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2. Berlin-Reise / 2000

#2.35 | Hinterlassenschaften

Ich wechselte in die Linie U5, die Dorothee so dringend zur Bernstein-Schule hatte nehmen wollen, verließ sie aber schon nach zwei Stationen: Strausberger Platz. Hier beginnt der denkmalgeschützte Teil der Karl-Marx-Allee, die seit 45 Jahren nicht mehr Stalin-Allee heißt und doch den Stempel Stalins, nicht den von Marx, trägt. Bis zum Frankfurter Tor hin ist alles mustergültig restauriert, mit Materialien, die beim Bau der Straße gar nicht zur Verfügung standen. Man könnte sagen: Erst jetzt ist Stalins und Ulbrichts Vision einer sozialistischen Stadtlandschaft Realität geworden, wenn nicht – Hohn der Geschichte – mit den besseren Betonmischern und besseren Fensterrahmen auch sofort die besseren Produkte des Klassenfeindes gleich über die niedergewalzte Grenze gekommen wären.
So mutet es eigentümlich an, in den kleinformatigen Schaufenstern der wuchtigen Fassaden – sozialistisches Ideal aus der Stalin-Zeit – nicht nur Bananen, Apfelsinen und Ananas zu sehen, sondern Nike-Schuhe, Melitta-Kaffemaschinen und Heinz-Ketchup. Die Arbeiter-Paläste haben etwas gediegen Unwirkliches bekommen, eine babylonische Strenge, die den Größenwahn zu Vermessenheit verklärt. Seit jeher kenne ich diese Prunkzeile autolos, menschenlos und nur vom Durchfahren. Jetzt schreite ich sie ab wie das Pergamonmuseum, und der düstere Himmel steht ihr ganz gut. Ein wolkenloser Himmel wie bei de Chirico würde die Fremdheit ins Surreale abgleiten lassen, was ihr nicht gerecht würde. Wir haben es hier mit geschändetem Materialismus zu tun. Ich gehe in eines der Häuser, um derentwillen 1953 im Juni der Aufstand losbrach, und greife mir eine Nivea-Sonnenmilch in der Hoffnung, dass es, wenn ich wieder im Zentrum der Mitte sein werde, auch mal wieder sonnige Tage geben wird. Ich befinde mich bei Budnikowsky, bin einziger Kunde, und die Situation erscheint mir schmerzhaft lächerlich. Das Mädchen an der Kasse schätze ich auf achtzehn. Das Schicksal dieser Straße wird ihr gleichgültig sein. Ihr wird vieles gleichgültig sein, was Achtzehnjährige bis 1990 bewegte: begeistert oder abstieß.
Die Karl-Marx-Buchhandlung, vormals Ostberlins größtes Büchergeschäft. Links von der Eingangstür befindet sich eine Anwaltskanzlei, nur die rechte Hälfte gehört weiterhin zum ehemals sozialistischen Renommierladen. Immer noch drei respektable Räume mit kassettierter Holzverkleidung an den Wänden. 50 Prozent ist mehr, als von den meisten DDR-Betrieben übrig geblieben ist. Das Fünfzigerjahre-Interieur wirkt museal, ohne auf eine bestimmte Ideologie hinzudeuten. Aber trotzdem wirkt das ‚Stehengebliebene‘, Stehengelassene, sozialistisch. Ein Hort des Geistes eher als die Zurschaustellung konsumierbarer Waren, also altmodisch.
