette, er stammte noch aus einer Zeit, als man nicht damit rechnete, dass auch Frauen was zum Rauchen im Täschchen haben, was bei der geringen Auswahl, die ihm zur Verfügung stand, leichtsinnig war. Aber die Zeit, die uns prägt, und die Umwelt und die Gene tun dann das Ihre, um uns häkchenhaft zu verkrümmen. Derartig philosophische Gedankengänge im Rampenlicht wurden dadurch unterbrochen, dass jemand eine Zigarette hinaufreichte. Der Gaukler zündete sie sich an und fing dermaßen an zu husten, dass ich das Ende seines Programms oder Lebens befürchtete. Die Zigarette schmecke ihm nicht, tat er kund. Er bröselte sie auf und holte das andere Stück von meinem Hundert-Mark-Schein aus ihr heraus. Triumphierend überreichte er es mir, und alle, die da waren, klatschten, während ich doch gehofft hatte, dass ich meinen Schein heil wieder zurückbekommen würde.
In der Pause schob ich dem Barmann die beiden Fetzen hin und erklärte – ich glaube, man sagt ‚lakonisch‘ dazu –: „Das ist das Ergebnis eines Zaubertricks.“ Der Barmann nahm die beiden Teile und, wie ich missbilligend befand, ungern, dann stellte er uns drei Gläser kalifornischen Chablis hin, den er im Ausschank hatte; was nun schon den zweiten Beweis des Abends für meine Geizlosigkeit darstellte.
Wie bei vielen Büchern, Filmen und Theaterstücken, so auch hier: Auf der Hälfte hätte die Sache zu Ende sein sollen; in diesem Fall wäre das nicht mal dramaturgisch unbefriedigend geblieben, denn es gab ja keinen Konflikt, der irgendeiner logischen oder absurden Lösung, koste es, was es wolle, zugeführt werden musste. Der Schnürvorhang, das Pappmaché, der dezent geschminkte ältere Herr, der darüber belehrte, welcher Zaubertrick am spanischen Hof und welcher in Versailles besonders beliebt war, wir kleine Gemeinde von dreiundzwanzig Personen – das reichte nur hin für etwas über eine Stunde. Die Armseligkeit und die Schäbigkeit steigerten sich nach der Pause doch zu einem schalen Aroma, das betreten machte. Trotzdem gab es keinen anderen Grund als den der ausufernden Bühnentechnik, dass 2000 Menschen zweimal am Tag in den Friedrichstadt-Palast wollten und nur zwanzig darauf aus waren, sich hier verzaubern zu lassen. Ich begann, während Vögel in Ärmeln verschwanden und tirilierend in Käfigen wieder auftauchten, über die Freuden der Einfältigen und die Freuden der Verdammten zu sinnieren.

Selbstverständlich gingen wir das kurze Stück zum ‚Four Seasons‘ zu Fuß. Links – der erleuchtete Dom; rechts – die spärlich angestrahlte Humboldt-Universität; gegenüber – die Staatsoper in all ihrer Pracht. Das Zeughaus, die Neue Wache, das Reiterstandbild Friedrich des Großen – majestätisch, ein Gang durch das alte Preußen, nicht durch grässlich-graue, gruselige Ostzone. Die Charlottenstraße ist östlich der Linden in Richtung Mitte ziemlich ramponiert, eigentlich muss man zugeben, dass sie zurzeit nur aus ihrem Straßenschild besteht, das aus einer lang gestreckten Baugrube ragt. Insofern war es gut, dass Bo und Ingrid nicht allzu festlich gekleidet waren, in Stöckelschuhen wäre beiden der Weg beschwerlich gewesen.
Sieben Minuten später, an der Ecke Charlotten-/Französische Straße empfand ich das, als wir das ‚Four Seasons‘ betraten, nicht mehr ganz so sehr als Vorteil. Wir hatten ja seit unserer Jagd durchs KaDeWe die Kleider nicht mehr gewechselt und sahen eher ein bisschen aus, als seien wir bei Woolworth gewesen, fand ich.
Umso selbstverständlicher zwang ich mich, das elegante Restaurant zu betreten und mir einzureden, dass die Herablassung des Oberkellners auch nicht milder ausgefallen wäre, wenn ich mit Armani oder dem Regierenden Bürgermeister erschienen wäre. „Wir sind noch vom morgendlichen Sightseeing unterwegs, Ihr Restaurant ist der krönende Abschluss“, gab ich als Erklärung ab und hasste mich dafür unbändig. Der Oberkellner schien mir jedes Wort zu glauben, reichte uns die Karten runter und fragte nach unseren Getränkewünschen.
Ingrid war mit einiger Mühe zu entlocken, dass sie einen süßen Wermut wollte, Bo dachte wohl, es sei Sonnenuntergang und bestellte einen Campari, ich hatte offenbar noch nicht genug vom verzweifelten Scherzen und sagte: „Einen Martini-Cocktail. Aber bloß kein Paprika-Stückchen in der Olive, das ist spießig.“
Ausgerechnet bei dieser albernen Belanglosigkeit wurde das hüstelnde Lachen des Oberkellners etwas wärmer, so als hätte ich wirklich etwas Lustiges gesagt, na ja, hatte ich ja auch. Die Vorstellung, hier in der gediegenen Atmosphäre holzgetäfelter Wände und schwerer Teppiche zwischen Ahnengemälden und Rokoko-Kachelofen einen Martini mit Paprika-Olive vorgesetzt zu bekommen, hatte schon etwas Komisches.

