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2. Berlin-Reise / 2000

#2.33 | Zwischenbilanz

Sonntag, 16. Juli 2000

Halbzeit. Und? Gut zwei Wochen Berlin: ohne besondere Vorkommnisse. Noch zwei Wochen und zwei Tage und nichts wird passieren, nichts. – Schlecht zwei Wochen Berlin. Die Hälfte vorbei, verpennt und verpulvert, und was bleibt, ist der bastelwillige Versuch, dem Gewesenen einen Sinn abzutrotzen. Auch Wahrheiten haben kurze Beine, und auf denen geht es eben weiter, ein Leben lang.
Was kann man am Sonntag alles tun?
Dorothee mahnt bereits telefonisch: „Heute ist der letzte Tag im Jüdischen Museum. Dann wird es ein Jahr lang geschlossen. Und wenn es erst vollgestellt ist, werden die Räume nie mehr so sein.“
Nie mehr.
„Man muss eine Nummer ziehen. Alison und ich, wir mussten ungefähr eine Stunde warten, da sind wir spazieren gegangen. Aber das ist ein Muss. Heute ist der letzte Tag.“
Was kann man nicht alles tun?! – Mit dem SAT.1-Ballon in den Himmel steigen. Mit der Kreditkarte ein Ticket nach Südafrika kaufen, wegfliegen. Und dann? Am Alexanderplatz Zehn-Mark-Scheine verschenken. Und dann? Nackt über den Gendarmenmarkt laufen, im ‚Kempi-Grill‘ Schlemmerschnitte essen, Mitglied der PDS werden. Und dann – und dann – und dann?! Den Artemis-Tempel anzünden, das Berliner Stadtschloss wieder aufbauen, aus Stoffplanen. Liegen bleiben und rumspinnen. Was alles kann man nicht tun? Wie unendlich viel mehr lässt man bleiben, als dass man es macht.
Allein sein – ist das meine Zukunft? Oder ist es die Zukunft? Ich lese, dass wir immer noch von der Nahgesellschaft träumen und uns nicht mit symbolischer Kommunikation abfinden, bisher. Wir müssten lernen, unsere Bedürfnisse auf eine symbolische Ebene zu verlagern. Auf dem richtigen Weg seien wir schon. Telefon und E-Mail seien die ersten Schritte zur angestrebten Scheinbefriedigung: Schnuller der Technologie. Denn was haben die Nahgesellschaften bewirkt? Die meisten Lebensentwürfe scheitern. Beruflich und privat. So bekommen die meisten Menschen ein Label aufgepappt: ‚Paranoiker‘, schreibt der Psychiater drauf. Und der Soziologe hat auch ein Stichwort parat: ‚Eskapist‘. Das Versuchstier Mensch wiederholt ununterbrochen eine Situation, in der er geschädigt wird. Er heiratet vier-, fünfmal, obwohl er spätestens beim zweiten Mal begreifen müsste, dass es nicht funktioniert. Die alten Lebensentwürfe stimmen nicht mehr, und trotzdem lässt er nicht davon ab.
Also wegfahren, verreisen? Der Tourist interessiert sich nicht wirklich für den Urlaubsort. Im Grunde schafft er sich ein 3D-Reich der Illusion in einem synthetischen Land. Der Tourist befindet sich schon im virtuellen Raum. Dass sein Körper sich dafür auf die Reise begeben muss, verstärkt die Illusion.
Die Gesellschaft hat Menschen immer schon unterschiedliche Optionen für unterschiedliche Lebensabschnitte angeboten. Als Jugendlicher zum Beispiel: Revolutionär. Als 40-Jähriger zum Beispiel: erfolgreicher Familienvater. Ab sechzig dann: liebevoller Opa. Heute ist die Verfallsdauer kürzer als früher. Joschka Fischer – das optionale Subjekt der Postmoderne. Lebensentwürfe aus dem Katalog, den die Identitätsindustrie anbietet. Schlank werden, Marathon laufen, Anzüge tragen. Vorgestern war der Schlag breit, gestern lag die Hose auf, heute hängt der Schritt im Knie. Berlin bleibt nie Berlin. Nur ich bleibe liegen. Maßlos habe ich gesoffen, mich ruiniert, jetzt liege ich da: niedergestreckt. Ich bin wütend auf mich, aber zu mitleidiger Versöhnung fähig. Gerade hier in Berlin sollte man bereit sein, nach allem, was geschehen ist, die Hand zu reichen, und sei es sich selbst.

Ich möchte wieder so geliebt werden, wie ich von Roland geliebt wurde: auserwählt, zärtlich-belustigt, körperlich-vertrauensvoll, unbekümmert-kindisch, ernsthaft und zuverlässig.
Ohne Neugier zu sein, habe ich immer als Unglück eingestuft. Jetzt bin ich bescheidener geworden: Ohne Angst zu sein, ist Glück. Aber das schreibt sich leichter, als es sich lebt.