Natürlich liegt nicht mehr Lenin im Schaufenster, sondern Harry Potter. Aus kleinkarierter Rachsucht des Mit-Siegers kaufe ich mir ‚Berlin Zoo‘, eine Panoramen-Edition, die ‚Anregungen bietet zu realen und imaginären Spaziergängen durch die urbanen Räume und Zeiten‘. Nachdem die Ketten des Einheitssozialismus weggerostet und von innen aufgebrochen worden sind, steht wieder alles da – nicht gleichwertig, keinesfalls, aber wohlfeil: preußisches Berlin, jüdisches Berlin. Pietistisches, Imperialistisches, Anarchistisches, Faschistisches, Sozialistisches. Hier liegt Information als Ware aus und kommt nicht wie im Fernsehen als Unterhaltung ins Zimmer. Berlin hat die Überlebensqualität des Kapitalismus. Ein Buch ‚Warum ich Berlin hasse‘ würde mehr Kauflust bereiten als ein Buch ‚Warum ich Berlin liebe‘. Sieg durch Vereinnahmung des Gegners. Liebknecht, Dutschke, Meinhof, Honecker, alles zu haben, auch als Taschenbuch. ‚Sehn se, dit is Berlin, eine Stadt, die sich gewaschen hat‘, sangen um die Zeit, in der diese Buchhandlung als Fanal in die Mitte der Stalinallee gesetzt wurde, die Insulaner im Westen der Stadt, aber es war mehr Trotz als Wahrheit. Außerdem konnten sie sich den Balanceakt zwischen Stolz und Selbstironie genauso leisten, wie sich die Zuschauer ihres Kabaretts neben den Eintrittskarten auch Autos und Aufschnitt von Rollenhagen leisten konnten.
Im Osten hatten sie keine Wahl: Lachsschinken oder Kasseler – CDU oder SPD, da stand man an nach dem, was da war. Prall gefüllt war das Schaufenster der Buchhandlung und kein anderes. Doch um auch dort nicht Überfluss aufkommen zu lassen, war die Lektüre zensiert. Das vergällte das Angebot. Kein Dostojewski, kein Kafka, nichts, was nicht in den Kram passte. Alle Entmündigung habe ich, seit ich sie begreifen kann, gehasst. Den Index der katholischen Kirche, die Todesstrafe auf Feindsender-Hören bei den Nazis, Schicklichkeitsschnitte in Hollywood-Filmen – ich hasse es!
Ingeborg Bachmanns Überschrift ‚Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar‘ erweitere ich: Dem Menschen ist zumutbar, was er bereit ist, sich zuzumuten. Hitler lesen, Heroin spritzen. Ernüchterung oder Abhängigkeit. Erkenntnis oder Umnachtung. Der mündige Bürger. Ach ja, so einfach ist es nicht, ich weiß. Kinder, die mit dem Feuer spielen und verbrennen. Jugendliche, die trotz Lawinenwarnung eine Skitour machen und verschüttet werden. 40-Jährige, die alle Macht den Börsen geben wollen, und Alte, die ihr Wahlkreuz da machen, wo sie die Ideale ihrer Jugend nachschmecken. Nicht umsonst sind so viele Bücher geschrieben worden. Die meisten Probleme, die im Kopf stattfinden, sind unlösbar. Ratgeber, Kochbücher und Biografien sind am gefragtesten. Und auch hier, wo die Räume, die Kunden und die Verkäuferinnen verstaubt wirken, liegen die Stapel der Bestseller griffbereit dort, wo früher die geistige Nahrung für die ‚Arbeit des Hirns‘ verfüttert wurde.