Nicht jeder Tisch war besetzt, aber leer war es auch nicht, nach zweiundzwanzig Uhr in einem feinen Lokal. „Ach, Frau Koehler kann nicht kommen“, hatte der Oberkellner noch gesagt, während er uns zu unserem Tisch geleitet hatte, „es ist ihr deshalb so peinlich, weil sie uns ja empfohlen hat.“ Mir dieses Telefongespräch auszumalen, hatte ich gerade nicht die Nerven. In der Pause im Friedrichstadt-Palast hatte ich ihren Anrufbeantworter eingeladen, uns zu begleiten, denn sie war mindestens so entschlossen, Bo und seine Frau kennenzulernen, wie nichts sie hätte davon abbringen können, die Oberschule Hellersdorf in Leonard-Bernstein-Schule umzubenennen, notfalls im Alleingang.
Der Unterkellner nahm unsere Bestellung entgegen, dann kehrte der Oberkellner zurück, stellte Ingrid ihren süßen Wermut hin, Bo seinen Campari mit Soda und baute vor mich ein Glas mit dem Martini-Cocktail und einer schwarzen Olive drin nebst einem Schälchen mit weiteren schwarzen Oliven auf. „Das waren die einzigen steinlosen Oliven, die ich im Haus finden konnte“, erklärte er, und an dem Hauch von Kichern, der in seiner Stimme schwang, erkannte ich, dass er meinen Wunsch nach einer Olive ohne Paprika nicht für eine der Erwähnung unwerte Selbstverständlichkeit, sondern für eine Marotte gehalten hatte, so als hätte ich Gulasch ohne Paprika bestellt. – Ostzone bleibt Ostzone! Trotzdem war das Essen gut, der Rahmen nobel.

Sonnabend Abend in Berlin: Knistern, Kneipen, ‚Knolle‘, ‚Knast‘. Bo brachte mir noch Magnesium ans Bett, während ich mein letztes Hansaplast verbrauchte: Nun hatte ich mir auch die tauben Zehen blutig gelaufen.

Titelgrafik mit Material von Deutscher Bundesbank/Wikimedia Commons/gemeinfrei (Hundertmarkschein, Ausriss) sowie von Shutterstock: ArTono (Unter den Linden), Dmity Trush (Martini), KayaMe (Oliven), Dizfoto (Reiterstandbild mit Friedrich II., König von Preußen), by-studio (Umleitungsschild)

Hanno Rinke Rundbrief

41 Kommentare zu “#2.05 (D) | Geld wegzaubern

      1. Beide Hälften? Versuchen Sie es doch mal bei Ihrer Bank… In der Regel werden die doch sogar ohne viel Aufhebens ersetzt.

      2. Mir ist im Restaurant aus Versehen mal ein Schein halb weggebrannt. Man sollte die Kerze beim Bezahlen immer gut im Blick haben.