Ich las ‚Großes Solo für Anton‘ zu Ende. Es hat mich abgelenkt, mehr als dass es mich bereichert hat, aber immerhin. Ich aß Haferbrei mit viel Süßstoff und großer Gier aus dem Topf im Bett. Nach zehn Löffeln wurde mir schlecht, aber ich liebte die Verwahrlosung. Kamillentee ist so scheiß-neutral, dass er sich solchen sämigen Vergnügungen gänzlich verschließt. Er schmeckt nach ausgewrungener Windel und sonst gar nichts. Das Jüdische Museum schloss seine Pforten, und ich öffnete den nächsten Buchdeckel: Joseph Brodsky: ‚Ufer der Verlorenen‘. – Die Havel und meine Ichs? Sunday, glory Sunday. Venedig.

Montag, 17. Juli

Der Morgen war furchtbar. Blaulicht im Leib. Eine Sirene am Eingang des Magens, die bis in die Fingerspitzen gellt. Wahnsinn schmerzt nicht so! Krebs ist nicht so wahnsinnig. Das ist nicht Krankheit, das bin ich.

In größter Not ruft man Gott an oder den Hausarzt.
„Haben Sie Tegretal genommen?“, fragte Roemmelt.
„Nein“, gestand ich, „da stand bei Alkohol-Entzug nur unter ärztlicher Aufsicht.“
„Sie müssen das nehmen“, sagte Roemmelt, „ich bin doch bei Ihnen. Die Zustände kommen nicht aus dem Magen, sondern aus dem Hirn. Haben Sie an das ‚Schweigen der Sirenen‘ gedacht?“
„Ja“, sagte ich, „als Buch gibt es das nicht, aber auf einer Kafka-CD. Soll ich sie besorgen?“
„Ja“, Roemmelt war fasziniert, „Kafka unterstellt, dass Odysseus so blödsinnig gelächelt hat, dass die Sirenen ihre Lockrufe eingestellt und indigniert geschwiegen haben. Aber das war vielleicht gerade Odysseus’ List. Er war entweder so einfältig, dass die Sirenen aufgaben, oder so helle, so zu tun, als ob er so einfältig wäre – das war gerade seine List. Toll, was? Tschüss!“
Ich schluckte Tegretal. Es wurde leiser da unten. Dass Entzug nicht sofort zur Verbesserung führt, sondern erst mal zur Verschlechterung, macht den Lernprozess schwierig. Es ist, als ob der Löwe, der durch den brennenden Reifen springt, nicht gleich eine Rinderhälfte bekommt, sondern zunächst mal die Peitsche.
Ein Hund schafft es, einen Umweg zu machen, um sein Ziel anzusteuern. Eine Katze gibt auf, wenn sie Futter hinter einer Glaswand sieht und ihr Ziel nicht auf direktem Weg erreicht. Den direkten Weg – gibt es ihn? Umwegler gelten als intrigant. Immer muss man einen Kompromiss machen zwischen Durchsetzungswillen und Kompromissbereitschaft. Aufrecht geradlinig – geduckt wendig. Das Ziel treffen, ohne getroffen zu werden. Das ist Spiel, Sport, das ist Ernst. Der Zweck und die Mittel. Gut sein oder es gut haben. Held, Schurke oder Mitläufer. Berlin ist voll von ihnen. Die Welt auch, aber ich bin in Berlin. Und ich liege im Bett und lese von Venedig: ‚Ufer der Verlorenen‘. Dorothee ruft an, ich habe die Kraft, zuzugeben, dass ich nicht im Jüdischen Museum war, aber meine Kraft reicht nicht aus, ihr abzusagen. Nicht allein sein. Das Abendmahl teilen. Ich fahre gern zu ihr, und ich bekomme meine Nahrung ohne Umwege. Und ohne Fondor. Leider.

21 Kommentare zu “#2.33 | Zwischenbilanz

  1. Zum Glück kann man heute auch mit 60 noch erfolgreicher Familienvater oder Revolutionär sein. Alles Geschmacksfrage.

    1. Wenn es eine Frage des Geschmacks wäre (Rentner/Revoluzzer) – würde man dann weniger darüber streiten? Exotisch mit Curry oder klösterlich mit Basilkum – von sich aus schmeckt Fleisch nach nichts. Für Veganes: Torfu ist auch keine Gaumenfreude.

  2. Ich glaube schon, dass sich viele Touristen für ihre Urlaubsorte interessieren. Nur deckt sich deren Erlebnis natürlich nicht mit dem wirklichen Leben dort.

    1. Ohne jegliches Interesse würde man natürlich zuhause bleiben. Klar. Aber man sollte sich auch nichts vormachen, das Hauptinteresse ist der eigene Urlaub, sind die eigenen Erfahrungen, nicht der Ort an den es einen zieht.

      1. Wobei es in Florenz schon viele Ballermänner und -frauen gibt. Nur dass die billige Pizza essen und Rotwein trinken, anstatt Sangria aus Eimern.

      2. Wer das Know-how und das Geld hat, in der Loggia del Piazzale Michelangelo zu speisen, kann auf den Dom und die Pizzafresser herabblicken.

      1. Shinzo Abe schwebt nach einem Attentat in Lebensgefahr. Das ist wohl die neueste schockierende Nachricht.

      2. Mittlerweile ist er an seinen Verletzungen gestorben! Was für eine Welt!

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