Ganz, ganz hinten schlummern die Remittenden, Preiswertes, Antiquarisches, das in ausgeschlafeneren Geschäften ganz vorne im Grabbelkasten zum Eintreten lockt. Da liegt dann doch noch eine 857-seitige Lenin-Biografie für 12 Mark. Sie beginnt so: ‚Wladimir Iljitsch Lenin … Dieser Name ist Millionen und aber Millionen Menschen unendlich teuer. Auf dem Erdball ist heute kein noch so entlegener Winkel zu finden, wo man den großen Namen – Lenin – nicht kennt. Sein Leben ist eine ununterbrochene, tagtägliche Heldentat, die einem einzigen großen Ziel dient – dem Kampf für das Glück der Werktätigen (…) Das sozialistische Gesellschaftssystem hat seine unbesiegbare Lebenskraft und seine gigantischen Vorzüge gegenüber dem kapitalistischen System bewiesen. Selbst böswillige Gegner des Kommunismus sind jetzt gezwungen, die gewaltigen Erfolge der Sowjetunion auf allen Gebieten sowie die unwiderstehlichen Einwirkungen dieser Erfolge auf Hunderte Millionen Menschen in allen Ländern der Welt anzuerkennen.‘1

Hundert Meter weiter, am Frankfurter Tor, verfällt das Parterre des ersten Hauses am Platz: Die Neonschrift über dem Eingang staubt lichtlos, einige Buchstaben hängen schief: ‚Imbiss – Das große gute Häppchen‘. Die Räumlichkeiten sind völlig inventarlos, eine der Fensterscheiben ist eingeschlagen. Bis hierher und nicht weiter sind die Renovierungsmaßnahmen vorgedrungen. Die nächsten Fassaden haben dieselbe Struktur wie der vorige Block, aber sie bröckeln, die Fensterrahmen wirken morsch, der Putz ist verdreckt und löcherig.
Auf der anderen Seite des Platzes, dem großen Häppchen genau gegenüber, ist die einzige belebte Stelle des ganzen Straßenzuges. Menschen drängen sich, draußen und drinnen, und die Neon-Beleuchtung funktioniert. Nein, ich habe es mir nicht ausgedacht, jeder kann hinfahren und es sich ansehen. Rechts der zerschlagene Ost-Imbiss. Links McDonalds.
Ich sank zurück in die Tiefe, per Rolltreppe. Den Wohlstand in Westberlin habe ich immer als etwas erkaufter, kostbarer und perverser empfunden als anderswo. Das Kalbsfilet und das Klopapier im ‚Kempinski‘ waren immer zarter als da, wo es mir selbstverständlicher erschien. Die ‚gigantischen Vorzüge‘ des Kommunismus hatten jenseits des Brandenburger Tores vor dem Gaumen und dem Arschloch der Werk- und Untätigen Halt gemacht. Wer auf Dauer über Real-Existenz und Utopie die Kaufkraft der Banknoten und die Saugfähigkeit der WC-Rollen abtut, der muss höchstes Vertrauen in die Schlagkraft seiner Armee und die Leidensfähigkeit seiner Bevölkerung haben.

Noch besser als Vertrauen ist, wie Lenin wusste, Kontrolle. So fuhr ich konsequenterweise zum nächsten Scherbenhaufen der DDR. Drei Stationen weiter, ‚Magdalenenstraße‘ heißt die Station, man denkt nichts Böses. Aber der riesige Gebäudekomplex, den man sieht, wenn man ans Licht kommt, war die Stasi-Zentrale, Eingang von der Rückseite: Normannenstraße. Es ist geradezu verwirrend, einfach durch das sperrangelweit geöffnete, unbewachte Tor zu treten, eine Ansammlung unbeschreiblich hässlicher, aber – unvoreingenommen betrachtet – unbedrohlicher Bürohäuser zu sehen und zu wissen: Hier war es! Hier wurde gesammelt, gequält und ausgeheckt.
Hart an der Mauer im Westen lag das Gestapo-Hauptquartier. Das wilhelminische Gebäude war vorher Kunstgewerbeschule gewesen: Prinz-Albrecht-Straße 8. Die gut erhaltene Ruine wurde 1949 abgerissen. ‚Weg damit!‘ war damals beliebter als Erinnerungskultur. Die Topographie des Terrors (dämlich gekünstelter Name) gibt es seit 1987 auf dem Gelände: unter der Erde.

Eine freie Fläche kann noch schaurige Mythen nähren, die Stasi-Zentrale hier ist gegenwärtig und verweigert dadurch der Fantasie die Flucht in die Dämonisierung. Am einzigen um ein wenig Bedeutung bemühten Portal verschleiert ein Hinweisschild ‚Forschungs- und Gedenkstätte‘ den Sitz Erich Mielkes. Davor ein Bus und vor dem Modell im Flur eine Gruppe Schüler mit erklärendem Lehrer. Sind noch keine Ferien? Den Schülern wird vermutlich das Gegenteil dessen erzählt, was ihnen beigebracht wurde, als sie hier niemals hergedurft hätten.