  1. Der Dom und der Lustgarten sind für mich die schönste Ecke unter diesen imposanten Berliner Sehenswürdigkeiten.

    1. ‚Elitär‘ war in meiner Jugend ein Schimpfwort. Ich finde es nicht schlimm, Stil und Klasse zu haben. Dazu noch Geld und Gesundheit – was will man mehr? Höchstens Liebe.

  2. Wer die Ostzone nie zur Zeit der Ostzone kannte, empfindet das vielleicht gar nicht so. Ich sehe z.B. Unterschiede zwischen den einzelnen Berliner Bezirken, habe aber solch einen Zusammenhang gar nicht vor Augen.

    1. Mitte und Prenzauer Berg merkt man die SED nicht mehr an. Friedrichshain-Kreuzberg sind zusammengewachsen. Das waren schon um 1900 Arbeiterviertel. Kurfürstendamm und der ganze Westen waren bereits die ‚feine Gegend‘, als es politisch West-Berlin noch gar nicht gab.

      1. Ich bin immer wieder überrascht wie unterschiedlich die Berliner Bezirke sind. Das fällt mir immer weitaus mehr auf als sagen wir z.B. in Paris.

      1. Geld in Ware tauschen, das konnte auch Hans im Glück: vom Goldklumpen bis zum Schleifstein. Seit Geld so schön digital geworden ist, lässt es sich schon mit einem Mausklick wegzaubern. Herzaubern lässt es sich mit Ideen: Coca Cola, Nagellack, Reißverschluss erfinden – dann klappt’s.

      2. Anscheinend lässt es sich mittlerweile ja sogar ohne Ideen herzaubern. Einige Social Media Influencer scheinen das zumindest ganz gut hinzukriegen.

  3. Bei Filmen habe ich gar nicht so sehr dieses Gefühl – aber die meisten Serien sollten tatsächlich nach der Hälfte vorbei sein. Oder zumindest rückwirkend höchstens halb so viele Folgen haben. Auserzählt ist auserzählt.

    1. Außerdem braucht nicht jede TV Show gleich 5 Staffeln. Aber nun gut, man muss ja auch nicht einschalten wenn man nicht will.

      1. Aus unternehmerischer Sicht macht das doch auch Sinn. Dass ein Künstler ein Projekt nicht endlos fortsetzen will, kann ich genauso gut verstehen wie, dass ein Streamingservice so lange neue Episoden in Auftrag gibt, wie es ein Publikum dafür gibt.

      2. Dann kommt dieser Punkt: eigentlich mag ich nicht mehr gucken, aber irgendwie will ich doch wissen, wie es weiter geht. Nur weiß das der Autor oft selber nicht.

      3. Genau so geht es mir. Ich tue mich wirklich schwer eine Sendung, die ich einmal angefangen habe, abzubrechen.

  4. Ob es mal eine Generation geben wird, die die Jugend als außerordentlich höflich und zuvorkommend beschreiben wird?

      1. Ich war auch eher Spätzünder wenn es darum geht sich selber auszuleben. Meine Zwanziger waren bei Weitem spannender als meine Teenagerzeit.

  5. Dreiundzwanzig Personen in einer Vorstellung klingt ziemlich anstrengend. Für den Zauberer wahrscheinlich genauso wie für das Publikum.

    1. Das ist wahrscheinlich kein besonders schöner Moment, wenn man auf die Bühne tritt und kaum jemand im Zuschauerraum sitzt…

      1. So etwas haben sicher viele spätere Stars am Anfang ihrer Karriere erlebt. Da braucht es Zähigkeit. Schlimm ist es, das am Ende der Karriere zu erleben.

      2. Oh Gott, ja das muss deprimierend sein. Nicht mehr gewollt oder gefragt sein ist sicherlich kein schönes Gefühl.

      3. Es ist bestimmt kein Zufall, dass es einige Stars gibt, die gegen Ende ihrer Karriere zum Alkohol oder anderen Drogen greifen.

  6. Eine schwarze Olive im Martini. Die einzige ohne Stein, die er finden konnte. Und dann das Schälchen mit weiteren Oliven dazu. Auch die Anständigkeit der Ironie hat ihre Grenzen.

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