Ich zahle fünf Mark Eintritt, um Vitrinen mit unsäglichem Plunder zu bestaunen. Alles, auf dem man Hammer & Sichel und Marx-Köpfe unterbringen kann, ist vorhanden: Becher, Bücher, Holzgeschnitztes, Schmiedeeisernes. An den Wänden Knüpfteppiche und Uniformen. Ein Müllhaufen aus Corporate Identity und Merchandising, das eine ganze Geisteshaltung der Lächerlichkeit preisgibt. Beinahe noch schlimmer als die flennenden Plastik-Christusse vorm Kölner Dom. Man sieht sich um und hat das Gefühl: Hier ist ein System außer Kontrolle geraten. Ich wäre gerne höhnisch und bin beklommen.
Das nächste Stockwerk ist Mielkes Allerheiligstes. Vorzimmer, Besprechungszimmer, Arbeitszimmer, Schlafraum, Küche, Konferenzraum. Alles von aufgemotzter Schäbigkeit. Das Büro eines Schrotthändlers Mitte der Fünfzigerjahre. Also eigentlich wie erwartet. Der Reiz spielt sich wie beim Sex im Kopf ab: Dass ich hier bin, ist aufregender, als wie es hier ist. Glanzlicht: das Casino. Es darf von den Besuchern für eine Rast genutzt werden, eine junge Frau hält Erfrischungen bereit und erteilt ohne Häme, aber nicht ohne Verbitterung Auskunft: „Die Stühle sind alle einzeln nach Mielkes Anweisungen in der Sowjetunion gefertigt worden. Die Tische ebenfalls.“ Beides totaler Sperrmüll. „Damen waren nicht zugelassen, nur Führungsoffiziere, weil Mielke Frauen für nicht zuverlässig hielt. Deshalb gibt es hier auch nur einen Abort für Männer.“ Ich spielte mit dem Gedanken, meine Klopapier-Hypothese nachzuprüfen, aber ausnahmsweise verhielt sich mein Unterleib ruhig, und so unterdrückte ich das Bedürfnis. Ein zweites Mal ging ich durch die Räume. Ich war weder enttäuscht noch erschüttert. Hier war, anders als im Scheunenviertel, alles noch zu sehen, und trotzdem: Es war wieder nichts.
Als ich wieder auf dem Hof stand, hatte sich der Himmel weiter verfinstert. War der Ort nicht doch verhext, zumindest makaber? Ein Schild am Gehwegrand wies hin auf ‚Kosmetik-Studio Haus 22, Inh. Karin Treptow‘. Ich folgte dem Hinweis nicht, sondern ging in Richtung des Seitenausgangs. Dabei kam ich an einem Stand auf Rädern vorbei: ‚Pferdefleisch-Wurst‘. Darunter ein Hinweis in kleiner Schrift: ‚Auf Bestellung Rehrücken, Kilo 42,00 DM‘. Wie dicht liegen Leningrad und Sankt Petersburg beisammen! Aber wie schnell ist auch in der Geschichte aus Pumpernickel wieder Kommissbrot geworden. Mal ändern sich die Dinge, mal die Namen. Eine Rose ist mal eine Rose und mal eine Rose.

1 Dietz Verlag Berlin, 1964

Titelbild mit Material von Gryffindor/Wikimedia Commons/gemeinfrei

28 Kommentare zu “#2.35 | Hinterlassenschaften

      1. Wer gerade vom Kulturzirkel hoffiert wird, kann alles veröffentlichen. Ob’s anhält, ist so vorher sehbar wie das Wetter für den nächsten (Corona?-)Herbst.

  1. Teile der Karl-Marx-Allee wurden ja neulich sogar nochmal aufgehübscht. Sie gehört tatsächlich zu meinen liebsten Ecken in Berlin. Einfach weil sie so einzigartig ist und so aus dem Rahmen fällt.

      1. Es sieht auch immer ein bisschen so aus, als würde sie von den Berlinern nicht so richtig ins Herz geschlossen.

  2. Die meisten Probleme sind unlösbar. Wenn man damit die großen Fragen (und Probleme) der Menschheit meint, dann stimmt das bestimmt.

  3. Biografien können ja manchmal besseren Rat geben als die eigentlichen Ratgeber. Nur wird der da nicht ganz so kunden- oder leserfreundlich präsentiert.

      1. Man fragt sich nur warum z.B. Trump (schlechtes Beispiel) von manchen als gutes Beispiel gesehen wird. Was läuft da schief?

  4. Ja genau, Entmündigung kann man das nennen. In China wird ja nach wie vor weggeschnitten was nicht ins Bild passt. Dass Hollywood da mitmacht, ist mir ein Rätsel.

      1. In der Tat. Wenn man sich über die Zustände in unserer Gesellschaft beklagt, vergisst man ja gerne, dass man anderswo auch noch kein besseres System gesehen hat.

      2. Man kann aber trotzdem Grenzen setzen und Dinge verbessern. Das unterscheidet sich ja von reinem Gemecker.

      3. Der auf Absatzmärkte konzentriere Kapitalismus (vornehm: soziale Marktwirtschaft) greift jede Strömung auf, nicht nur Modetorheiten, sondern auch Umweltheilungen. Gäbe es die DDR noch, gäbe es immer noch Leuna in der bei Honecker so beliebten Dreckschleuder-Variante.

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